§. 48.


Meister Hiram

[246] zu bestellen, und obgleich dieser ehrliche Meister nichts im Zusammenhang begriff, so war er doch trunken durch den Gewinn, von dem er sich bei dieser Imaginationssache überzeugt hielt, so daß er dem Ritter hoch und theuer versicherte, alles auf ein Haar verstanden zu haben. Er zeichnete die Hauptingredienzien, wie der Meister sie nannte, in seine Schreibtafel, um aus diesen Geniestrichen zu Hause Jerusalem näher auseinander zu setzen, und wenn Gott wollte, völlig auszubauen.

Schließlich fiel es dem Schneiderssohn ein, daß bei dem ganzen so kostbaren Bau an kein Kreuz gedacht wäre; denn wenn gleich jeder Pilger sein Kreuz in natura mitbringen würde, selbst wenn er kreuzlahm seyn sollte, so ist und bleibt doch das Kreuz ganz natürlich die Hauptlosung des gelobten Landes. Man erstaunte[246] über diese Unterlassungssünde, welche Heraldicus junior aus heimlichem Muthwillen rügte. Bei dieser Gelegenheit ward, wiewohl beiläufig erzählt: nachdem das Christus- und die beiden Schächerkreuze im gelobten Lande gefunden worden, sey man äußerst verlegen gewesen, das Kreuz Christi unter diesen dreien zu finden, bis endlich entweder eine ganz todte oder todkranke Frau alle drei angerührt habe, und bei der Berührung des Kreuzes Christi sogleich entweder gesund oder lebendig geworden sey. Man ermangelte nicht, hierbei den Wunsch zu äußern, daß der Ritter durch eine dergleichen Kreuzesberührung von seinen Hauptflüssen befreit werden möchte, – wofür der Ritter den ergebensten Dank nicht schuldig blieb. Das Resultat nach so manchen Kreuzzügen war: auf dem Rosenthalschen Golgatha bloß eine einzige Kreuzstelle auszuwählen, ohne sie in Silber, wie im gelobten Lande einzufassen; hiernächst auch nur Ein Kreuz in Lebensgröße in die Kapelle zur Erbauung hinzulegen, dem frommen Schächer dagegen dieses Andenken um so mehr rund abzuschlagen, da die Illusion sonst zu sehr gestört werden würde. – Der Pfarrer machte bei dieser Gelegenheit auf Kosten des Papstes eine gallenbittere Anmerkung, wogegen er dem Patriarchen ein feines Compliment unterschob. Es ist bekannten Rechtens, da den Päpsten ein dreifaches Kreuz,


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den Patriarchen aber ein doppeltes


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bei Processionen vorgetragen wird, und so war Pastor loci des[247] wiewohl übereilten Dafürhaltens, als wäre dieses Kreuz ein Spiegel, Regel und Riegel, indem der Patriarch sich das Christus- und das Paradiesschächerkreuz, der Papst aber auch zugleich das Kreuz des verstockten Schächers vortragen lasse, als ob – Indeß ward dieser Ausfall vom Ritter so wenig gebilligt, daß man bei dieser Gelegenheit, wenn man gewollt, aufs neue den Nebenhang des Ritters zur päpstlichen Kirche hätte bemerken können. Der


Quelle:
Theodor Gottlieb von Hippel: Kreuz- und Querzüge des Ritters von A bis Z. Zwei Theile, Theil 1, Leipzig 1860, S. 246-248.
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