[Alte und neue Kirchenmusik]

[509] »Das Gebet, die Andacht, regt gewiß das Gemüt, nach seiner eigentümlich in ihm herrschenden oder auch augenblicklichen Stimmung, wie sie von physischem oder psychischem Wohlsein oder von ebensolchem Leiden erzeugt[509] wird, auf. Bald ist daher die Andacht innere Zerknirschung bis zur Selbstverachtung und Schmach, Hinsinken in den Staub vor dem vernichtenden Blitzstrahl des dem Sünder zürnenden Herrn der Welten, bald kräftige Erhebung zu dem Unendlichen, kindliches Vertrauen auf die göttliche Gnade, Vorgefühl der verheißenen Seligkeit. Die Worte des Hochamts geben in einem Zyklus nur den Anlaß, höchstens den Leitfaden der Erbauung, und in jeder Stimmung werden sie den richtigen Anklang in der Seele erwecken. Im Kyrie wird die Barmherzigkeit Gottes angerufen; das Gloria preiset seine Allmacht und Herrlichkeit, das Credo spricht den Glauben aus, auf den die fromme Seele fest bauet, und nachdem im Sanctus und Benedictus die Heiligkeit Gottes erhoben und Segen denen verheißen worden, die voll Vertraun sich ihm nahen, wird im Agnus und im Dona noch zum Mittler gefleht, daß er Beruhigung und seinen Frieden schenke der frommen glaubenden, hoffenden Seele. Schon dieser Allgemeinheit wegen, die der tieferen Beziehung, der inneren Bedeutung, welche ein jeder nach seiner individuellen Gemütsstimmung hineinlegt, nicht vorgreift, schmiegt sich der Text der mannigfaltigsten musikalischen Behandlung an, und eben deshalb gibt es so ganz in Charakter und Haltung voneinander abweichende Kyrie, Gloria u.s.w. Man vergleiche nur z.B. die beiden Kyrie in den Messen aus Cdur und Dmoll von Joseph Haydn und ebenso seine Benedictus. – Schon hieraus folgt, daß der Komponist, der, wie es stets sein sollte, von wahrer Andacht begeistert, zur Komposition eines Hochamts schreitet, die individuelle religiöse Stimmung seines Gemüts, der sich jedes Wort willig schmiegt, vorherrschen und sich durch das Miserere, Gloria, Qui tollis u.s.w. nicht zum bunten Gemisch des herzzerschneidendsten Jammers der zerknirschten Seele mit jubilierendem Geklingel verleiten lassen wird. Alle Arbeiten dieser letzten Art, wie sie in neuerer Zeit auf höchst frivole Weise gemacht wurden, sind Mißgeburten, von einem unreinen Gemüt[510] erzeugt, die ich ebenso lebhaft verwerfe als Cyprian. Aber hohe Bewundrung zolle ich den herrlichen Kirchenkompositionen Michael und Joseph Haydns, Hasses, Naumanns u.a., ohne der alten Werke der frommen italienischen Meister (Leo, Durante, Benevoli, Perti u.a.) zu vergessen, deren hohe würdige Einfachheit, deren wunderbare Kunst, ohne bunte Ausweichungen eingreifend ins Innerste zu modulieren, in neuerer und neuester Zeit ganz verloren gegangen zu sein scheint. Daß, ohne an dem ursprünglichen reinen Kirchenstil schon deshalb festhalten zu wollen, weil das Heilige den bunten Schmuck irdischer Spitzfindigkeiten verschmäht, auch schon jene einfache Musik in der Kirche musikalisch mehr wirkt, ist nicht zu bezweifeln, da die Töne, je schneller sie aufeinander folgen desto mehr im hohen Gewölbe verhallen und das Ganze undeutlich und unverständlich machen. Daher zum Teil die große Wirkung des Chorals in der Kirche. Mit dir, Cyprian, räume ich auch den erhabenen Kirchengesängen aus der älteren Zeit, schon ihres wahrhaft heiligen, immer festgehaltenen Stils halber, den Vorzug vor der neueren Kirchenmusik unbedingt ein, indessen bin ich doch der Meinung, daß man mit dem Reichtum, den die Musik, was hauptsächlich die Anwendung der Instrumente betrifft, in neuerer Zeit erworben, in der Kirche zwar nicht prunkenden Staat treiben dürfe, ihn doch aber auf edle, würdige Weise anwenden könne. Das gewagte Gleichnis, daß die ältere Kirchenmusik der Italiener sich zu der neueren deutschen verhalte wie die Peterskirche zum Straßburger Münster, möchte ziemlich treffend sein. Die grandiosen Verhältnisse jenes Baues erheben das Gemüt, indem sie kommensurabel bleiben; aber mit einer seltsamen inneren Beunruhigung staunt der Beschauer den Münster an, der sich in den kühnsten Windungen, in den sonderbarsten Verschlingungen bunter phantastischer Figuren und Zieraten hoch in die Lüfte erhebt. Allein selbst diese Unruhe regt ein das Unbekannte, das Wunderbare ahnendes[511] Gefühl auf, und der Geist überläßt sich willig dem Traume, in dem er das Überirdische, das Unendliche zu erkennen glaubt. Nun! und eben dies ist ja der Eindruck des Rein-Romantischen, wie es in Mozarts, in Haydns Kompositionen lebt und webt. – Daß es jetzt einem Komponisten nicht so leicht gelingen wird, in jenem hohen einfachen Stil der alten Italiener einen Kirchengesang zu setzen, ist leicht zu erklären. Nicht daran denken will ich, daß der wahrhafte fromme Glaube, der jenen Meistern die Kraft gab, das Heiligste in hohen würdigen Tönen zu verkünden, wohl selten in dem Gemüt des Künstlers aus der neuesten Zeit wohnen dürfte, ich will nur des Unvermögens, das der Mangel des wahren Genies herbeiführt, und dann ebenso des Mangels an Selbstverleugnung erwähnen. Regt nicht in der höchsten Einfachheit der tiefe Genius seine kräftigsten Schwingen? Wer aber läßt auch nicht gern den Reichtum, der ihm zu Gebote steht, vor aller Augen glänzen und ist zufrieden mit dem Beifall des einzelnen Kenners, dem auch ohne Prunk das Gediegene das Liebste oder vielmehr das einzig Liebe ist? Dadurch daß man anfing, sich überall derselben Mittel des Ausdrucks zu bedienen, ist es nun beinahe dahin gekommen, daß es gar keinen Stil mehr gibt. In der komischen Oper hört man oft feierliche, gravitätisch daherschreitende Sätze, in der ernsten Oper tändelnde Liedchen und in der Kirche Oratorien und Ämter nach Opernzuschnitt. Aber es gehört auch eine seltene Tiefe des Geistes, ein hoher Genius dazu, selbst bei der Anwendung des figuriertesten Gesanges, des ganzen Reichtums der Instrumente ernst und würdevoll, kurz, kirchenmäßig zu bleiben. Mozart, so galant er in seinen beiden bekannteren Messen aus Cdur ist, hat im ›Requiem‹ jene Aufgabe herrlich gelöst: es ist dies in Wahrheit eine romantisch heilige Musik, aus dem Innersten des Meisters hervorgegangen. Wie vortrefflich auch Haydn in manchem seiner Ämter von dem Heiligsten und Erhabensten in herrlichen Tönen redet, darf ich[512] wohl nicht erst sagen, obgleich man ihm mit Recht hier und da manche Spielerei vorwerfen mag. – Sowie ich nur vernahm, Beethoven habe ein Amt gesetzt, ehe ich eine Note davon gehört oder gelesen hatte, vermutete ich gleich, daß, was Stil und Haltung betrifft, der Meister sich den alten Joseph zum Vorbilde nehmen würde. Und doch fand ich mich getäuscht in Ansehung dessen, wie Beethoven die Worte des Hochamts aufgefaßt hat. Beethovens Genius bewegt sonst gern die Hebel des Schauers, des Entsetzens. So, dachte ich, würde auch die Anschauung des Überirdischen sein Gemüt mit innerem Schauer erfüllen und er dies Gefühl in Tönen aussprechen. Im Gegenteil hat aber das ganze Amt den Ausdruck eines kindlich heitern Gemüts, das, auf seine Reinheit bauend, gläubig der Gnade Gottes vertraut und zu ihm fleht wie zu dem Vater, der das Beste seiner Kinder will und ihre Bitten erhört. Nächst diesem allgemeinen Charakter der Komposition ist die innere Struktur sowie die verständige Instrumentierung, wenn man nur einmal von der Tendenz, wie ich sie erst hinsichts des in der Kirche anzuwendenden musikalischen Reichtums aufstellte, ausgeht, ganz des genialen Meisters würdig.«

»Aber eben diese Tendenz«, nahm Cyprian das Wort, »ist nach meiner Überzeugung ganz verkehrt und kann zur ruchlosen Entheiligung des Höchsten führen. – Laß mich es sagen, wie ich über Kirchenmusik denke, und du wirst finden, daß ich wenigstens mit mir selbst darüber ganz im reinen bin. – Keine Kunst, glaube ich, geht so ganz und gar aus der inneren Vergeistigung des Menschen hervor, keine Kunst bedarf nur einzig rein geistiger ätherischer Mittel, als die Musik. Die Ahnung des Höchsten und Heiligsten, der geistigen Macht, die den Lebensfunken in der ganzen Natur entzündet, spricht sich hörbar aus im Ton, und so wird Musik, Gesang, der Ausdruck der höchsten Fülle des Daseins – Schöpferlob! – Ihrem innern eigentümlichen Wesen nach ist daher die Musik[513] religiöser Kultus und ihr Ursprung einzig und allein in der Religion, in der Kirche zu suchen und zu finden. Immer reicher und mächtiger ins Leben tretend, schüttete sie ihre unerschöpflichen Schätze aus über den Menschen, und auch das Profane durfte sich dann, wie mit kindischer Lust, in dem Glanz putzen, mit dem sie nun das Leben selbst in all seinen kleinen und kleinlichen irdischen Beziehungen durchstrahlte. Aber selbst das Profane erschien in diesem Schmuck, wie sich sehnend nach dem göttlichen höheren Reich und strebend, einzutreten in seine Erscheinungen. – Eben dieses ihres eigentümlichen Wesens halber konnte die Musik nicht das Eigentum der antiken Welt sein, wo alles auf sinnliche Verleiblichung ausging, sondern mußte dem modernen Zeitalter angehören. Die beiden einander entgegengesetzten Pole des Heidentums und des Christentums sind in der Kunst die Plastik und die Musik. Das Christentum vernichtete jene und schuf diese sowie die ihr zunächst stehende Malerei. In der Malerei kannten die Alten weder Perspektive noch Kolorit, in der Musik weder Melodie noch Harmonie. Melodie nehme ich im höhern Sinn als Ausdruck des inneren Affekts, ohne Rücksicht auf Worte und ihren rhythmischen Verhalt. Aber es ist nicht diese Mangelhaftigkeit, die etwa nur die geringere Stufe, auf der damals Musik und Malerei standen, bezeichnet, sondern, wie in unfruchtbarem Boden ruhend, nicht entfalten konnte sich der Keim dieser Künste, der im Christentum herrlich auf ging und Blüten und Früchte trug in üppiger Fülle. Beide Künste, Musik und Malerei, behaupteten in der antiken Welt nur scheinbar ihren Platz: sie wurden von der Gewalt der Plastik erdrückt, oder vielmehr in den gewaltigen Massen der Plastik konnten sie keine Gestalt gewinnen; beide Künste waren nicht im mindesten das, was wir jetzt Malerei und Musik nennen, sowie die Plastik durch die jeder Verleiblichung entgegenstrebende Tendenz der christlichen Welt, gleichsam zum Geistigen verflüchtigt, aus dem körperlichen[514] Leben entwich. Aber selbst der erste Keim der heutigen Musik, in dem das heilige, nur der christlichen Welt auflösbare Geheimnis verschlossen, konnte schon der antiken Welt nur nach seiner eigentümlichsten Bestimmung, d.h. zum religiösen Kultus dienen. Denn nichts anders als dieser waren ja selbst in der frühsten Zeit ihre Dramen, welche Festdarstellungen der Leiden und Freuden eines Gottes enthielten. Die Deklamation wurde von Instrumentisten unterstützt, und schon dieses beweiset, daß die Musik der Alten rein rhythmisch war, wenn sich nicht auch anderweitig dartun ließe, daß, wie ich schon vorhin sagte, Melodie und Harmonie, die beiden Angeln, in denen sich unsere Musik bewegt, der antiken Welt unbekannt blieben. Mag es daher sein, daß Ambrosius und später Gregor um das Jahr fünfhundertundeinundneunzig antike Hymnen den christlichen Hymnen zum Grunde legten und daß wir die Spuren jenes bloß rhythmischen Gesanges noch in dem sogenannten Canto Fermo, in den Antiphonien antreffen, so heißt das doch nichts anders, als daß sie den Keim, der ihnen überkommen, benutzten, und es bleibt gewiß, daß das tiefere Beachten jener antiken Musik nur für den forschenden Antiquar Interesse haben kann, dem ausübenden praktischen Komponisten ging aber die heiligste Tiefe seiner herrlichen, echt christlichen Kunst erst da auf, als in Italien das Christentum in seiner höchsten Glorie strahlte und die hohen Meister in der Weihe göttlicher Begeisterung das heiligste Geheimnis der Religion in herrlichen, nie gehörten Tönen verkündeten. – Merkwürdig ist es, daß bald nachher, als Guido von Arezzo tiefer in die Geheimnisse der Tonkunst eingedrungen, diese den Unverständigen ein Gegenstand mathematischer Spekulationen und so ihr eigentümliches inneres Wesen, als es kaum begonnen, sich zu entfalten, verkannt wurde. Die wunderbaren Laute der Geistersprache waren erwacht und hallten hin über die Erde; schon war es gelungen, sie festzubannen, die Hieroglyphe des Tons in seiner melodischen[515] und harmonischen Verkettung war gefunden. Ich meine die Musikschrift der Noten. Aber nun galt die Bezeichnung für das Bezeichnete selbst; die Meister vertieften sich in harmonische Künsteleien, und auf diese Weise hätte die Musik, zur spekulativen Wissenschaft entstellt, aufhören müssen Musik zu sein. Der Kultus wurde, als endlich jene Künsteleien aufs höchste gestiegen waren, durch das, was sie ihm als Musik aufdrang, entweiht, und doch war dem von der heiligen Kunst durchdrungenen Gemüt nur die Musik wahrer Kultus. So konnte es also nur ein kurzer Kampf sein, der mit dem glorreichen Siege der ewigen Wahrheit über das Unwahre endete. Ausgesöhnt mit der Kunst wurde der Papst Marcellus der Zweite, der im Begriff stand, alle Musik aus den Kirchen zu verbannen, so aber dem Kultus den herrlichsten Glanz zu rauben, als der hohe Meister Palestrina ihm die heiligen Wunder der Tonkunst in ihrem eigentümlichsten Wesen erschloß. Auf immer wurde nun die Musik der eigentlichste Kultus der katholischen Kirche, und so war damals die tiefste Erkenntnis jenes innern Wesens der Tonkunst in dem frommen Gemüt der Meister aufgegangen, und in wahrhaftiger heiliger Begeisterung strömten aus ihrem Innern ihre unsterblichen unnachahmlichen Gesänge. Du weißt, Theodor, daß die sechsstimmige Messe, die Palestrina damals (es war ja wohl im Jahr 1555?) komponierte, um dem erzürnten Papst wahre Musik hören zu lassen, unter dem Namen ›Missa Papae Marcelli‹ sehr bekannt geworden ist. Mit Palestrina hob unstreitig die herrlichste Periode der Kirchenmusik, mithin der Musik überhaupt, an, die sich beinahe zweihundert Jahre bei immer zunehmendem Reichtum in ihrer frommen Würde und Kraft erhielt, wiewohl nicht zu leugnen ist, daß schon in dem ersten Jahrhundert nach Palestrina jene hohe unnachahmliche Einfachheit und Würde sich in eine gewisse Eleganz verlor, um die sich die Komponisten bemühten. Welch ein Meister ist Palestrina! – Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung[516] folgen in seinen Werken meistens vollkommen konsonierende Akkorde aufeinander, von deren Stärke und Kühnheit das Gemüt mit unnennbarer Gewalt ergriffen und zum Höchsten erhoben wird. – Die Liebe, der Einklang alles Geistigen in der Natur, wie er dem Christen verheißen, spricht sich aus im Akkord, der daher auch erst im Christentum zum Leben erwachte, und so wird der Akkord, die Harmonie, Bild und Ausdruck der Geistergemeinschaft, der Vereinigung mit dem Ewigen, dem Idealen, das über uns thront und doch uns einschließt. Am reinsten, heiligsten, kirchlichsten muß daher die Musik sein, welche nur als Ausdruck jener Liebe aus dem Innern aufgeht, alles Weltliche nicht beachtend und verschmähend. So sind aber Palestrinas einfache, würdevolle Werke, die, in der höchsten Kraft der Frömmigkeit und Liebe empfangen, das Göttliche verkünden mit Macht und Herrlichkeit. Auf seine Musik paßt eigentlich das, womit die Italiener das Werk manches, gegen ihn seichten, ärmlichen Komponisten bezeichneten; es ist wahrhafte Musik aus der andern Welt – Musica del' altro mondo.

Die Folge konsonierender, vollkommener Dreiklänge ist uns jetzt in unserer Verweichlichung so fremd geworden, daß mancher, dessen Gemüt dem Heiligen ganz verschlossen, darin nur die Unbehilflichkeit der technischen Struktur erblickt. Indessen auch selbst von jeder höheren Ansicht abgesehen, nur das beachtend, was man im Kreise des Gemeinen Wirkung zu nennen pflegt, liegt es am Tage, daß, wie du schon erst bemerktest, Theodor, in der Kirche, in dem großen weithallenden Gebäude, gerade alles Verschmelzen durch Übergänge, durch kleine Zwischennoten die Kraft des Gesanges bricht. In Palestrinas Musik trifft jeder Akkord den Zuhörer mit der ganzen Gewalt, und die künstlichsten Modulationen werden nie so, wie eben jene kühnen, gewaltigen, wie blendende Strahlen hereinbrechenden Akkorde, auf das Gemüt zu wirken vermögen. Palestrina ist einfach, wahrhaft, kindlich fromm, stark und[517] mächtig, echt christlich in seinen Werken wie in der Malerei Pietro von Cortona und unser Albrecht Dürer. Sein Komponieren war Religionsübung. Doch will ich auch nicht der hohen Meister, Caldara, Bernabei, Scarlatti, Marcello, Lotti, Porpora, Bernardo, Leo, Valotti u.a. vergessen, die alle sich einfach würdig und kräftig erhielten. – Lebhaft geht in diesem Augenblick die Erinnerung an die siebenstimmige alla Capella gesetzte Messe des Alessandro Scarlatti in mir auf, die du einmal, Theodor, unter deiner Leitung von deinen guten Schülern und Schülerinnen singen ließest. Dies Hochamt ist ein Muster des wahren mächtigen Kirchenstils, unerachtet es schon den melodischen Schwung, den die Musik zu der Zeit (1705) gewonnen, in sich hat.«

»Und«, sprach Theodor, »des mächtigen Händel, des unnachahmlichen Hasse, des tiefsinnigen Sebastian Bach gedenkst du gar nicht?«

»Ei«, erwiderte Cyprian, »diese rechne ich eben noch ganz zu der heiligen Schar, deren Inneres die Kraft des Glaubens stärkte und der Liebe. Eben diese Kraft schuf die Begeisterung, in der sie in Gemeinschaft traten mit dem Höheren und entflammt wurden zu den Werken, die nicht weltlicher Absicht dienen, sondern nur Lob und Preis der Religion, des höchsten Wesens sein sollten. Daher tragen jene Werke das Gepräge der Wahrhaftigkeit, und kein ängstliches Streben nach sogenannter Wirkung, keine gesuchte Spielerei und Nachäffung entweiht das rein vom Himmel Empfangene, daher kommt nichts vor von den sogenannten frappierenden Modulationen, von den bunten Figuren, von den weichlichen Melodien, von dem kraftlosen verwirrenden Geräusch der Instrumente, das den Zuhörer betäuben soll, damit er die innere Leere nicht bemerke, und daher wird nur von den Werken dieser Meister und der wenigen, die noch in neuerer Zeit treue Diener der von der Erde verschwundenen Kirche blieben, das fromme Gemüt wahrhaft erhoben und erbaut.[518]

Ich will auch hier des herrlichen Meisters Fasch gedenken, der der alten frommen Zeit angehört und dessen tiefsinnige Werke nach seinem Tode von der leichtsinnigen Menge so wenig beachtet wurden, daß die Herausgabe seiner sechzehnstimmigen Messe aus Mangel an Unterstützung nicht einmal zustande kam. –

Sehr unrecht tust du mir, Theodor, wenn du glaubst, daß mein Sinn verschlossen ist für die neuere Musik. Haydn, Mozart, Beethoven entfalteten in der Tat eine neue Kunst, deren Keim sich wohl eben erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zeigte. Daß der Leichtsinn, der Unverstand mit dem erworbenen Reichtum übel haushaltete, daß endlich Falschmünzer ihrem Rauschgolde das Ansehen der Gediegenheit geben wollten, war nicht die Schuld jener Meister, in denen sich der Geist herrlich offenbarte. Wahr ist es, daß beinahe in eben dem Grade, als die Instrumentalmusik stieg, der Gesang vernachlässigt wurde und daß mit dieser Vernachlässigung jenes völlige Ausgehn der guten Chöre, das von mancher kirchlichen Einrichtung (Aufhebung der Klöster u.s.w.) herrührte, gleichen Schritt hielt; daß es unmöglich ist, jetzt zu Palestrinas Einfachheit und Größe zurückzukehren, bleibt ausgemacht, inwiefern aber der neu erworbene Reichtum ohne Ostentation in die Kirche getragen werden darf, das fragt sich noch. – Nun! – immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens bewegten, wieder; aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge, nur nicht vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausgelassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben in[519] Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre Seraphsschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die unruhvolle Brust des Menschen hinabstrahlt!« –

Cyprian sprach die letzten Worte mit einer Salbung, die deutlich erkennen ließ, daß alles wahrhaft aus seinem Innern strömte. Von seiner Rede tief ergriffen, schwiegen die Freunde einige Augenblicke, dann begann Sylvester: »In der Tat, ohne Musiker zu sein wie ihr, Theodor und Cyprian, es seid, habe ich doch alles, was ihr über Beethovens Messe und über Kirchenmusik überhaupt gesagt, sehr gut verstanden. So wie du, Cyprian, aber klagst, daß es beinahe gar keinen eigentlichen Kirchenkomponisten mehr gibt, so möcht' ich behaupten, daß jetzt schwer ein Dichter zu finden sein möchte, der einen würdigen Kirchentext schreibt.«

»Sehr wahr,« nahm Theodor das Wort, »und eben der deutsche Text, den man der Beethovenschen Messe untergelegt hat, beweiset dieses nur zu sehr. Die drei Hauptteile des Hochamts sind bekanntlich das Kyrie, das Credo und das Sanctus. Zwischen dem ersten und zweiten tritt das Graduale (meistens eine Kirchensymphonie), zwischen dem zweiten und dritten das Offertorium (gewöhnlich als Kirchenarie behandelt) ein.

So ist, wahrscheinlich, um der herrlichen Musik auch in protestantischen Kirchen, ja wohl sogar in Konzertsälen Eingang zu verschaffen, auch in der deutschen Bearbeitung das Ganze in drei Hymnen geteilt. Was aber die Worte betrifft, so mußten sie, um den Sinn, die Bedeutung des Ganzen nicht zu verletzen, so einfach als möglich und zwar am besten und kräftigsten rein biblisch sein. Händel ließ bekanntlich dem Bischof, der sich erbot ihm den Text zum ›Messias‹ zu dichten, sagen, ob die Eminenz denn sich getraue, bessere Worte zu ersinnen als er, Händel, sie in der Bibel finde. Richtiger wurde nie die[520] wahre Tendenz der Kirchentexte ausgesprochen. Was ist in der Beethovenschen Messe aus dem einfachen Kyrie eleison, Christe eleison geworden? – da heißt es:


›Tief im Staub anbeten wir

Dich, den ew'gen Weltenherrscher,

Dich den Allgewaltigen.

Wer kann dich nennen, wer dich fassen?

Unendlicher! – Ach, unermessen,

Unnennbar ist deine Macht!

Wir stammeln nur mit Kindeslallen

Den Namen Gott! – ‹«


»Das ist«, rief Sylvester, »modern, gesucht preziös und weitschweifig zu gleicher Zeit. Überhaupt muß ich bekennen, daß mir das innere Wesen der alten lateinischen Hymnen ganz unerreichbar scheint und daß mir selbst die Übersetzungen, die vortreffliche Dichter versucht haben, keinesweges gnügen. Die treuste Übersetzung klingt oft wenigstens wunderlich, wie z.B. Ave, maris stella: Meerstern, ich dich grüße!« –

»Ebendaher«, sprach Theodor, »würd' ich mich nie entschließen können, hab' ich es im Sinn, Kirchenmusik zu setzen, von jenen alten Hymnen abzulassen.«

»Aber nun,« rief Vinzenz, indem er vom Stuhle aufsprang, »nun verbanne ich, ein zweiter ergrimmter Papst Marcellus, alles fernere Gespräch über Musik aus der Kapelle des heiligen Serapion! – Ihr habt beide sehr schön gesprochen, du sowohl, Theodor, als du, Cyprian; aber dabei laßt es bewenden; kehren wir zur alten Ordnung zurück, auf die eben ich als Neuling ganz erstaunlich halte!« –

»Vinzenz«, nahm Lothar das Wort, »hat recht. Für musikalische Laien waren eure Abhandlungen eben nicht ganz genießbar, und daher ist es gut, daß wir sie abbrechen. Sylvester soll uns nun die Erzählung vorlesen, die er uns mitgebracht hat.«[521]

Die Freunde stimmten ein in Lothars Begehren, und Sylvester begann ohne weiteres in folgender Art:

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 3, Berlin 1963, S. 509-522.
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