Drittes Kapitel
Stilles Familienleben. Der Ausflug in die Welt. Der Spanier Fermino Valies. Warnungen eines verständigen Freundes.

[575] Auf den Glockenschlag fünf Uhr, wenn der letzte schöne Morgentraum von dem wohlerhaltenen Exemplar irgendeiner seltnen Pflanze entflohen, verließ Eugenius sein Lager, fuhr in den botanischen Schlafrock des Professors und studierte, bis ein feines Glöcklein ertönte. Dies geschah Punkt sieben Uhr und war ein Zeichen, daß die Professorin aufgestanden, sich angekleidet, und daß[575] der Kaffee in ihrem Zimmer bereit stand. In dies Zimmer begab sich Eugenius und ergriff, nachdem er zum Guten Morgen der Professorin die Hand geküßt, ganz nach der Art, wie wohl ein frommes Kind die Mutter begrüßt, die Pfeife, die schon gestopft auf dem Tische lag, und die er an dem Fidibus anzündete, den ihm Gretchen hinhielt. Unter freundlichem Gespräch wurd' es acht Uhr, dann stieg Eugenius hinab in den Garten oder in das Treibhaus, wie es nun eben Witterung und Jahreszeit gestattete, wo er sich mit botanischer Arbeit beschäftigte bis eilf Uhr. Dann kleidete er sich an und stand Punkt zwölf Uhr an dem gedeckten Tisch, auf dem die Suppe dampfte. Die Professorin war dann gar höchlich erfreut, wenn Eugenius bemerkte, daß der Fisch die gehörige Würze, daß der Braten Saft und Kraft habe etc. »Ganz,« rief die Professorin, »ganz wie mein Helms, der meine Küche zu loben pflegte, wie selten ein Ehemann, dem es manchmal überall schmeckt, nur nicht im Hause! – Ja, lieber Eugenius, Sie haben ganz und gar das heitre gute Gemüt meines Seligen!« – Nun folgte ein Zug nach dem andern aus dem stillen einfachen Leben des Verstorbenen, den die Professorin beinahe geschwätzig erzählte, und der den Eugenius, war ihm auch alles längst bekannt, doch wieder aufs neue rührte, und oft schloß sich das einfache Mahl der kleinen Familie damit, daß die letzten Tropfen Weins auf das Andenken des Professors geleert wurden. Der Nachmittag glich dem Vormittage. Eugenius brachte ihn hin mit seinen Studien, bis um sechs Uhr abends die Familie sich wieder versammelte. Eugenius erteilte dann ein paar Stunden hindurch, in Gegenwart der Professorin, dem Gretchen Unterricht in dieser, jener Wissenschaft, dieser, jener Sprache. Um acht Uhr wurde gegessen, um zehn Uhr begab man sich zur Ruhe. So war ein Tag dem andern völlig gleich, und nur der Sonntag machte eine Ausnahme. Eugenius ging dann vormittags, stattlich gekleidet in diesen, jenen Sonntagsrock des Professors von[576] zuweilen etwas seltsamer Farbe und noch seltsamerem Schnitt, mit der Professorin und Gretchen nach der Kirche, und nachmittags wurde, erlaubt' es die Witterung, eine Spazierfahrt nach einem nicht fern von der Stadt gelegenen Dörfchen gemacht.

So dauerte das klösterliche einfache Leben fort, aus dem sich Eugenius nicht hinaussehnte, in dem ihm sein ganzes Wirken und Sein eingeschlossen schien. Wohl mag aber zehrender Krankheitsstoff sich im Innern gebären, wenn der Geist, seinen eignen Organismus verkennend, im unseligen Mißverständnis den Bedingungen des Lebens widerstrebt. Krankheit zu nennen war nämlich die hypochondrische Selbstgenügsamkeit, zu der Eugens ganzes Treiben erstarrte, und die, immer mehr ihm seine unbefangene Heiterkeit raubend, ihn für alles, was außer seinem engen Kreise lag, kalt, schroff, scheu erscheinen ließ. Da er niemals, außer an den Sonntagen, in Gesellschaft seiner Gattin-Mutter, das Haus verließ, so kam er aus aller Berührung mit seinen Freunden; Besuche vermied er auf das sorglichste, und selbst Severs, seines alten treuen Freundes, Gegenwart beängstete ihn so sichtlich, daß dieser auch wegblieb.

»Es ist nun einmal so mit dir gekommen, du bist und mußt nun tot sein für uns. – Ein Erwachen würde dich erst recht töten!« –

So sprach Sever, als er das letztemal den verlornen Freund verließ, dem es gar nicht einmal einfiel, darüber nachzudenken, was Sever mit jenen Worten wohl habe sagen wollen.

Die Spuren des geistigen Verkränkelns zeigten sich auch bald auf Eugens todbleichem Antlitz. Alles Jugendfeuer in den Augen war erloschen, er sprach die matte Sprache des Engbrüstigen, und sah man ihn in dem Ehrenkleide des verstorbenen Professors, so mußte man glauben, der Alte wolle den Jüngling hinaustreiben aus seinem Rock und selbst wieder hineinwachsen. Vergebens forschte[577] die Professorin, ob der Jüngling, um den ihr bangte, sich körperlich krank fühle und des Arztes bedürfe; er versicherte indessen, daß er sich niemals wohler gefühlt. –

Eugenius saß eines Tages in der Gartenlaube, als die Professorin hineintrat, sich ihm gegenübersetzte und ihn stillschweigend betrachtete. Eugenius schien, in ein Buch vertieft, sie kaum zu bemerken.

»Das,« begann endlich die Professorin, »das habe ich nicht gewollt, nicht gedacht, nicht geahnt!«

Eugenius fuhr, beinahe erschreckt durch den fremdartigen scharfen Ton, in dem die Professorin jene Worte sprach, von seinem Sitze auf.

»Eugenius,« fuhr die Professorin sanfter und milder fort, »Eugenius, Sie entziehen sich der Welt ganz und gar, es ist Ihre Lebensweise, die Ihre Jugend verstört! Ich, meinen Sie, sollte nicht tadeln, daß Sie in klösterlicher Einsamkeit sich einschließen in das Haus, daß Sie ganz mir und der Wissenschaft leben, aber es ist dem nicht so. Fern sei von mir der Gedanke, daß Sie Ihre schönsten Jahre einem Verhältnis opfern sollten, das Sie mißverstehen, indem Sie dies Opfer bringen. Nein, Eugenius, hinaus sollen Sie in das Leben treten, das Ihrem frommen Sinn nie gefährlich werden kann.«

Eugenius versicherte, daß er gegen alles, was außer dem kleinen Kreise, der seine einzige Heimat sei, liege, einen innern Abscheu hege, daß er sich wenigstens unter den Menschen beängstet, unbehaglich fühlen werde, und daß er auch am Ende gar nicht wisse, wie er es anfangen solle, hinauszutreten aus seiner Einsamkeit.

Die Professorin, ihre gewohnte Freundlichkeit wiedergewinnend, sagte ihm nun, daß der Professor Helms ebenso wie er das einsame, ganz den Studien gewidmete Leben geliebt, daß er aber demunerachtet sehr oft und in seinen jüngeren Jahren beinahe täglich ein gewisses Kaffeehaus besucht, in dem sich meistens Gelehrte, Schriftsteller, vorzüglich aber Fremde einzufinden pflegten. So sei er[578] stets mit der Welt, mit dem Leben in Berührung geblieben, und oft habe er dort durch mancherlei Mitteilungen reichlich geerntet für seine Wissenschaft. Ein gleiches solle Eugenius tun.

Hätte die Professorin nicht darauf bestanden, schwerlich wäre Eugenius dazu gekommen, sich wirklich hinauszuwagen aus seiner Klause.

Das Kaffeehaus, dessen die Professorin gedachte, war in der Tat der Sammelplatz der schriftstellerischen Welt und nebenher der Ort, den Fremde zu besuchen pflegten, so daß in den Abendstunden ein buntes Gewühl in den Sälen auf- und abwogte.

Man kann denken, wie seltsam dem Klausner Eugenius zumute war, als er zum erstenmal sich in diesem Gewühle befand. Doch fühlte er seine Beklommenheit weichen, als er gewahrte, daß niemand sich um ihn kümmerte. Immer unbefangener geworden, trieb er es bis zu der Keckheit, irgendeine Erfrischung bei einem müßig dastehenden Kellner zu bestellen, bis ins Tabakzimmer zu dringen, Platz zu nehmen in einer Ecke und, den mannigfachen Gesprächen zuhorchend, wirklich selbst seiner Lieblingsneigung gemäß eine Pfeife zu rauchen. Nun erst gewann er eine gewisse Haltung, und von dem lustigen lauten Treiben um ihn her auf ihm fremde Weise erregt, blies er, ganz fröhlich und guter Dinge, die blauen Wolken vor sich her.

Dicht neben ihm nahm ein Mann Platz, dessen Bildung und Anstand den Fremden verriet. Er stand in der Blüte des männlichen Alters, mehr klein als groß, war er sehr wohlgestaltet, jede seiner Bewegungen rasch und geschmeidig, sein Antlitz voll eigentümlichen Ausdrucks. – Es war ihm unmöglich, sich mit dem herbeigerufenen Kellner zu verständigen, je mehr er sich deshalb mühte, je mehr er in Hitze geriet und Zorn, desto wunderlicher wurde das Deutsch, das er herausstotterte. Endlich rief er auf Spanisch: »Der Mensch tötet mich mit seiner[579] Dummheit.« Eugenius verstand das Spanische sehr gut und sprach es so ziemlich. Aller Blödigkeit entsagend, nahte er sich dem Fremden und erbot sich, den Dolmetscher zu machen. Der Fremde schaute ihn an mit durchbohrendem Blick. Dann versicherte er aber, indem eine anmutige Freundlichkeit in seinem Gesichte aufglänzte, daß er es für ein besonderes Glück halte, auf jemanden zu treffen, der seine Muttersprache rede, die so selten gesprochen werde, unerachtet sie wohl die herrlichste sei, die es gäbe. Er rühmte Eugens Aussprache und schloß damit, daß die Bekanntschaft, die er der Gunst des Zufalls verdanke, fester geknüpft werden müsse, welches nicht besser geschehen könne, als bei einem Glase des geistigen feurigen Weins, der auf dem vaterländischen Boden wachse.

Eugenius errötete über und über wie ein verschämtes Kind; als er indessen ein paar Gläser von dem Xeres getrunken, den der Fremde hatte bringen lassen, fühlte er mit der behaglichen Wärme, die sein Innres durchströmte, eine ganz besondere Lust an des Fremden lebensheiterm Gespräch.

Er möge, begann endlich der Fremde, nachdem er den Eugenius einen Augenblick stillschweigend betrachtet, er möge es ihm nicht übel deuten, wenn er nun gestehe, daß bei dem ersten Blick er sich über sein Äußeres gar verwundert. Sein jugendliches Gesicht, seine ganze Bildung stehe nämlich mit seiner bis zum Bizarren altfränkischen Kleidung in solch wunderlichem Widerspruch, daß er ganz besondere Beweggründe vermuten müsse, die ihn nötigten, sich auf diese Weise zu verunstalten.

Eugenius errötete aufs neue, denn einen flüchtigen Blick auf seinen zimtfarbnen Ärmel mit den goldbesponnenen Knöpfen auf dem Aufschlag werfend, fühlte er selbst lebhaft, wie seltsam er abstechen müsse gegen alle, die im Saal befindlich, vorzüglich aber gegen den Fremden, der, nach der letzten Mode schwarz gekleidet, mit der feinsten,[580] blendend weißen Wäsche, mit dem Brustnadelbrillant die Eleganz selbst schien.

Ohne Eugens Antwort abzuwarten, fuhr der Fremde fort, daß es durchaus außer seinem Charakter läge, jemanden seine Lebensverhältnisse abzufragen, indessen flöße ihm Eugenius ein solches hohes Interesse ein, daß er nicht umhinkönne, ihm zu gestehen, wie er ihn für einen jungen, vom Unglück, von drückender Sorge verfolgten Gelehrten halte. Sein blasses abgehärmtes Gesicht spräche dafür, und das altfränkische Kleid sei gewiß das Geschenk irgendeines alten Mäcens, das er in Ermanglung eines andern zu tragen gezwungen. Er könne und wolle helfen, er sähe ihn für seinen Landsmann an, und nur darum bitte er, alle engherzige Rücksichten beiseite zu setzen und so offen zu sein, als er es gegen den innigsten, bewährtesten Freund sein würde.

Eugenius errötete zum drittenmal, nun aber in dem bittern Gefühl, ja beinahe im Zorn über das Mißverständnis, das der unglückselige Rock des alten Helms vielleicht nicht bei dem Fremden allein, sondern bei allen Anwesenden veranlaßt. Eben dieser Zorn löste ihm aber Herz und Zunge. Er eröffnete dem Fremden sein ganzes Verhältnis, er sprach von der Professorin mit dem Enthusiasmus, den ihm die wahre kindliche Liebe zu der alten Frau einflößte, er versicherte, daß er der glücklichste Mensch sei auf Erden, daß er wünsche, seine jetzige Lage möge fortdauern, solange er lebe.

Der Fremde hatte sehr aufmerksam alles angehört; dann sprach er mit bedeutendem scharfen Ton: »Ich lebte auch einmal einsam, viel einsamer als Sie, und glaubte in dieser Einsamkeit, die andere trostlos genannt hätten, daß das Schicksal keinen Anspruch mehr an mich habe. Da rauschten die Wogen des Lebens hoch auf, und mich ergriff ihr Strudel, der mich hinabzureißen drohte in den Abgrund. Doch bald hob ich, ein kühner Schwimmer, mich hoch empor und segle nun fröhlich und freudig daher[581] auf silberheller Flut und fürchte nicht mehr die hoffnungslose Tiefe, die das Spiel der Wellen verbirgt. Nur auf der Höhe versteht man das Leben, dessen erster Anspruch ist, daß man seine Lust genieße. Und auf den heitern hellen Lebensgenuß wollen wir die Gläser leeren!«

Eugenius stieß an, ohne daß er den Fremden ganz verstanden. Seine Worte, in dem sonoren Spanisch gesprochen, klangen ihm wie fremde, aber recht ins Innere hineintönende Musik. Er fühlte sich zu dem Fremden hingezogen auf besondere Weise, selbst wußte er nicht warum.

Arm in Arm verließen die neuen Freunde das Kaffeehaus. In dem Augenblick, als sie auf der Straße sich trennten, kam Sever, der, als er Eugenius erblickte, voll Erstaunen stehenblieb.

»Sage,« sprach Sever, »sage mir um des Himmels willen, was hat das zu bedeuten? Du auf dem Kaffeehause? Du vertraulich mit einem Fremden? – Und noch dazu siehst du ganz erregt, erhitzt aus, als hättest du ein Glas Wein zuviel getrunken!«

Eugenius erzählte, wie alles gekommen, wie die Professorin darauf bestanden, daß er das Kaffeehaus besuchen solle, wie er dann die Bekanntschaft des Fremden gemacht.

»Was doch,« rief Sever, »was doch die alte Professorin für einen Scharfsinn hat fürs Leben! In der Tat, sie sieht ein, daß der Vogel flügge geworden, und läßt ihn sich versuchen im Fliegen! – O der klugen, weisen Frau!«

»Ich bitte dich,« erwiderte Eugenius, »schweige von meiner Mutter, die nichts will als mein Glück, meine Zufriedenheit, und deren Güte ich eben die Bekanntschaft des herrlichen Mannes verdanke, der mich soeben verließ.«

»Des herrlichen Mannes?« unterbrach Sever den Freund. »Nun, was mich betrifft, ich traue dem Kerl nicht über den Weg. Er ist übrigens ein Spanier und Sekretär des spanischen Grafen Angelo Mora, der seit kurzem angekommen[582] und das schöne Landhaus vor der Stadt bezogen hat, das sonst, wie du weißt, dem bankerott gewordenen Bankier Overdeen gehörte. – Doch das wirst du schon alles wissen von ihm selbst.«

»Mitnichten,« erwiderte Eugen, »mir fiel es nicht ein, ihn nach Stand und Namen zu fragen.«

»Das ist,« sprach Sever lachend weiter, »das ist der wahre Weltbürgersinn, wackrer Eugen! – Der Kerl heißt Fermino Valies und ist ganz gewiß ein Spitzbube, denn sooft ich ihn sah, fiel mir an ihm ein gewisses heimtückisches Wesen auf, und dann traf ich ihn schon auf ganz besonderen Wegen. – Hüte dich – nimm dich in acht, o mein frommer Professorssohn!«

»Nun merk' ich wohl,« sprach Eugen voller Unmut, »daß du es darauf abgesehen hast, mich durch deine lieblosen Urteile zu kränken, zu ärgern, aber du sollst mich nicht irremachen; die Stimme, die in meinem Innern spricht, die ist es, der ich allein traue, der ich allein folge.«

»Füge es,« erwiderte Sever, »füge es der Himmel, daß deine innere Stimme kein falsches Orakel sein mag!« –

Eugenius vermochte erst selbst nicht zu begreifen, wie es geschehen können, daß er dem Spanier in den ersten Augenblicken der Bekanntschaft sein ganzes Inneres erschlossen, und hatte er der Macht des Augenblicks die seltsame Aufregung zugeschrieben, in der er sich befunden, so mußte er nun, da das Bild des Fremden in seiner Seele unverwischt feststand, es sich selbst gestehen, daß das Geheimnisvolle, ja Wunderbare, wie es in dem ganzen Wesen des Fremden sich kundtat, mit wahrer Zauberkraft auf ihn gewirkt, und eben dieses Wesen schien ihm die Ursache des seltsamen Mißtrauens zu sein, das Sever wider den Spanier hegte.

Andern Tages, als Eugenius sich wieder auf dem Kaffeehause einfand, schien ihn der Fremde mit Ungeduld erwartet zu haben. Unrecht, meinte er, sei es gewesen,[583] daß er gestern Eugenius' Vertrauen nicht erwidert und nicht auch von seinen Lebensverhältnissen zu ihm gesprochen. Er nenne sich Fermino Valies, sei Spanier von Geburt und zurzeit Sekretär des spanischen Grafen Angelo Mora, den er in Augsburg getroffen und mit dem er hergekommen. Das alles habe er schon gestern von einem seiner Freunde, namens Sever, erfahren, erwiderte Eugenius. Da flammte ein glühend Rot plötzlich auf des Spaniers Wangen und verschwand ebenso schnell. Dann sprach er mit stechendem Blick und beinahe bitter höhnendem Ton: »Nicht glauben konnt' ich, daß Leute, um die ich mich nie gekümmert, mir die Ehre erzeigen würden, mich zu kennen. Doch glaub' ich schwerlich, daß Ihr Freund Ihnen mehr über mich wird sagen können als ich selbst.« – Fermino Valies vertraute nun ohne Hehl seinem neuen Freunde, daß er, kaum der Knabenzeit entwachsen, verführt durch die boshafte Arglist mächtiger Verwandten, in ein Kloster gegangen und Gelübde getan, gegen die sich später sein Innerstes empört. Ja, bedroht von der Gefahr, in immerwährender namenloser Marter hoffnungslos hinzusiechen, habe er dem Drange nicht widerstehen können, sich in Freiheit zu setzen, und sei, als die Gunst des Schicksals ihm eine Gelegenheit dazu dargeboten, entflohen aus dem Kloster. Lebendig, mit den glühendsten Farben, schilderte nun Fermino das Leben in jenem strengen Orden, dessen Regel der erfinderische Wahnsinn des höchsten Fanatismus geschaffen, und um so greller stach dagegen das Bild ab, das er von seinem Leben in der Welt aufstellte, und das so reich und bunt war, wie man es nur bei einem geistvollen Abenteurer voraussetzen kann.

Eugenius fand sich wie von Zauberkreisen umfangen, er glaubte in dem magischen Spiegel des Traums eine ihm neue Welt voll glänzender Gestalten zu erblicken, und unbemerkt erfüllte seine Brust die Sehnsucht, selbst dieser Welt anzugehören. Er gewahrte, daß seine Verwunderung[584] über manches, vorzüglich aber diese, jene Frage, die er unwillkürlich dazwischenwarf, dem Spanier ein Lächeln entlockte, das ihm Schamröte ins Gesicht trieb. Ihm kam der niederschlagende Gedanke, daß er in Mannesjahren ein Kind geblieben!

Nicht fehlen konnte es, daß der Spanier mit jedem Tage mehr Herrschaft gewann über den unerfahrnen Eugenius. Sowie nur die gewöhnliche Stunde schlug, eilte Eugenius nach dem Kaffeehause und blieb länger und länger, da ihn, mochte er es sich selbst auch nicht gestehen, vor der Rückkehr aus heitrer Welt in die häusliche Einöde graute. Fermino wußte den kleinen Kreis, in dem er sich bis jetzt mit seinem neuen Freunde bewegt, geschickt zu erweitern. Er besuchte mit Eugenius das Theater, die öffentlichen Spaziergänge, und gewöhnlich endeten sie den Abend in irgendeiner Restauration, wo hitzige Getränke die aufgeregte Stimmung, in der sich Eugenius befand, bald bis zur Ausgelassenheit steigerten. Spät in der Nacht kam er nach Hause, warf sich aufs Lager, nicht um wie sonst ruhig zu schlafen, sondern um sich hinzugeben verwirrten Träumen, die ihm oft Gebilde vorüberführten, vor denen er sich sonst entsetzt haben würde. – Matt und abgespannt, unfähig zu wissenschaftlicher Arbeit fühlte er sich dann am Morgen, und erst wann die Stunde schlug, in der er den Spanier zu sehen gewohnt, kamen alle Geister des wildverstörten Lebens in ihm zurück, die unwiderstehlich ihn forttrieben.

Eben zu solcher Stunde, als Eugenius wieder forteilen wollte nach dem Kaffeehause, guckte er, wie er zu tun gewohnt, in das Zimmer der Professorin, um flüchtig Abschied zu nehmen.

»Treten Sie herein, Eugenius, ich habe mit Ihnen zu reden!« So rief ihm die Professorin entgegen, und in dem Ton, mit dem sie diese Worte sprach, lag so viel strenger, ganz ungewohnter Ernst, daß Eugenius festgebannt wurde von jäher Bestürzung.[585]

Er trat ins Zimmer; nicht ertragen konnte er den Blick der Alten, in dem sich tiefer Verdruß mit niederbeugender Würde paarte.

Mit ruhiger Festigkeit hielt nun die Professorin dem Jüngling vor, wie er sich nach und nach zu einer Lebensart verlocken lassen, die alle Ehrbarkeit, alle gute Sitte und Ordnung verhöhne und ihn über kurz oder lang ins Verderben stürzen werde.

Wohl mochte es sein, daß die Alte, die Bedingnisse des Jugendlebens zu sehr nach der Sitte älterer frömmerer Zeit abwägend, in ihrer langen und bisweilen zu heftig werdenden Strafpredigt das richtige Maß überschritt. So mußte es aber kommen, daß das Gefühl des Unrechts, das erst den Jüngling erfaßt hatte, unterging in dem bittern Unmut, den die immer mächtiger werdende Überzeugung, wie er sich doch niemals einem eigentlich sträflichen Hange überlassen, in ihm erregte. Wie es denn zu geschehen pflegt, daß der Vorwurf, der nicht ganz trifft ins Innerste hinein, von der Brust des Schuldigen wirkungslos abprallt.

Als die Professorin ihre Strafpredigt endlich schloß mit einem kalten, beinahe verächtlichen: »Doch! gehen Sie, tun Sie, was Sie wollen!« da kam ihm der Gedanke, wie er in Mannesjahren ein Kind geblieben, mit erneuter Stärke zurück. – »Armseliger Schulknabe! wirst du nie der Zuchtrute entrinnen?« – So sprach eine Stimme in seinem Innern! – Er rannte von dannen.

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 575-586.
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