Drittes Kapitel

[721] In dem Gasthofe zum »Weißen Lamm« ging es unterdessen sehr lebhaft zu. War es, daß der einfallende Jahrmarkt zu Fürth die Leute niedrigerer Volksklasse zusammengetrieben, so hatte dagegen das langerwartete Ehrenfest des großen Dürer die Leute höhern Standes herbeigezogen.

Das Wetter hatte sich völlig aufgeklärt, und ein heiterer Himmel, dem die lustigen Morgenwinde jedes Wölkchen wie eine Träne weggetrocknet, lagerte sich über die sonnenhelle Gegend. Die Anmut der Witterung verfehlte keineswegs ihre Wirkung auf die Gemüter der Menschen, welche sich mit Freiheit und Lust bewegten. So kam es, daß die Gaststube des ehrenwerten Herrn Thomas schon am frühen Morgen von Gästen erfüllt war, welche Wein tranken, wie sie ihn eben erhielten, schlechten und guten, und dabei lärmten und jubilierten.

Herr Thomas hatte noch nie solchen zahlreichen Zuspruch gehabt. Er rief, indem er sich vor die Brust schlug: »O du allmächtiger Albrecht Dürer! dir habe ich das zu verdanken; du bist besser als der heilige Sebaldus, der bloß zerbrochene Bouteillen leimt.« Dazu tanzte er – konnte es unbemerkt geschehen – etwas auf einem Beine und krähte: »O Nürnberg, du edler Fleck!« prügelte auch erklecklicher als sonst mit der Katzenpeitsche den neuen Kellner, der sich niemals entschließen konnte, ob er den rechten Fuß zuerst vorsetzen sollte oder den linken, so[721] lange, bis er in den Parforceschritt geriet und, dabei kläglich stürzend, mehr Bouteillen zerbrach als nötig.

»Nein!« rief in der Stube ein wohlgenährter Kärrner, ein frisches junges Blut, dem man die Lebenslust ansah (er pflegte hübsche kurze Waren feilzuhalten), »nein, mit Freuden verlier' ich zwei, auch wohl drei Laubtaler und fahre nicht nach Fürth und bleibe hier, um das Wunder zu sehen, das der alte Dürer schon wieder geschaffen, und wenn ich daheimkomme, dem Weibe zu erzählen, wie mich das so recht an Herz und Seele erlabt, was aus des alten fleißigen Herrn Werkstatt kommt. Nehme auch wohl ein Stücklein Kreide und zeichne auf den großen schwarzen Tisch des Meisters Gebilde nach, so gut es meine rohe Faust vermag, und da kann sich das Weib alles so ziemlich versinnlichen, und darüber hat sie denn große Freude.«

»Ei,« begann ein schwarzgebrannter Geselle von Kärrner, »ei, nehmt, Kamerad, bei diesen dürren Zeiten den Verdienst von zwei, drei Laubtalern immer mit, der Euch entgehen würde, wenn Ihr nicht noch heute nach Fürth kommt, und schert Euch den Teufel um Dürers Fest. Macht's wie ich; ich gehe, sobald ich diesen Römer geleert, den der heilige Sebald mir gesegnen möge. Glaubt Ihr, törichter Mann, daß der Kaisersaal mit seinen Wundern, zumal wenn Dürers Gemälde ausgestellt ist, für Euch und Leute unseres Standes überhaupt geöffnet sein wird? Der Dürer ist ein vornehmer Mann geworden, der bloß für die hohen Fürsten und Potentaten malt und unsereins nicht mehr achtet. Bekämen wir nicht seine schönen Bilder in den Kirchen zu sehen, so würden wir gar nichts mehr von ihm wissen.«

»Ei,« sprach ein Nürnberger Bürger, hinzutretend, »ei, wie möget ihr doch so sprechen, ihr lieben Leute, wie möget ihr von uns Nürnberger Bürgern solch schlechte Meinung hegen, daß wir abgeartet, nicht freier Volkssitte treu bleiben sollen. Sowie die hohen Herrschaften den[722] Kaisersaal verlassen und die Gänge nur ein wenig Luft erhalten, werden Türen und Tore für jedermann geöffnet, und der Geringste aus dem Volk kann sich an den Wundern, die sich ihm auftun, erlaben.

Und was unsern Dürer betrifft, so ist er ein Mann des Volks, aus dem er geboren, Hort und Heil der edlen Stadt Nürnberg – Stütze der Armen – Zuflucht der Bedrängten – Trost und tätige Hilfe jedem, der ihn bedarf – und viel lieber in den Kreisen des biedern bürgerlichen Standes, in dem Treuherzigkeit herrscht und freier unbefangener Sinn statt falscher Salbaderei und Knechterei ohne Ende, wie wohl solches Gift oftmals bei den Vornehmen herumschleicht. Vorzüglich hegt und pflegt er jedes aufkeimende Talent, er mag es finden, wo er will.«

Bei diesen Worten warf der Bürger dem Kärrner einen schlauen Blick zu, der Kreidezeichnung gedenkend. Dieser schlug aber die Augen nieder und lispelte: »O Gott! sollte etwas darin stecken?«

»Silentium!« schrie eine drohende Stimme, die keinem andern gehörte als dem tollen, halbbetrunkenen Drechslermeister Franz Weppering, über dem Tische herüber: »Silentium! und sollte ich ganz allein gegen euch Meisters meinen herrlichen Jungen, mein Herzblatt, meinen herzlieben Zuckermann, verteidigen, so tue ich es hiemit und fordere vorzüglich die Jugend auf, der das Herz am rechten Flecke sitzt, zu entscheiden, ob's recht war oder nicht, daß Raphael den übermütigen Melchior Holzschuer niederwarf, als er ihn Bastard schimpfte.«

»Wer mir,« sprach ein junger rüstiger Steinmetz mit funkelnden Augen, »wer mir an die Ehre kommt, kommt mir an das Leben, denn ohne Ehre kein Leben, und Leben gegen Leben.«

»Recht, recht, Friedrich hat recht,« so stürmten die Jünglinge tumultuarisch hinterher und schrien, indem sie die Gläser klingen ließen: »Hoch lebe Vater Dürers herrlicher Pflegesohn Raphael, denn sein ist er ganz und gar.«[723]

»Verachtet die Stimme der Ältern nicht,« so sprach ein alter Handwerksmann, dessen Gewerbe die blaugefärbten Hände verkündigten, »es wäre in diesem Falle gut, wenn ein weiser, vernünftiger, beratener Mann den Fall zum Nutzen und Frommen der Jugend entschiede.«

Die Jünglinge lachten helle auf, ergriffen den Herrn Thomas, der eben mit zwei schweren Weinhumpen durchschlüpfen wollte, alles Widerspruchs unerachtet, bei den Beinen und hoben ihn auf den Tisch, mit dem Ansinnen, sogleich, da ihm die Gaben dazu inwohnten, den Richterspruch zu tun. Herr Thomas gab der strengen Notwendigkeit nach und bemühte sich, wenigstens das mit Zierlichkeit und Anstand zu tun, was ihm die Gewalt abzwang. Er besah einige Augenblicke stillschweigend den Schlüsselbund, ließ dann einen Schlüssel nach dem andern fallen, richtete sich dann aus der gebückten Stellung in die Höhe, kratzte nach allen Seiten aus, vergessend, daß er auf dem Tische stand, und richtete eben dadurch eine Verwüstung an, der in dem Augenblick schwer zu steuern. Endlich räusperte er sich, fuhr einigemal mit der Kellermütze über die Stirne und begann feierlich:

»Meine teuren Gäste! Es ist hier von einem Totschlage oder vielmehr davon die Rede, ob's recht ist, jemand totzuschlagen. Man findet darüber in den mosaischen Gesetzen, gedenkt man noch nicht der Chaldäer, Syrer, Indier, Mesopotamier, Ägyptier, Perser –«

»Halt, halt,« schrie der Steinmetz, »plagt Euch der Teufel, Herr Wirt, wir wollen nicht wissen, ob die Potomier, Kalkdreher, Gipszieher oder wie das Volk alles heißen mag, was Ihr da herausgewirbelt habt, dem Raphael recht gegeben haben würde oder nicht. Ihr sollt auf der Stelle Bescheid geben.«

»So laßt,« sprach der Wirt, »so laßt mich wenigstens sogleich von Moses zu unserm Kaiser Karl dem Vierten und seiner Aurea bulla von 1347 vorwärts gehen; in dieser[724] heißt es, ›betreffend Meuterei und Totschlag‹, ausdrücklich: ›So jemand‹ –« In diesem Augenblicke schaute der Wirt um sich und gewahrte auf den Gesichtern der Jünglinge düstere Wolken, die jeder nachteiligen Entscheidung ein nachfolgendes verderbliches Gewitter drohten.

Der schlaue Thomas faßte sich daher kurz und sprach: »In der Tat, sehr werte Meister, herrliche Gäste, wackere Genossen schöner Tage, ich weiß nicht, wie es wörtlich in der Aurea bulla heißt, aber ihrem Sinn und Inhalt gemäß gebe ich meine Entscheidung dahin, daß Raphael das Recht hatte, den Melchior auf den Tod anzugreifen, weil dieser zuvor Gleiches getan.«

So sehr die Jünglinge dem Herrn Thomas Beifall zujauchzten, so sehr erhoben sich dagegen auch die murrenden Stimmen der Alten, welche mit Recht von Meuchelmord, bewaffneter Faust und dergleichen sprachen. Herr Thomas, um auch diesen Sturm zu beschwichtigen, rief sehr laut: »Und sollte auch ein hitziger Streich geschehen sein, alle Gesetze, Verordnungen und Privilegien lassen einen großen Entschuldigungsgrund zu, nämlich die Liebe; und hat der feurige Jüngling Raphael an einem Orte, wo es freilich nicht hingehörte, hat er seine höchste Kunst, was Gesang und Spiel betrifft, den ganzen Schatz seines Talents euch eröffnet, so dankt ihm das, so dankt ihm die Erhebung eures Gemüts, die ihr in dieser Stunde genossen habt.« Dem Wirt wurde aufs neue stürmischer Beifall zugejauchzt. Er nahm indessen die Gelegenheit wahr, mit einem geschickten Katzensprunge auf den breiten Rücken seines Oberküpers zu setzen, der mit ihm sogleich abfuhr.

Ein neuer, ganz unerwarteter Auftritt fesselte jetzt plötzlich die Aufmerksamkeit der Gäste. Die Türe sprang nämlich auf, und hinein schritt sehr feierlich ein kleines, kaum fünf Fuß hohes Männlein; einen großen, breiten Hut mit einer viel zu hohen Feder auf dem Kopfe, das[725] Genick zurückgebeugt tief in den Nacken, kniff der Kleine die Augen dicht zu wie ein Gänserich, der in den Blitz zu schauen unternimmt. Der schwarze Amtsanzug wäre beinahe mehr als reputierlich zu nennen gewesen, hätten sich in den schwarzen Strümpfen nicht zu viel weiße Zwirnsfäden vorgefunden.

Hinter der kleinen Person schritten zwei wohl bewaffnete Männer von der Stadtmiliz, und man bemerkte, daß die Türen des Hauses stark besetzt wurden und auch auf der Straße starke Wachen patrouillierten. Die Bürger gerieten in Unruhe und Besorgnis über das, was die gute Stadt bedrohen könne, und bestürmten den Ratsschreiber Elias Werkelmatz – dies war der kleine Mann, der die Wache führte, mit Fragen. – Werkelmatz schritt aber, ohne jemanden eines Blicks, eines Wortes zu würdigen, mit seinen Soldaten wieder zur Türe heraus, wo er gekommen.

Der Vorfall mit der Besetzung des Hauses, sowie das Herannahen der Mittagszeit hatte die Menschen verjagt, so daß nur noch eine kleine Gesellschaft zurückgeblieben, unter der sich – mit Ausnahme des Doktor Salmasius – diejenigen Personen befanden, welche der geneigte Leser aus dem ersten Kapitel bereits kennt.

»Stellt«, sprach Erxner, »ein hochweiser Rat denn gerade in dem Augenblick verdächtigen Personen nach, als Dürers Fest beginnen soll?«

»Ist vonnöten, ist vonnöten,« sprang der Wirt geschäftig bei. Herr Thomas rieb sich die Hände, drehte sich hin und her und tat überhaupt so wie ein Mensch, dem irgend etwas die Seele abdrücken will.

»Ha ha ha,« lachte Weppering, »seht, wie unser Herr Thomas uns gar zu gern mit seinem Kram bedienen möchte; aber wir geben es durchaus nicht zu, wenn er uns nicht eine Flasche edlen Weins opfert.«

»Vermaledeiter Saufaus,« murmelte Herr Thomas zwischen den Zähnen; dann aber lauter und gemütlicher:[726] »Soll geschehen, edler Drechsler, soll geschehen.« Bald stand der Wein auf dem Tische. Nun wischte sich Herr Thomas mit der Kellerschürze den Schweiß von der Stirn, blies die Backen auf, indem er den andern zuwinkte, ein Gleiches zu tun und soviel möglich die Köpfe zusammenzustecken.

»Der kleine stumme Ratsschreiber«, begann der Wirt, »ist ein närrischer Kumpan; warum sagte er nicht offen, daß der dem Galgen entlaufene Irmshöfer ein paar Tage verkappt am Orte sich aufgehalten, und daß der hochweise Rat ihn zu verhaften strebt, ohne ihn jedoch finden zu können?«

»Wie, der abscheuliche Bösewicht wieder hier? Sollte«, fuhr Erxner fort, »der Bösewicht die Frechheit haben, gerade am Fest unseres großen Dürer dem Galgen entgegenzutreten? Ich glaube es kaum.«

»Ich weiß«, nahm Bergstainer das Wort, »überhaupt gar nicht, warum man mit dem verruchten Kerl, dem Irmshöfer, so viel Federlesens macht. Warum schmeißt man ihn nicht gleich ins Feuer, wie es im Jahre 1472 mit dem Hans Schittersamen geschah, der die Nürnberger durch seine arglistigen Streiche auf abscheuliche Art molestierte. Nun, jetzt wird er wohl dem Galgen nicht länger entgehen, sie hängen ihn gewiß.«

»Sobald sie ihn haben,« fiel der Wirt ihm ins Wort, indem seine Miene einen solchen hohen Grad von Schlauigkeit erreichte, daß des erfahrensten Fuchses Antlitz nur ein schwaches Abbild davon gewesen sein würde. »Freunde,« fuhr er dann feierlich fort, »dieser Irmshöfer ist eine Art von Satan. Wißt ihr nicht, daß er auch Solfaterra heißt? – Wißt ihr nicht, daß ein Solfaterra Sakristan zu St. Sebald war, als Kaiser Karl der Vierte seinen Sohn Wenzel, der wie ein Heidenkind fünfundeinhalb Wochen, alles Christentums bar, brach gelegen, unter einem güldenen Thronhimmel taufen ließ? Daß –«

In dem Augenblick ertönten die Glocken von St. Sebald,[727] ein Zeichen, daß sich die hohen Herren und Fürsten nach dem Kaisersaal begaben. Alles brach auf, und Herr Thomas rief, ganz erbost, sich in seiner Weisheit unterbrochen zu sehen: »Da läuft es hin, das unverständige Volk, und will nicht erfahren, daß das kleine kaiserliche Balg den fürstlichen Einfall hatte, das schöne silberne Taufbecken zu einem ganz andern Hausbedürfnis anzuwenden, als wozu es bestimmt; und daß es darauf anging und verbrannte wie ein schlechter Haderlump. Daß aber der Sakristan Solfaterra ein rotes Pulver –.« Des Wirts Stimme verhallte im Tumult der Abgehenden.

In demselben Augenblicke lag der, dessen Lob, dessen Ruhm von allen Lippen ertönte, einsam hingestreckt auf ein kleines Ruhebett, in dem kleinen entlegenen Zimmer des Rathauses, wo er verschiedene kleinere Kabinettstücke von seiner Arbeit aufhängen lassen, und überließ sich ernster, tiefer Betrachtung. Herr Mathias trat zu ihm mit den Worten: »Albrecht! es ist, als wenn Eure Seele mit einem ungeheuren Schmerz kämpfe, der Euch wie ein drachenartiges Ungeheuer umwunden, und dessen Verschlingungen Ihr Euch zu entwinden vergeblich mühtet.«

Albrecht richtete sich ein wenig von dem Ruhebette empor, und nun gewahrte Mathias zuerst die Leichenblässe seines Antlitzes, und wie sich über seine ganzen Züge jener besondere bedrohliche Charakter verbreitet hatte, den Hippokrates als ein untrügliches Zeichen einer Krankheit, die den ganzen Organismus gewaltsam ergreift und vorzüglich in den Ganglien ihren Ursprung findet, angibt. »Um Gott!« rief Herr Mathias, indem er die Hände zusammenschlug, »um Gott, mein würdiger Freund Dürer, was ist dir widerfahren? Aber sieh, wie unser frommer Freundschaftsbund unsere ganze Seele erfüllt; heute am frühen Morgen ließ mir der Gedanke keine Ruhe, daß du hierher gegangen und krank geworden wärest. Ich eilte hierher.« –

»Ach!« unterbrach ihn Dürer, »es ist meine Sehnsucht,[728] die dich hierher gezogen. Laß mich, o mein Freund, in deine treue Seele mein ganzes Ich ausschütten, das schon das deinige ist.« Albrecht Dürer sank vor Mattigkeit sanft auf das Ruhebette zurück und begann mit schwacher krankhafter Stimme: »Ich weiß nicht, was seit einigen Tagen mich für eine seltsame Traurigkeit und Befangenheit des Geistes oft bis zur Qual ängstigt. Meine Arbeit geht mir nicht vonstatten, und fremde, verworrene Bilder, die sich eindrängen wie feindliche Geister in die Werkstatt meiner Gedanken, werde ich nicht los, unerachtet ich die ewige Macht des Himmels anflehe, mich zu befreien von dieser Ärgernis des Bösen.« –

»Er ist hier,« sprach Mathias mit bedeutendem Ton. »Ich weiß es,« erwiderte Dürer sehr schwach. »Fürchtet nichts,« fuhr Herr Mathias fort; »was vermag der Ohnmächtige gegen Euch, der Ihr überall im mächtigsten Schutz und Schirm steht.«

Beide schwiegen einige Augenblicke, dann begann Albrecht: »Als ich heute früh erwachte, fielen die ersten Strahlen der Morgenröte in mein Zimmer. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen, öffnete die Fenster und erlabte mein Gemüt im frommen Gebet zu der höchsten Macht des Himmels. Eifrig und eifriger betete ich, aber kein Trost kam in das wunde Gemüt, und es war, als wende sich die heilige Jungfrau von mir ab mit ernstem, wo nicht zürnendem Blick. Ich weckte mein Weib und sagte ihr, daß ich in der tiefen Bekümmernis meines Herzens einen Gang nach dem Burgwall machen und dann hierher gehen wolle. Zu rechter Zeit solle man mir die Festkleider schicken, damit ich mich ankleide und hier erscheine, ohne hergeführt werden zu dürfen. – Mathias! als der Ratsdiener die großen Pforten des Kaisersaals aufschlug, als ich mein großes Gemälde erblickte, das den ganzen Hintergrund einnimmt und das in den Morgenwolken eingehüllt schien, aus denen zweideutige Streiflichter es anschielten, als ich noch einen Teil des[729] Malergerüstes, die Farbentöpfe, Malerschurz und Mütze gewahrte, die noch von der letzten Arbeit zurückgeblieben, da ich an Ort und Stelle retuschierte, da überfiel mich jene Traurigkeit noch empfindlicher und härter; ja, eine Bangigkeit drohte mir die Brust zu ersticken; was ich gewollt, nämlich mein Bild der strengsten Musterung unterwerfen, mußte unterbleiben. Einmal – Mathias, erschreckt nicht – mein eigenes Gebilde jagte mir in diesem Augenblick das Entsetzen zerschmetternder Majestät ein und dann – ich hätte ja vor Schwindel und Mattigkeit das Gerüst nicht besteigen können. Mit geschloßnen Augen schwankte ich durch die langen Gänge in dies Zimmer, wo ich ermattet auf das Ruhebette sank. In einem Halbschlummer gedachte ich nun meines ganzen Lebens, und wie ich mich aus eignen Trieben zur heiligen Malerkunst gewendet. Ich darf Euch, mein lieber Freund Mathias, die so bekannte Geschichte meiner Kindheit wohl nicht wiederholen, aber so viel mag ich sagen, daß nicht allein die Gebilde der Menschen, deren Antlitz mich besonders ansprach, sondern daß auch Gestalten beim Lesen der heiligen Historien in meinem Innern aufgingen, die zum Teil so schön und herrlich waren, daß sie dieser Erde nicht angehören konnten, welche ich mit solch unaussprechlicher Liebe umfaßte, daß ich ihnen meine ganze Seele zuwandte. Aber diese Liebe konnte ich nicht anders ins feurige Leben treten lassen, als wenn ich sie aus meiner innigsten Seele heraus auf der Tafel darstellte.

Hier habt Ihr, mein Freund Mathias, mit wenigen Worten die ganze Tendenz meiner Kunst.« –

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 721-730.
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