Zweites Kapitel

[699] Die Sonnenglut des Tages war verdampft, der Abendwind hatte sich hinter den Bergen aufgemacht und jagte die goldenen Wölkchen empor, die die sinkende Sonne wie glänzende Trabanten umfangen sollten. Baum und Gebüsch rührte sich froh in der Frische der Abendkühlung; in dem schönsten glänzendsten Schmuck des Abendgoldes stand die Hallerwiese, dies kleine Paradies der schönen Stadt Nürnberg. Bunte, duftende Blumenmatten von anmutig daherplätscherndem Gewässer durchschnitten, Gebüsch, bald leuchtend hervorschimmernd, bald im sanften Nachtschatten zurückweichend, ringsumher dazu das melodische Trillern der Sangvögel, die hier kein feindlicher Sinn in ihrer Heimat stören darf. – In der Tat, der würdige Sänger hatte recht, welcher diesen mit allen Reizen der Natur geschmückten Platz mit dem Tempe verglich, von dem die alten Fabeln so viel Herrliches zu erzählen wissen.

Die Glocken der letzten Sonntagsandacht hatten ausgeläutet, und man sah, wie nun alt und jung in Festtagskleidern nach der Hallerwiese zog, die bald sich zum Tummelplatz der mannigfachsten Vergnügungen gestaltet hatte. Hier wetteiferten Jünglinge in allerlei Leibesübungen und boten das anmutige Schauspiel der Stärke und Geschicklichkeit dar, die dem lebenskräftigsten Alter eigen. Dort zogen Sänger mit Zithern in den Händen daher und sangen lustig anzuhörende Märlein vom Könige Artus und dem weisen Merlin, der noch bis zur jetzigen Stunde in der Eiche sitzt, wo seine Liebe ihn hinvexiert hat, und sein kläglich Stimmchen hören läßt.

Dazwischen sprang auch wohl ein buntscheckichter Schalksnarr und sang unter tollen Grimassen und Gebärden von dem Kardinal Pankratius, der ein großes Maul hatte, und da das Maul verbrannt und begraben war, schlug ein großes Feuer aus der Erde, und der[699] Schmeck kam heraus. Und der Schmeck ist verschieden geworden, als da sind: der Rosmarinschmeck, der Jasminschmeck, der Nelkenschmeck, der Rosenschmeck und tausend andere; und die Weibsleute tragen ihn in den Händen, wenn sie Sonntags spazieren gehen. Aber was ist der beste Schmeck? Ei a!


»O Braut, die Lippen triefen dir

von Honigseime für und für,

die Zung' ist Milch und Honigsüße:

die Kleider haben den Geschmack,

den Libanus nicht geben mag,

auch wenn er alle Kraft anbliese.«


So sang also dieser oder jener Schalksnarr, indem ein anderer ihn auf einer mißtönenden Pfeife und halb zerschlagenen Trommel begleitete.

Doch das war etwas fürs Volk, welches den Narren laut jubelnd nachströmte.

Hier auf dem weichen blumichten Wasen bei dem vom Abendwinde bewegten flüsternden Gebüsch eröffnete sich ein edleres Schauspiel. Jünglinge, Jungfrauen hatten sich züchtig bei den Händen gefaßt und tanzten nach dem anmutigen vollen Klang der Theorben, Harfen und Flöten in künstlich verschlungenen Reihen. In der Ferne sah man Väter und Mütter gelagert, der Jugend mit Wohlgefallen zuschauen, und jede Mutter sprach zur andern von ihrer süßen Hoffnung. Ratsherren schritten bedächtig durch die Gänge, freuten sich des Wohlseins ihrer Bürger und berieten auch hier, wie das Wohl der Stadt zu fördern. –

Auf einem anmutigen Platze neben einem geschwätzigen Springbach hatte sich ein Trupp Jünglinge zusammengefunden, die, von den Leibesübungen Ruhe schöpfend, sich in allerlei scherzhaften Gesprächen zu ergötzen schienen. Dieser Trupp war in der Tat eine Auswahl der Nürnberger Jugend. Denn jeder von diesen Jünglingen hätte dem Maler zum Modell des reinsten Ebenmaßes in[700] dem vollkräftigen Körper des Jünglings dienen können. Sie waren meistens nach italischer Weise in kurzen Mänteln, Wams mit weiten geschlitzten Ärmeln und größern als gewöhnlichen ausgeschlitzten Baretts, auf denen ein ganzer Wald wogender Federn wogte, gekleidet, und diese Tracht war eben dazu geeignet, die Kraft und Schönheit ihres Wuchses ins Licht zu stellen.

Doch unter allen übrigen ragte wie ein Fürst unter seinen Vasallen in edler Hoheit und Grazie ein Jüngling empor, der mit seinen strahlenden Augen so keck und kühn in die Welt hinausschaute, als ob alles sein und er der Gebieter. Es begab sich, daß dieser Jüngling mit einem andern in einen Wortwechsel geriet, der immer heftiger und heftiger wurde. Plötzlich, ganz entstellt von Zorn und wilder Wut, mit einem dumpfen Schrei stürzte der schöne Jüngling auf seinen Gegner los. Dieser, durch den jähen Angriff nicht außer Fassung gebracht, wußte die Kraft dieses jähen Angriffs geschickt zu brechen und auch seinen Gegner mit Vorteil zu fassen.

Sie rangen, gleiche Stärke und Gewandtheit begegneten sich, und nur eine augenblickliche Schwäche dieses oder jenes Teils konnte den Kampf entscheiden, der um desto hartnäckiger und bedrohlicher für die Zuschauer, aber auch um desto herrlicher war.

Endlich überwältigte der schöne Jüngling seinen Gegner, warf ihn mit Riesenkraft zu Boden, zog ein italisches Messer, das in einer zierlichen Scheide am Gürtel gehangen, und war im Begriff, es seinem Gegner in die Brust zu stoßen, als alle umstehende Jünglinge, eines solchen Trauerspiels nicht gewärtig, hinzusprangen, sich zwischen die Jünglinge warfen und den Überwältigten ohnmächtig wegtrugen.

Dieser Jüngling war aber Melchior Holzschuer geheißen und der Sohn eines der ersten Patrizier. Der schöne Jüngling stand noch immer da in drohender Stellung, das Messer hoch emporgehoben, mit zornsprühenden Augen[701] und krampfhaft zusammengedrückter Stirn. Unter andern Umständen hätte sich wohl die Gestalt des Jünglings, so kräftig und heldenmäßig war sie anzusehen, dem Erzengel vergleichen lassen, wie er im Begriff steht, dem sich krümmenden Erbfeinde den Todesstreich zu versetzen.

In dem Augenblick eilte auch ein Ratsherr mit der zahlreichen Stadtwache herbei. Sowie er den schönen Jüngling mit dem Mordmesser in der Hand erblickte, erblaßte er vor Schreck und rief: »Raphael, Raphael, schon wieder seid Ihr es, der Meuterei anfängt; schon wieder stört Ihr die Freuden Eurer Mitbürger. Was soll ich mit Euch machen? Fort, nach der Wache.«

Da erst schien der Jüngling zu sich selbst zu kommen. »O Gott!« rief er, »o Gott! mein würdigster Herr. Der Schimpf war zu groß, zu entsetzlich, hier auf dieser Stelle, hier öffentlich unter dem Volke hat er mich geschimpft; – ich kann's nicht wiederholen das Wort – – Bastard.« Der Jüngling stieß ein Geheul aus, indem er sich beide Fäuste vors Gesicht drückte.

Die andern Jünglinge traten beschwichtigend auf den Ratsherrn zu und versicherten, daß der übermütige Patrizierssohn den jungen Maler wirklich ohne alle sonderliche Veranlassung auf die gerügte entsetzliche Weise beschimpft habe, so daß dieser wohl in Wut geraten und ihm zu Leibe gehen können. Ein Tränenstrom stürzte aus Raphaels Augen – er warf sich jedem der Jünglinge an die Brust und fragte schluchzend, ob er denn solch ein Mordgeselle sei, ob er denn überall Meuterei anfange, ob er nicht alle liebe, ob er nicht manches übereilte Wort einstecke, ob ihn nicht der böse Mensch aus der hellsten Fröhlichkeit zur höchsten Wut gereizt – darauf ließ er sich auf ein Knie vor dem Ratsherrn nieder, faßte seine Hand und benetzte sie mit Tränen, indem er sprach: »O mein würdiger Herr, gedenkt Eurer Mutter und sagt: was hättet Ihr getan in meiner Stelle?« –

»Weil,« sprach der Ratsherr, »weil alle darin übereinstimmen,[702] daß Ihr wirklich ohne Veranlassung auf die von Euch erzählte harte Weise angegriffen worden seid; vorzüglich aber aus Ehrfurcht gegen Euren Pflegevater, den großen Albrecht Dürer, will ich den Vorfall für heute nicht weiter rügen; doch müßt Ihr mir Eure Mordwaffe aushändigen; gebt mir Euer Messer her.« Da ergriff der Jüngling das Messer, drückte es heftig an seine Brust und sprach im Ton der innigsten Wehmut: »O mein würdigster Herr, Ihr greift mir an das Herz, wenn Ihr das von mir verlangt; ein besonderes Gelübde, das ich mir selbst getan, zwingt mich, dieses Messer nie von meiner Seite zu lassen. Seid barmherzig, würdigster Herr, fragt mich nicht mehr.« –

»Ihr seid,« erwiderte der Ratsherr lächelnd, »Ihr seid ein wunderlicher Mensch, Raphael; doch habt Ihr etwas in Eurem ganzen Wesen, welches bewirkt, daß man Euch nicht so leicht etwas abschlägt. Aber steht hier nicht so müßig, ihr lieben Jünglinge, seid ihr der Leibesübungen satt, so mischt euch dort in jene fröhliche Haufen, welche sich ergötzen durch Gesang und Tanz. Reizen euch denn nicht die schönen Jungfrauen, die dort reihenweise daherziehen?«

Da geriet Raphael plötzlich in Begeisterung; er warf den Blick in die Höhe und sang mit gar heller anmutiger Stimme in der stumpfen Schoßweis Hans Müllers:


»Es steht am Firmament

nur eine Sonnen, die brennt

ins wunde Herz.

Ein Schmerz,

Ein Lieben nur,

Ein Hoffen, Sehnen, Sterben,

Ein Liebesfirmament,

Ein Liebesfeuer brennt.

O Königin!

mein Sinn[703]

in dir nur lebt.

Gibt's noch ein anderes Leben?

Die Sonn' am Firmament,

die Liebesglut, die brennt,

sie gönnt

mir tausend süße Schmerzen!

O selig Feu'r, das brennt,

Des Himmels Lust mir gönnt!

Spring auf, o Brust,

in Lust!

Entströme Glut dem Herzen.«


»Er ist in Liebe,« sprach einer von den Jünglingen zu dem Ratsherrn leise, »und wenn ich nicht irre, liebt er Mathilde, die schöne Tochter unseres würdigen Patriziers Harsdorfer.« – »Nun,« erwiderte der Ratsherr lächelnd, »das Lied war wenigstens ebenso wild und toll als die Liebe selbst.«

Doch, o Himmel! in diesem Augenblick kam der Patrizier Harsdorfer einen Baumgang hinaufgeschritten, geradezu nach dem Rasenplatz hin, wo sich die Jünglinge befanden, an seiner Seite seine Tochter Mathilde, schön und anmutig wie ein junger Frühlingstag. Sie war sehr zierlich in ein knappes Gewand mit langen, weiten, bauschichten, vielfach geknüpften Ärmeln gekleidet. Der hoch hinaufgehende Kragen ließ nur die Form des schönsten Busens ahnen, und ein breites Barett, mit vielen Federn ringsumher geschmückt, vollendete den Reiz der italischer Sitte sich nähernden Tracht. Als sie sich den Jünglingen näherte, ließ sie, in jungfräulicher Scheu errötend, den Vorhang der seidenen Wimpern über die leuchtenden Himmelsaugen fallen. Doch nur zu gut hatte sie den erblickt, der in ihrem Herzen lebte.

Ganz außer sich, von Liebeswahnsinn ergriffen, stürzte Raphael aus dem Kreise der Jünglinge, stellte sich vor Mathilden und sang:[704]


»So kommst du her,

Schönst' der Jungfrauen?

Darf ich dich schauen?

Wunderbares Bangen

hält die Brust befangen.

Schweigt, Abendwinde, Stimmen des Waldes!

Wohllaut ist ihr Gang,

ihr Atem süßer Gesang,

alles huld'ge ihr

im Lustrevier.

Will sie zu euch sich neigen,

seht den Himmel niedersteigen.

Ha, Königin der Jungfrauen,

soll'n sterben wir in Wonnen?

In Wellen sprudelst, Liebesbronnen!

O Schmerzen! O Lust!

zerspaltet die Brust!

Ach, dem kein Stern mehr brennet,

dem ist die Ruh' gegönnet.«


Als er den Gesang vollendet, ließ er sich vor Mathilden auf ein Knie nieder und bat um den schönen Blumenstrauß, den sie in der Hand trug, und den sie ihm als Sängerpreis nicht verweigern konnte.

Er nahm ihn, sich erhebend, drückte ihn an die Brust, netzte ihn mit Tränen und verteilte dann einige grüne Blätter davon an seine Gefährten, die jubelnd ihre Baretts damit schmückten.

Man kann denken, daß das ganze Beginnen Raphaels ein herrliches Bild herbeiführte. So kam es, daß Personen jeden Standes einen Kreis geschlossen hatten und sich an dem anmutigen Schauspiel ergötzten.

Selbst die strengsten Meistersänger, welche dem Raphael vorwarfen, daß er sich zu italischer Singerei hinneige, erstaunten über die Stärke und Annehmlichkeit des hellen Brusttons, mit dem Raphael sang; und ein paar[705] gar Gelahrte stritten nur darüber, ob Raphael sich in seinem Gesange mehr an die grüne Lilienweis oder mehr an des Orphei sehnliche Klageweis gehalten.

So lieblich, so hineinpassend in die Vergnügungen auf der Hallerwiese, so die Schranken der höchsten Ehrbarkeit beachtend nur aber auch die der schönen Mathilde dargebrachte Huldigung sein mochte, so mußte sich doch die zarte, züchtige Jungfrau dadurch schmerzhaft berührt fühlen, weil einer seine Liebe zu ihr auf viel zu ausschweifende Weise vor aller Welt ausgesprochen. Sie war ganz zerknirschte Scham, keines Wortes mächtig.

Es hatten sich indessen mehrere Freunde um den edlen Patrizier Herrn Harsdorfer versammelt, und es gelang ihm, sich ohne Geräusch ganz in der Stille mit seiner Tochter im Volk zu verlieren.

Raphael befand sich in der überseligsten Stimmung, und wie es in dieser Stimmung zu geschehen pflegt, sein Mut schwoll bis zum Übermut. Die Jünglinge beschlossen unter seiner Anführung noch einen Streifzug durch die ganze Hallerwiese zu unternehmen. Hier auf diesem Streifzuge war es, wo ihm eine der abenteuerlichsten Gestalten aufstieß. Ein alter, großer mißgestalteter Mann, in gestreifter buntscheckichter Kleidung, auf dem Barett drei hohe Pfauenfedern, ein ungeheures Schwert an der Seite, das er nur mit Mühe fortschleppte. Der ganze Kerl schien aus Justus Amann Kriegszug gesprungen zu sein.

Erfährt der geneigte Leser, daß Meister Thomas, der Wirt zum »Weißen Lamm«, diesen wunderlichen Menschen begleitete, so hat es keinen Zweifel, daß der gestreifte Kriegsmann niemand anders war als der Unbekannte, den der Magister Mathias mit dem Namen Solfaterra anredete.

Die Jünglinge erwählten alsbald den Unbekannten zu ihrem obersten Kriegsfeldhauptmann und ordneten einen Kriegszug an, der in der Tat lächerlich genug sich ausnahm.[706]

Voran schritten einige Jünglinge, die die Feldmusik auf mißtönende Weise nachahmten, alsdann kamen zwei, die das ungeheure Schwert des Hauptmanns trugen; ihnen folgte einer, der auf den Händen das Federbarett emporhielt, und ihm zur Seite schritten zwei sehr feierlich, von denen jeder einen Handschuh des Hauptmanns, und scheinbar mit der angestrengtesten Mühe, trug. Nun führten zwei an den Armen den erwählten Hauptmann selbst; der wollte alles mit den Blicken vergiften, fluchte, tobte, knirschte mit den Zähnen, aber er befand sich in der Gewalt der Jünglinge, und je mehr er sich toll gebärdete, zu desto abenteuerlicheren Grimassen wußten ihn seine Führer zu zwingen. Vorzüglich verstand Raphael sich darauf, den Hauptmann in beständigem Atem zu erhalten, so daß er's war, dem der Unbekannte den größten Tort verdankte.

So bewegte sich der Zug langsam fort, als plötzlich Albrecht Dürer vor Raphael stand. –

Es ist nötig zu sagen, daß Albrecht Dürer sich ebenfalls mit seinem Weibe und dem Herrn Doktor Mathias auf der Hallerwiese ein weniges ergehen wollte. Doch geschah es wie immer; es gesellten sich so viele edle Freunde zu ihm, daß seine Umgebung oder vielmehr sein Gefolge bald einen Festzug zu bilden schien. Heute kam noch dazu, daß viele Fürsten und Herren, die sich gerade in Nürnberg befanden, ebenfalls nicht verschmähet hatten, mit einer zahlreichen, glänzend gekleideten Dienerschaft die Hallerwiese zu besuchen. Wohl war es Dürer, der sie dazu bewog; denn ihn umgaben sie, huldigend seiner Kunst nicht allein, sondern auch seiner anmutigen Beredsamkeit, dem harmonischen Wohllaut seines ganzen Wesens. –

Dürers Antlitz war kräftig und voll Ausdruck eines erhabenen Sinnes. Die Züge drückten sich indessen zu markicht aus, um nicht ein gewisses Gleichgewicht der Bildung aufzuheben, wodurch ein Antlitz schön wird. Den[707] tiefsinnigen Künstler zeigte der begeisterte Blick, der oft unter den buschichten, scharf zusammengezogenen Augenbrauen hervorstrahlte, den liebenswürdigen Menschen ein unaussprechlich anmutiges Lächeln, zu dem sich seine Lippen verzogen, wenn er sprach. Viele wollten unter Dürers Augen einen gewissen krankhaften Zug bemerken, sowie aus der nicht ganz natürlichen Färbung der Wangen auf die besorgliche Andeutung eines innern geheimen Übels schließen. Man findet diese Färbung zuweilen auf Dürers Bildern, vorzüglich bei Klostergestalten, mit vieler Wirkung angebracht, und dieses zeigt, daß Dürer sein eignes Kolorit nicht verkannte.

Dürer verschmähte nicht, sich zierlich zu kleiden und so seinem wohlgebauten Körper, dessen einzelne Glieder ihm oft selbst zum Modell dienten, sein Recht anzutun. Seine ganze Gestalt war heute an dem schönen Sonntage besonders herrlich anzusehen. Er trug ein gewöhnliches Überkleid von schwarzer Lyoner Seide. Der Kragen und die Ärmel mit gerissenem Samt von derselben Farbe in zierlichem Muster besetzt. Das auf der Brust weit ausgeschnittene Wams war von buntem venetianischen Goldstoffe. Das bauschichte, vielfaltige Beinkleid reichte nur bis an das Knie. Übrigens trug Dürer zu diesem Festanzuge, wie es Sitte war, weißseidene Strümpfe, große Bandschleifen auf den Schuhen und ein Barett, das nur das halbe Haupt bedeckte und nur mit einer kleinen krausen Feder und einem prächtigen Edelstein, einer Verehrung des Kaisers, geschmückt war.

So trat also Dürer plötzlich seinem Pflegesohn entgegen, indem er mit strenger Stimme sprach: »Raphael, Raphael! welchen Unfug treibst du; spiel' nicht vor diesen edlen Fürsten und Herren den Schalksnarren.«

In dem Augenblick trafen Solfaterras und Dürers Blicke zusammen wie funkelnde Schwerter. Solfaterra sprach mit seltsamem Ton: »Der Prunknarr macht mich auch noch nicht tot,« und stolperte fort durchs Gedränge. Dürer[708] schien sich von einer tiefen Bewegung erholen zu müssen, dann wandte er sich zu seiner Umgebung mit den Worten, die den bebenden Lippen mühsam entflohen: »Laßt uns von hinnen gehn, ihr edlen Herren!«


Mag der geneigte Leser es sich gefallen lassen, in das Haus des edlen Patriziers Harsdorfer und zwar in das kleine Zimmer mit dem gotischen Erker geführt zu werden, in dem sich die Alten aufzuhalten pflegten, wenn sie aufgestanden und sich angekleidet hatten.

Beide, Harsdorfer und seine Frau, traten sich nicht, wie sonst, froh und freudig entgegen; vielmehr zeugte die Blässe ihres Antlitzes von der tiefen Bekümmernis, die in ihrem Herzen nagte. Schweigend boten sie sich den Morgengruß, dann ließen sie sich in die schwerfälligen, mit reichem Schnitzwerk verzierten Lehnsessel nieder, die an einem solchen Tische standen, über dem ein reicher grüner Teppich ausgebreitet lag. Frau Emerentia hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und sah in tiefer Bekümmernis vor sich nieder. Herr Harsdorfer schaute, den Arm auf den Tisch gestützt, durch das Erkerfenster in den leeren Himmelsraum.

So hatten die Alten eine Weile gesessen, als Herr Harsdorfer endlich leise sprach: »Emerentia, warum sind wir so traurig?«

»Ach,« erwiderte Frau Emerentia, indem sie die Tränen, die ihr in die Augen traten, nicht mehr zurückhalten konnte, »ach! Melchior, ich habe dich die ganze Nacht hindurch seufzen und leise beten gehört und mit dir geseufzt und gebetet. Unsre arme Tochter Mathilde.«

»Sie ist,« sprach Harsdorfer mit mehr wehmütigem als strengem Ton, »sie ist von einer heftigen, verderblichen Leidenschaft befangen worden, die wie ein böses Gift an ihrem Innern zehrt. Mag mich die Gnade des Himmels erleuchten und mir Mittel an die Hand geben, das arme Kind dem Verderben zu entreißen, ohne es selbst zu verderben.[709] Du weißt, Emerentia, mir stünde allenfalls die Gewalt zu Gebote; ich könnte den unbesonnenen Jüngling fortschaffen. Ich könnte –«

»Um Gott,« fiel die Frau ihm in die Rede, »Melchior, du bist alles dessen nicht fähig; denke an Dürer, denke an Mathilde, deren Herz du zerfleischest; und sage selbst, Melchior, ob das arme liebe Kind nicht zu entschuldigen. Als ein unglücklicher Zufall den Jüngling in unser Haus führte, war er nicht die Liebenswürdigkeit selbst? Welche Sanftmut im Betragen, welche Zartheit in dem Beachten aller der kleinen Aufmerksamkeiten, die das jungfräuliche Herz nur zu leicht bestricken. Raphael ist in jeder Hinsicht ein außerordentlicher Mensch, und darf er an Kraft und Schönheit dem Erzengel verglichen werden, so verdient sein auserlesener Verstand und sein hoher vortrefflicher Geist in einem solchen schönen Hause zu wohnen. Wahr ist's, sein wildes, ungezähmtes Temperament reißt ihn zu tollen, übermütigen Streichen hin. Aber hast du, Vater, jemals von einer wirklich nur schlimmen Tat vernommen, die Raphael verübt haben soll? Vielleicht ist doch Raphael ein guter Mensch.« –

»In der Tat,« nahm Harsdorfer das Wort, indem er sanft lächelte, »in der Tat, du verteidigst den wilden Raphael mit so vieler weiblicher Geschicklichkeit, daß es nur not täte, ihm unsere Mathilde in die Arme zu werfen.«

»Mitnichten,« erwiderte Frau Emerentia, »mit Schrecken denke ich daran, daß es möglich sein sollte, die Tochter dem ausgelassenen Jüngling aufzuopfern. Raphaels Temperament gleicht einem klaren Bach, der zwischen anmutigen Wiesenflecken dahinplätschert und vorbeifließend jede Blume liebkoset. Doch peitscht ihn der wilde Sturm, so brausen seine Wellen hoch empor; er wird zum wilden Waldstrom, reißt alles schonungslos mit sich fort und schont selbst der geliebten Blumen nicht.«

»Ei,« sprach Herr Harsdorfer mit etwas spitzem Ton, »das ganze schöne Gleichnis, das jedem Meistersänger[710] Ehre machen würde, hast du wohl dem Herrn Doktor Mathias Salmasius zu verdanken.«

»O!« sprach Frau Emerentia weiter, »o glaube, Vater, daß auch eine einfache Matrone, ist sie Mutter, in diesem Gefühl außer sich selbst hinausschreiten und ein anderes Wesen werden kann. Laß es mich dir mit einem andern Gleichnis sagen, daß Mathildens stille Sanftmut nur wie eine dünne Eisdecke über einer stets zehrenden Feuerglut liegt, die jeden Augenblick brechen kann. Die größte Gefahr führt Mathildens grenzenlose Liebe herbei. Doch eine leise Hoffnung ist mir gestern bei dem ärgerlichen Vorfall auf der Hallerwiese aufgegangen. Zum erstenmal mußte Mathilde Raphaels wildes, bedrohliches Wesen erkennen; ja, ihre züchtige Jungfräulichkeit wurde dadurch unmittelbar schmerzlich berührt. Ein einziges unbesonnenes, selbst bewußtloses Beginnen des Mannes, wodurch die Geliebte verletzt wird, ist ein Fleck am sonnenhellen Himmel der Liebe, der selten wieder verschwindet.

Doch sage, Vater, was tun, was beginnen?« –

»Ernste väterliche Ermahnungen«, sprach Herr Harsdorfer, »sind vorderhand der einzige Damm, den ich diesem reißenden Strom entgegensetzen kann; und wie lange wird's dauern, bis die glühende Leidenschaft wenigstens sich so weit abgekühlt hat, daß der Sinn nur im mindesten der Vernunft sich hinneigt. Doch mich dünkt, ich höre unser liebes Kind mit unserm Morgenimbiß die Treppe heraufschreiten. Sie wird auf unserm kummervollen Gesichte lesen, welche tiefe Sorge sie uns verursacht.«

In der Tat öffnete sich die Türe, und herein trat das liebe Kind mit einem silbernen, sauber gearbeiteten Teller, auf dem zwei hohe mit edlem Wein gefüllte Gläser standen. Auf einem kleinern Teller lag etwas Backwerk, das so frisch und appetitlich aussah, wie man es in Nürnberg nicht anders findet.

Die Totenblässe des Antlitzes, die verweinten Augen[711] zeugten hinlänglich von dem bittern Kampf in Mathildens Innern. Doch war ihr ganzes Wesen gefaßt, und nur mit mehr Rührung bot sie den lieben Eltern den Morgengruß, indem sie ihre Hände küßte. Der alte Harsdorfer, Mathilden im höchsten jugendlichen Liebreiz vor ihm stehen, mit hängendem Köpfchen, wie ein krankes Täublein die Arme hinunterhängen, mit beiden Händen ein Schnupftuch zusammendrücken sehend, schien in der Tat verlegen, wie er seine Rede beginnen sollte.

»Nun,« sprach er mit bitterm Ernst, »nun weiß man doch in dem guten Nürnberg, wen der wilde Raphael zu seiner Liebsten erkoren. Sollen bald die Brautjungfern den Kranz flechten?« »Ach, Vater!« erwiderte Mathilde, »verletzt nicht noch dies wunde, blutende Herz durch bittere Reden, die wie scharfe Stacheln nur zu tief eindringen. Der gestrige Auftritt hat mein ganzes inneres Wesen empört, alle jungfräuliche Scham mir aufgeregt. Es ist, als könne ich mein Zimmer nicht mehr verlassen, nicht mehr über die Straße gehn, als müßte ich mich im tiefsten Winkel verbergen, um nur nicht den höhnenden Spott auf den Gesichtern der Jungfrauen und Frauen zu sehen. Aber, Vater, warum mir die Vorwürfe, bin ich denn schuld an der Verirrung des Jünglings?«

»Mathilde,« sprach Herr Harsdorfer weiter, »der roheste, in Liebe befangene Jüngling wird es kaum wagen, wenigstens unter solchen Umständen, wie sie sich gestern auf der Hallerwiese gestalteten, einer Jungfrau auf die Art in den Weg zu treten, wenn er in ihrem Betragen nicht irgendeinen Anlaß, irgendeine Entschuldigung fand. Mathilde, du bist in Liebe zu dem unbesonnenen Jüngling, und nur zu leichtsinnig wirst du ihm schon längst die innere Stimmung verraten haben.«

»O Gott!« rief Mathilde schluchzend, indem sie die schönen Augen, die voller Tränen standen, gen Himmel erhob, wie eine zu der ewigen Macht des Himmels flehende Heilige. »Armes Kind,« lispelte Frau Emerentia für[712] sich, indem sie etwas Wein zu sich nahm, in den ihre Tränen tröpfelten. Herr Harsdorfer, als ein fester Mann seine Fassung erhaltend, sprach nun mit mildem Ernst und einem Ton, dessen halbunterdrückte Wehmut die höchste Zärtlichkeit für das liebe Kind sowie den unsäglichen Schmerz aussprach, den er in diesem Augenblick erlitt:

»Mein teures geliebtes Kind Mathilde, sehr würdest du irren, wenn du glauben solltest, daß deine so schnell erglühte Liebe zu dem wilden Raphael mich in Zorn versetzt hat. Raphael ist ein geistreicher Mensch, dessen Kunsttalent groß und ungewöhnlich zu nennen. Schon jetzt setzen seine Skizzen jedermann in Erstaunen, und Dürers Ausspruch, daß der Jüngling auf jeden Fall ein großer, vielleicht der größte Maler seines Zeitalters werden würde, kann und wird sich bewähren. Du kennst mich, mein teures Kind, und weißt daher, daß dies Talent das schönste Adelsdiplom ist, womit ich meinen Eidam bekleidet wünsche; bürgerliche Verhältnisse würden also deiner Liebe niemals ein Hindernis sein. Doch hier handelt es sich von etwas Wichtigerem.

Mathilde, du stehst an einem Abgrunde, ohne es zu ahnen. Der arglistige Verführer der Menschen selbst streckt seine Krallen nach dir aus und sucht dich zu verderben. Mathilde, sammle deinen Sinn und gib väterlichen Ermahnungen Gehör, die dich auf den rechten Weg zurückbringen werden. So wie Raphael sich dir bis jetzt in der Ferne und – vielleicht auch näher –« Die letzten Worte sprach Herr Harsdorfer mit Nachdruck, indem er einen scharfen Blick auf Mathilden heftete, so daß Mathilde, ganz Purpur, die Augen niederschlug, das Sacktuch wacker zwischen den kleinen Händchen zerknillte.

»Also,« fuhr Herr Harsdorfer, der einen Augenblick innegehalten, ernster und strenger fort, »also und auch näher zeigte – konntest du unmöglich jene bedrohlichen Untiefen seines Wesens gewahren, die den gewissen Untergang jedem Weibe bereiten, das sich ihm ergibt, und ihn[713] selbst zuletzt verderben werden. Seine Leidenschaftlichkeit überschreitet alle Grenzen der Vernunft, sein Jähzorn scheut kein Verbrechen. – Wollt' er nicht noch gestern den Freund meuchlings ermorden, und lag es an ihm, daß der Mord nicht wirklich geschah?«

»Bastard schimpfte ihn der Ruchlose mitten unter allem Volk.« Diese Worte schob Mathilde ganz leise dazwischen.

»Aber,« sprach Herr Harsdorfer weiter, indem er tat, als habe er Mathildens Worte gar nicht vernommen, »aber an dir selbst hat nun sein bedrohliches Wesen sich offenbart. Du siehst die Gefahr ein, der du leichtsinnig dich hinopfern willst. In den Fabeln wird erzählt, daß Untiere in glänzendem Gefieder mit reizender Sirenenstimme den Menschen so verlocken, daß er [ihnen] als ihr Eigen an die Brust fällt, um ihn dann desto gewisser ohne Widerstand zu verschlingen; so ist's mit Raphael.

Doch, mein liebes Kind, der erste große Schritt ist geschehn; unverzeihlich hat sich Raphael gegen dich benommen, und hierin findest du den ersten und fürnehmsten Grund, deine Leidenschaft zu bekämpfen. Du bist ein tugendhaftes, frommzüchtiges Kind, und so wird dir der Sieg leicht werden. Ja, mein liebes teures Kind, du hast recht, nicht verzeihen magst, kannst du dem wilden Jüngling, was er tat.«

»O Gott!« rief Mathilde, »ich habe ihm ja längst verziehen.«

Herr Harsdorfer erschrak über diesen ihm allein unerwarteten Ausbruch Mathildens dermaßen, daß er das Glas Wein, welches schon seine Lippen berührten, wieder absetzte. Frau Emerentia schaute ihn aber an mit einem Blick, welcher deutlich sprach: »Hättest du wohl etwas anders ahnen können?«

Ohne der Eltern Rede weiter abzuwarten, begann Mathilde mit steigender Leidenschaft: »O Gott, liebe Eltern, was mein Raphael getan, die Engel im Himmel werden ihn rein erscheinen lassen; denn nur durch schwarzen[714] Flor blickt wie ein prachtvoller Stern sein edles, herrliches Gemüt.

Als der übermütige Holzschuer ihn bis auf den Tod beleidigte – ihr müßt wissen, meine teure Eltern, daß der Mensch, der meinen Raphael um alles beneidet, ihm den Vorwurf macht, nicht auf rechtmäßige Weise geboren zu sein, weil seine Eltern nur durch die katholische Kirche vereinigt sind. Freilich, als er ihn nun überwältigt, als er das Mordmesser zog – o! das böse, böse Messer – wie oft habe ich – –« Mathilde stockte und drückte mit beiden Händen das Taschentuch vors Gesicht, indem sie vor zurückgehaltenen Tränen ersticken zu wollen schien.

Herr Harsdorfer sowohl als Frau Emerentia ließen das Kind gewähren, indem sie einen Ausbruch der bittersten Reue und Zerknirschung erwarteten. Herr Harsdorfer glaubte diesem Ausbruch der Reue einen leichten Durchgang verschaffen zu müssen vermöge ruhiger, bedächtiger Worte.

»Im,« sprach er, »im steten Andenken an Raphaels durchaus ärgerliches Beginnen auf der Hallerwiese wird er, indem du ihn nicht wieder siehst, dir immer gleichgültiger werden und zuletzt deine Liebe zu ihm erlöschen.«

»O Gott!« schrie Mathilde mehr, als sie sprach, »was sagt Ihr, Vater, was sagt Ihr, ich ihn nicht mehr lieben, ihn, in dem meine Seele lebt, der mein Alles, mein ganzes Dasein ist. Jeder Tropfen meines Herzbluts quillt in seiner Brust – er ist der belebende Funke meines ganzen Wesens – ohne ihn alles tot und starr – mit ihm alle Himmelsseligkeit und Wonne. Und so lebe ich auch in meines Raphaels Brust. Ha! so geliebt zu sein! – so geliebt zu sein! –

Als er mich auf der Hallerwiese erblickte – da loderten hell die Liebesfunken, und von seinen Lippen strömte in himmlischer Begeisterung ein Lied. – Ha, welch ein Lied! Die ältesten Meister nickten ihm Beifall zu – allen schwoll die Brust beim Gesange meines Raphaels – und[715] als er nun den Preis des Sängers zu erwerben rang – o Gott! das Lied strömte wie Feuer durch meine Adern – den Jünglingen pochte das Herz – und die Jungfrauen – vergebens suchten sie es zu bergen, wie sie mich um meine Liebe neideten – während der Mund sich zum spöttischen Lächeln verzog, standen Tränen der Sehnsucht ihnen in den Augen – während sie den Jüngling verdammten, fühlte jede selbst den Himmel an meiner Stelle! Ihn lassen, ihn nicht mehr lieben, meinen Raphael, nein, nimmermehr – bis zum letzten Lebenshauch ist er mein! bleibt er mein! – mein! – mein! – mein!«

»So gewahr' ich denn,« sprach der alte Harsdorfer, indem er sich zornig von seinem Sitze erhob, »so gewahr' ich denn, daß der Geist des Bösen, der sein Wesen treibt in des wilden Jünglings verderblichem Beginnen, schon Macht gewonnen über dich. Ha, entartetes Kind, hat jemals das Blut in verderblicher Wollust gegärt in den Adern deiner Mutter, die in den Jahren, wenn das Liebesfeuer am höchsten wallt, die Zucht und spröde Jungfräulichkeit selbst war? Sind jemals Worte über ihre Lippen gekommen, wie sie von den deinigen strömen? Doch gehe hin, Verworfene, du hast keinen Vater mehr, geh hin, flieh mit ihm, denn gewiß brütet ein solcher Anschlag der Hölle schon längst in dem Gehirn des Bösewichts, der dir nachstellt; ende im Elend und tiefer Schmach.«

»Nein,« rief Frau Emerentia, die in Tränen ganz gebadet war, »nein, Vater, das kann, das wird unser frommes Kind nicht; nur Verblendung ist es. Doch nein, sie liebt wohl Raphael wirklich, aber kann sie darum Vater und Mutter lassen?«

»Nimmermehr, lieber sterben,« schluchzte Mathilde.

Herr Harsdorfer sah in diesem Augenblick ein, daß er gegen Mathilde zu hart gewesen, und der rührende Anblick der beiden, ganz schmerzaufgelösten Weiber gab diesem Gedanken noch das gehörige Gewicht. Er hob Mathilden, die vor ihm niedergestürzt war, sanft in die Höhe,[716] strich ihr die niedergefallenen Locken von der Lilienstirn und sprach sanft, beinahe wehmütig: »Fasse dich, mein liebes Kind, vielleicht ist es nur ein feindseliger Augenblick, der dich dich selbst verleugnen ließ.«

Mathilde, plötzlich ganz gefaßt, keine Tränen in den trocknen Augen, starrte den Herrn Harsdorfer an mit seltsamem Blick und fragte mit dumpfem Ton: »Habt Ihr mir, Vater, vielleicht eine böse Untat verschwiegen, die Raphael beging, so entdeckt sie mir jetzt; denn bei Gott, Vater, nichts habt Ihr vorbringen können, was meinen Raphael als einen verbrecherischen Menschen darstellen sollte, der meiner Liebe unwürdig.« – Herr Harsdorfer schien etwas betreten. »Geh,« sprach er endlich, »geh, mein liebes Kind, schiebe dir das kleine Taburett heran und nimm Platz zwischen deinen Eltern.«

Der geneigte Leser, der Sinn hat für die edle Malerkunst, dem sich aus einer Erzählung mannigfache Gruppen bilden, findet hier Gelegenheit, sich ein kleines, gar anmutiges Kabinettsstück vor Augen zu bringen. Denn anmutig darf es genannt werden, wie die bildhübsche schlankgewachsene Mathilde in der zierlichsten Morgenkleidung Platz genommen zwischen den beiden Alten, auf ihre Rede horchend. Auch darf nicht die gute Staffage der Polsterstühle, des Taburetts und des Tisches mit dem appetitlichen Morgenimbiß vergessen werden. –

»Um dir,« begann nun der alte Harsdorfer, »um dir, mein liebes gutes Kind, klar vor Augen zu stellen, wie mein Vorurteil gegen Raphael auf eine Schlußfolge begründet ist, deren Untrüglichkeit die Welterfahrung längst bewährt hat, muß ich dir von Raphaels unglücklichem Vater, dem verworfenen Dietrich Irmshöfer, mehr erzählen.

So wie Dürers Vater war Irmshöfers Vater ebenfalls ein Goldschmied und beide Alten, wie man zu sagen pflegt, gute Kumpane. Beide Knaben sollten die Kunst der Väter erlernen. Bald aber erwachte in beiden ein entschiedener[717] Hang zur Malerkunst, und es zeigte sich schon zu der Zeit Irmshöfers heftiger wilder Sinn, daß er nicht, wie Albrecht Dürer, in Nebenstunden seiner Neigung mit Liebe und Fleiß nachhing, sondern an einem guten Tage alles Handwerkszeug beiseite warf, zu seinem alten Vater lief und erklärte, er wolle sogleich in alle Welt gehen, wenn er ihn nicht augenblicklich zu einem Maler in die Lehre täte. Beide Knaben sollten sich nun nach Kolmar zum wackern Martin Schön begeben. Der war aber indessen gestorben, und beide Knaben kamen zum alten Wohlgemuth.

Hier war es nun, wo in beiden sich bald ein reicher Schacht der vorzüglichsten Gaben auftat. Die Arbeiten der Jünglinge erregten das Erstaunen des Meisters. Die gänzliche Verschiedenheit ihres ganzen Wesens trat aber auch schon jetzt entschiedener vor, und mit nicht geringem Kummer gewahrte der alte fromme Wohlgemuth, daß zwar Albrecht den Geist der Kunst mit jener frommen Liebe erfaßte, die in dem Innern der alten deutschen Meister lebt; Dietrich dagegen, von einem seltsamen Geist getrieben, nichts in der Malerei wollte als höchste, treueste Nachahmung der sinnlichen Erscheinung; so gaben doch insgemein die gewählten Gegenstände einen nicht geringen Anstoß, da sie der heidnischen Fabelwelt entnommen und den Makel weltlicher Lust, die nichts Höheres will als die Lust, an sich trugen.

Zu dem schalten die Meister noch die Unrichtigkeit der Zeichnung. Albrecht Dürers frommer Sinn beschäftigte sich mit Gegenständen der Religion, und sein hoher, alles überwiegender Geist – ein Talent, das zu der Zeit kaum auf Erden zu finden – offenbarte sich in einer Wahrheit des Ausdrucks, der Farbengebung, in einer Natürlichkeit der Stellungen, die alles hinreißen und seinen Bildern jene eigentümliche Anziehungskraft geben mußte, die tief in die Seele des Beschauers eindringt. Die Wahrheit des Ausdrucks erhob auch die Bildnisse der[718] Bürgermeister oder anderer Personen, welche er abkonterfeite, zu Meisterstücken der Kunst, die die allgemeine Bewunderung erregten.

Wurde nun Albrecht Dürer hoch gepriesen und gelobt, so ging's dagegen seinem Kameraden Dietrich desto schlechter, an dessen Gemälden zuletzt nicht einmal das wirklich Lobenswürdige gelobt, sondern das Ganze mit dem Ausdruck ›Stümperarbeit‹ verworfen wurde.

Da entzündete sich in der Brust des Jünglings zum wütendsten Haß der Groll, der schon in des Knaben Busen gelegen, und jeder Tag, jede Stunde entwickelte eine Menge der durchdachtesten Bosheiten, die gegen Dürer gerichtet waren und oft nur zu sicher, nur zu verderblich trafen.

Erlaß es mir, mein Kind, dir die Reihe solcher Bosheiten aufzustellen. Das Gemälde, wie Bösewichter es anfangen, einem großen tugendhaften Mann zu schaden, würde dein reines Gemüt nur verletzen, und es bedarf dessen nicht.

Dürer bekämpfte den Haß seines Kameraden, so wie es in seiner schönen Seele lag, mit zuvorkommender Liebe und schien wirklich wieder etwas über das starre Gemüt zu gewinnen. Doch alles änderte sich, alle gute Aussicht ging verloren, als ein italienischer Maler, namens Solfaterra, mit einer ansehnlichen Sammlung italischer Gemälde nach Nürnberg kam.

Von diesem Augenblick war Dietrich wie vom Wahnsinn ergriffen; er sah und hörte nichts als italische Kunst; und üppige Bilder erfüllten seine Einbildungskraft. Doch noch Schlimmeres als dies.

Solfaterra war ein verworfener, allen bösen Lüsten, allen Verbrechen ergebener Mensch, und mit ihm ergab sich der unglückliche Dietrich dem Laster mit aller Wut, die in dem gärenden Blute kochte. Dabei teilte Solfaterra den Haß Dietrichs gegen Dürer schon darum, weil ein sündhaftes Gemüt Ärgernis nimmt an dem frommen[719] Sinne, der Werke schafft, die aus dem Gemüte kommen und zum Gemüte strömen. Man sagt, Solfaterra habe dem jungen Albrecht nach dem Leben getrachtet.

Doch nun, Mathilde, meine herzliebe Tochter Mathilde, horche wohl auf, was die Stimme des Schicksals zu deinen Eltern, zu dir so warnend spricht, daß es sündlicher Frevel wäre, ihrer nicht zu achten.

Raphael ist seines Vaters treues Ebenbild. Ebenso wie dieser war jener mit allen geistigen und körperlichen Vorzügen des vollendetsten Jünglings geschmückt. Ebenso wie jener übt er die verführerische Kraft des Satans selbst über die Jungfrauen – ebenso wie du, unglückliche Mathilde, kam die schöne tugendhafte Rosa, des edeln Patriziers Im-Hof einzige Tochter, in flammende Liebe zu dem Verworfenen. Er verführte sie und verschwand mit ihr in dem Augenblick, als der Rat Bübereien und Mordverdachts halber ihn samt dem saubern Solfaterra zur Haft bringen lassen wollte, mit Schande und Schmach bedeckt.

Nach mehrerer Zeit stieß ein Nürnberger Kaufmann, der sich gerade in Neapel befand, auf ein Bettelweib, die lang ausgestreckt auf den Marmorstufen der Kirche des heiligen Januar lag, und der mühsam von einem bildschönen, fünf- bis sechsjährigen Knaben Klostersuppe eingeflößt wurde.

Das Bettelweib war ein Weib des tiefsten Jammers und Elends, und der Tod hatte bereits ihre Lippen gebleicht. Der Knabe sprach zur Verwunderung des Kaufmanns deutsch, und in wenigen Worten hatte er die Geschichte ihres Verderbens erfahren.

Der Vater, ein Maler, hatte Weib und Kind am fremden Orte hilflos verlassen. Bei der Frau kam alle Hilfe zu spät; sie verschied nach wenigen Augenblicken und wurde von den Klosterknechten weggebracht. Den Knaben nahm der Kaufmann mit nach Nürnberg. Der Maler, welcher Weib und Kind verlassen, war aber Dietrich Irmshöfer – das Bettelweib Rosa.« –«[720]

Mit einem krampfhaften Schrei fuhr Mathilde von ihrem Taburett auf. In dem Augenblick ging indessen die Türe auf, und Herr Doktor Mathias Salmasius trat herein.

Das Gespräch wandte sich, und was nun verhandelt wurde, soll der geneigte Leser bald so viel erfahren, als es der Geschichte frommt.

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 699-721.
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