Achtes Kapitel

[544] Also! – vor Entsetzen erstarrt, in den Boden festgewurzelt, standen die beiden Doppeltgänger sich gegenüber. Eine dumpfe Gewitterschwüle lag auf der ganzen Versammlung, jeder fragte im Herzen: »Welcher von beiden ist der Fürst?«

Der Graf von Törny brach zuerst das Stillschweigen, indem er dem Jüngling, der der Fürstin gefolgt, entgegentrat und wie in schmerzlicher Wonne rief: »Mein Sohn!« –

Da blitzten die Augen der Fürstin von strahlendem Feuer, und sie sprach mit niederschmetternder Hoheit: »Dein Sohn, Graf Törny? – Und wer ist der, der neben dir steht? – Der Räuber eines Throns, der diesem gebührt, der an meiner Brust gelegen?«

Fürst Isidorus wandte sich an die Versammlung und meinte, daß, da über die Person des jungen Fürsten und Thronfolgers vollkommene Ungewißheit herrsche, so sei es natürlich, daß weder der eine noch der andere der beiden Prätendenten den Thron besteigen könne, vielmehr werde es darauf ankommen, wer von beiden seine rechtmäßige Geburt am besten und glaubhaftesten ausführen werde.[544]

Einer solchen Ausführung, versicherte der Graf von Törny, bedürfe es ganz und gar nicht, da er imstande sei, in wenigen Minuten die Versammlung davon zu überzeugen, daß sein Zögling der Sohn des verstorbenen Fürsten Remigius, mithin dessen rechtmäßiger Thronfolger sei.

Das, was der Graf von Törny der Versammlung jetzt vortrug, bestand in folgendem:

Zu sehr war die vertrauteste Dienerschaft des Fürsten Remigius dem Grafen ergeben, als daß dieser nicht von dem Entschluß des Fürsten unterrichtet sein, ja nicht den Augenblick hätte wissen sollen, der zur Fortschaffung der Fürstin und ihres Kindes bestimmt worden. Der Graf übersah die Gefahr, in die der Thronerbe geriet, die Verwirrung, die vielleicht künftig die Ähnlichkeit des Kindes mit dem seinigen veranlassen, das Unglück, welches nach dem Tode des Fürsten einbrechen konnte. Er beschloß allem vorzubeugen.

Es gelang ihm in später Nacht in Begleitung zweier vertrauter Räte, des Vorstehers des geheimen Archivs, des Leibdoktors, des Wundarztes und eines alten Kammerdieners in das Vorzimmer der Fürstin zu gelangen. Die alte, ebenfalls ins Vertrauen gezogene Wärterin brachte das Kind herbei, während die Fürstin eingeschlummert; diesem, das in einem durch narkotische Mittel hervorgebrachten Schlaf lag, wurde nun von dem Wundarzt ein kleines Zeichen auf die linke Brust gebrannt, dann nahm es der Graf Törny und übergab der Wärterin sein eignes Kind. Über den ganzen Hergang der Sache wurde ein genauer Akt aufgenommen und derselbe, dem eine Abbildung des eingebrannten Zeichens beigefügt, von allen gegenwärtigen Personen unterschrieben und besiegelt, dem Archivarius übergeben zur Aufbewahrung im geheimen fürstlichen Archiv.

So geschah es, daß der Sohn des Grafen Törny mit der Fürstin fortgebracht und der junge Fürst von dem Grafen[545] von Törny auferzogen wurde, für seinen Sohn geltend.

Die Gräfin, niedergebeugt von Gram, trostlos über das heillose Geschick ihrer Herzensfreundin, starb bald nach ihrer Ankunft in der Schweiz.

Von den Personen, die damals bei dem Akt gegenwärtig gewesen waren, lebten noch der Wundarzt, der Archivarius, die Wärterin und der Kammerdiener; auf Graf Törnys Veranstaltung hatten sich alle eingefunden auf dem Schlosse.

Der Archivarius brachte nun den Akt herbei, der im Beisein der vorhin genannten Personen geöffnet und von dem Präsidenten des Staatsrats laut verlesen wurde.

Der junge Fürst entblößte die Brust, das Zeichen wurde gefunden, jeder Zweifel war gehoben, und heiße Segenswünsche ertönten aus der Brust der treusten Vasallen.

Mit dem Ausdruck des tiefsten Ingrimms hatte sich Fürst Isidor entfernt, während der Akt verlesen wurde. – Als nun die Fürstin sich allein befand mit dem Grafen von Törny und den beiden Jünglingen, da war es, als wollte ihre Brust zerspringen, nicht mehr vermögend, den Sturm der mannigfachsten Gefühle zu bergen. Ungestüm warf sie sich an die Brust des Grafen und rief, wie ganz aufgelöst in schmerzlicher Wonne: »O Törny! dein Kind, deinen Sohn hast du verstoßen, um den zu retten, der unter diesem Herzen lag! – Aber ich bringe ihn dir wieder, den Verlornen! – O Törny, wir gehören nicht mehr der Erde an, kein irdischer Gram hat hinfort Macht über uns! – Laß uns die Ruhe, die Seligkeit des Himmels genießen! – Über uns schwebt sein versöhnter Geist! – Doch was vergaß ich! – sie harrt, sie harrt, die selige Braut!« –

Damit ging die Fürstin in ein Nebenzimmer und kam zurück mit der bräutlich geschmückten Natalie. Keines Wortes mächtig, hatten sich bis jetzt die Jünglinge angestarrt mit Blicken, in denen sich ein unheimliches[546] Grauen abspiegelte. In dem Augenblick, als die Jünglinge Natalien erblickten, schien ein zündender Blitzstrahl sie zu beleben; mit dem lauten Ausruf: »Natalie!« stürzten sie beide los auf das holde Engelskind. Aber auch Natalien faßte tiefes Entsetzen, als sie die beiden Jünglinge gewahrte, ein Doppeltbild des Geliebten, den sie im Herzen getragen.

»Ha!« rief nun wild der junge Törny, »ha! Fürst, bist du, du der Hölle entstiegene Doppeltgänger, der mir mein Ich gestohlen, der mir Natalien zu rauben, der mir das Leben aus der zerfleischten Brust zu reißen trachtet? – Eitler, wahnsinniger Gedanke! Sie ist mein, mein!«

Darauf der junge Fürst: »Was drängst du dich in mein Ich? – Was habe ich mit dir zu schaffen, daß du mich äffst mit meinem Antlitz, mit meiner Gestalt! – Fort! hinweg – mein ist Natalie!«

»Entscheide, Natalie!« schrie nun Törny, »sprich – schworst du nicht Treue mir tausendmal in jenen seligen Stunden, als ich dich malte, als« – »Ha,« unterbrach ihn der Fürst, »gedenke jener Stunde in dem verfallnen Schloß, als du mir folgen wolltest« – und nun riefen beide wild durcheinander: »Entscheide, Natalie, entscheide,« und dann einer wieder zum andern: »Laß sehen, wem es gelingt, sich den Doppeltgänger vom Halse zu schaffen – bluten, bluten sollst du, bist du kein satanisches Trugbild der Hölle!«

Da rief Natalie im Jammerton trostloser Verzweiflung: »Gerechter Gott! wer ist es, wer von beiden, den ich liebe? – Ist dies Herz zerspalten und kann doch leben? – Gerechter Gott – laß mich sterben, sterben in diesem Augenblick!« – Tränen erstickten ihre Stimme. – Dann beugte sie das Haupt, hielt beide Hände vors Gesicht, es war, als ob sie hineinschauen wollte in ihre eigne innerste Brust. Dann sank sie nieder auf die Knie, erhob den tränenschweren Blick, die gefalteten Hände, wie brünstig betend, und sprach leise, mit dem[547] Ton der innigsten herzdurchbohrendsten Wehmut: »Entsaget!«

»Es ist,« sprach die Fürstin mit verklärter Begeisterung, »es ist der Engel des ewigen Lichts selbst, der zu euch spricht.«

Noch starrten sich die Jünglinge an, wilde Flammen im Blick – da quoll plötzlich ein Tränenstrom ihnen aus den Augen, sie fielen sich in die Arme, sie drückten sich an die Brust, sie stammelten: »Ja! – entsagen – entsagen – vergiß – vergib mir, Bruder!« – dann der Fürst zum jungen Törny: »Um meinetwillen verstieß dich der Vater – um meinetwillen hast du gelitten – ja, ich entsage!« – Dann der junge Törny zum Fürsten: »Was ist meine Entsagung gegen die deine! – Ja, du, du warst es, du der Fürst des Landes, dem die Prinzessin bestimmt.« –

»Habe Dank,« rief Natalie, »habe Dank, o ewige Macht des Himmels, es ist vorüber!« – Dann drückte sie den Abschiedskuß auf die Stirne beider Jünglinge und entfernte sich wankend, auf der Fürstin Arm gestützt. –

»Ich verliere dich aufs neue,« sprach der Graf Törny mit tiefem Schmerz, als der Sohn fort wollte. »Vater,« rief dieser, »Vater, laß mir Zeit, laß mir Freiheit, daß ich nicht untergehe, daß dieses zerrissene Herz gesunde!« – Damit umarmte er schweigend nochmals den Fürsten, den Vater und eilte schnell davon. – –

Natalie begab sich in ein weit entferntes Fräuleinstift, dessen Äbtissin sie wurde. Die Fürstin, in ihren letzten Hoffnungen getäuscht, ließ das Grenzschloß, in dem sie sonst gefangen, bequem einrichten und wählte es zu ihrem einsamen Aufenthalt. Graf Törny blieb bei dem Fürsten. Beide sahen es gern, daß Fürst Isidor wieder außer Landes gegangen.


Ganz Hohenflüh war berauscht in Jubel und Freude. Die Tischlerzunft, unterstützt von würdigen Zimmerleuten, kletterte an der stattlichen Ehrenpforte, jede Gefahr[548] verhöhnend, hin und her und klopfte und hämmerte rüstig darauf los, während die Maler, jeden Augenblick des Losstreichens gewärtig, in den Farbentöpfen rührten und die Gärtnerburschen unabsehbare Kränze flochten von Taxus und buntleuchtenden Blumen. Die Waisenknaben standen schon, in die Sonntagskleider gepreßt, auf dem Markt, die Schuljugend plärrte: »Heil dir im Siegerkranz«, als Vorübung, dazwischen schrie dann und wann eine Trompete, wie die Heiserkeit ausräuspernd, und der ganze Mädchenflor gutdenkender Bürger prangte in neugewaschenen Kleidern, während Bürgermeisters Tinchen, allein in weißen knisternden Atlas angetan, Schweißtropfen vergoß, da der junge Kandidat, der zu Hohenflüh der Dichter von Profession, nicht nachließ, ihr die in Versen abgefaßte Anrede an den Fürsten einzustudieren, und dabei keinen einzigen deklamatorischen Effekt vernachlässigt haben wollte.

Arm in Arm gingen die beiden versöhnten Wirte zum »Goldnen Bock« und zum »Silbernen Lamm« die Straße auf und ab, beide sich sonnend in dem Gedanken, daß sie den gnädigsten Landesherrn bewirtet, beide behaglich hinaufschauend zu dem gewaltigen: »Vivat Princeps!«, das eben über ihren Haustüren eingeölt wurde, um abends bei der Illumination mächtig zu flammen. – Man erwartete den Fürsten in wenigen Stunden. –

In Reisekleidern, Reisebündel und Mappe auf dem Rücken, schlich der Maler George Haberland (kein anderer wollte der junge Graf Törny zur Zeit sein) durch das Neudorfer Tor. – »Ha,« rief ihm Berthold entgegen, »herrlich getroffen! – Glück auf, Bruder George! – Ich weiß alles! – Gott sei gedankt, daß du kein regierender Fürst bist, da wäre freilich alles vorbei gewesen. Aus dem Grafen mache ich mir ganz und gar nichts, denn ich weiß, du bist und bleibst Künstler. Und die, die du liebst? – Sie ist kein irdisches Wesens Sie lebt nicht auf der Erde, aber in dir selbst als hohes reines Ideal deiner Kunst, das[549] dich entzündet, das aus deinen Werken die Liebe aushaucht, die über den Sternen thront.« –

»Ha Bruder Berthold,« rief George, indem seine Augen aufstrahlten in himmlischem Feuer, »ha Bruder Berthold, du hast recht, sie – sie selbst ist die Kunst, in der mein ganzes Wesen atmet. – Nichts habe ich verloren und will mich, abgewendet vom Himmlischen, irdischer Schmerz erfassen, mich niederbeugen – du – dein unwandelbar heitres Gemüt –


Freundes Trost, Balsam den Wunden,

Ist noch nicht für mich verhallt!« –


Die Jünglinge zogen weiter fort über die Berge! –[550]

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 544-551.
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