Fünftes Kapitel

[521] Auf den Schwingen des Sturms war das tobende Gewitter schnell entflohn über die Berge, und nur noch aus weiter Ferne zürnte murmelnd der Donner. Die sinkende Sonne blickte feurig durch die dunklen Büsche, die, tausend blinkende Kristalltropfen abschüttelnd, sich wollüstig badeten in den Wogen der lauen Abendluft. – Auf einem von babylonischen Weiden umschlossenen Platz in jenem Park bei Sonsitz, den der geneigte Leser schon kennt, stand der Fürst mit übereinandergeschlagenen Armen wie eingewurzelt und blickte hinauf in das Azur des wolkenlosen Himmels, als wolle er verschwundene Hoffnungen, ein in Gram und Schmerz verlornes Leben herab erflehen. – Da wurde in dem Gebüsch der Gardeoffizier sichtbar, den der Fürst nach Hohenflüh geschickt. Ungeduldig winkte er ihn heran und befahl, den jungen Menschen, dessen Ankunft der Offizier ihm meldete, sogleich vor ihn zu bringen, und sollte man sich dazu eines Tragsessels bedienen. – Es geschah, wie der Fürst geboten.[521]


Sowie der Fürst den Deodatus ins Auge faßte, schien er auf das heftigste bewegt, unwillkürlich entflohen ihm die Worte: »O Gott! – meine Ahnung! – ja – er ist es!«

Deodatus erhob sich langsam und wollte sich dem Fürsten nähern in ehrfurchtsvoller Stellung. »Bleiben Sie,« – rief der Fürst, »bleiben Sie, Sie sind schwach, ermattet, Ihre Wunde ist vielleicht gefährlicher, als Sie glauben – meine Neugierde soll Ihnen auf keine Weise nachteilig sein. – Man bringe zwei Lehnsessel.« –

Alles dieses sprach der Fürst mit halber Stimme, abgebrochen, man merkte, daß er mit Gewalt des Sturms mächtig werden wollte, der in seinem Innern tobte.

Als die Lehnsessel herbeigebracht, als sich auf Geheiß des Fürsten Deodatus in den einen hineingesetzt, als alles sich schon entfernt hatte, ging der Fürst noch immer mit starken Schritten auf und ab. Dann blieb er vor Deodatus stehen, und in dem Blick, mit dem er ihn anschaute, lag der lebendigste Ausdruck des herzzerreißendsten Schmerzes, der tiefsten Wehmut, dann war es, als ginge alles wieder unter in der Glut eines schnell auflodernden Zorns. – Eine unsichtbare Macht schien sich feindlich zu erheben zwischen ihm und Deodatus, und voll Entsetzen, ja voll Abscheu prallte er zurück und schritt wieder heftiger auf und ab, indem er nur halb verstohlen hinblickte nach dem Jüngling, dessen Staunen mit jeder Sekunde stieg, der gar nicht wußte, wie sich ein Auftritt enden werde, der ihm die Brust zuschnürte.

Der Fürst schien sich an Deodatus' Anblick gewöhnen zu müssen, er rückte endlich den Lehnsessel halb abwärts von Deodatus und ließ sich ganz erschöpft darauf nieder. Dann sprach er mit gedämpfter, beinahe weicher Stimme: »Sie sind fremd, mein Herr, Sie betraten als Reisender mein Land. – Was gehen den fremden Fürsten, dessen Ländchen ich durchreise, meine Lebensverhältnisse an? So können Sie fragen – aber Ihnen selbst unbekannt, gibt es vielleicht gewisse Verhältnisse, gewisse geheimnisvolle[522] Beziehungen – doch – genug. – Nehmen Sie mein fürstliches Wort, daß mich nicht leere kindische Neugierde treibt, auch sonst keine unlautere Absicht, aber – ich will, ich muß alles wissen!«

Die letzten Worte sprach der Fürst, im Zorn entflammt, heftig auffahrend von dem Lehnsessel. Doch bald sich besinnend, sich zusammenfassend, ließ er sich aufs neue nieder und sprach so weich wie vorher: »Schenken Sie mir Ihr ganzes Vertrauen, junger Mann, verschweigen Sie mir keines Ihrer Lebensverhältnisse; sagen Sie mir insbesondere, woher und wie Sie nach Hohenflüh kamen, in welcher Art das, was Ihnen in Hohenflüh begegnete, mit früheren Ereignissen in Bezug stand. Vorzüglich wünschte ich genau zu wissen, wie es mit der weisen Frau« –

Der Fürst stockte, dann fuhr er fort – wie sich selbst beschwichtigend: »Es ist tolles, wahnsinniges Zeug – aber eine Ausgeburt der Hölle ist dies Blendwerk oder – nun – sprechen Sie, junger Mann, sprechen Sie frei, kein Geheimnis, keine Lü –«

Eben wollte der Fürst wieder heftig auffahren, er besann sich schnell und sprach das Wort nicht aus, das er auf der Zunge hatte.

Aus der tiefen Bewegung, die der Fürst zu unterdrücken sich vergebens mühte, konnte Deodatus wohl abnehmen, daß es sich hier um Geheimnisse handle, in die der Fürst selbst verflochten und die ihm auf diese oder jene Weise bedrohlich sein müßten.

Deodatus seinerseits fand gar keinen Grund, nicht so aufrichtig zu sein, wie es der Fürst verlangte, und begann von seinem Vater, von seinen Knaben- und Jünglingsjahren, von seinem einsamen Aufenthalt in der Schweiz zu erzählen. Er gedachte ferner, wie ihn der Vater nach Hohenflüh geschickt und ihm in geheimnisvollen Worten angedeutet, daß dort der Wendepunkt seines ganzen Lebens eintreten, daß er selbst zu einer Tat sich angeregt[523] fühlen werde, die über sein Schicksal entscheiden würde. Getreu erzählte er nun weiter alles, was sich mit ihm, mit der weisen Frau, mit dem fremden Grafen in Hohenflüh begeben.

Mehrmals äußerte der Fürst das lebhafteste Erstaunen, ja, er fuhr auf, wie im jähen Schreck, als Deodatus die Namen Natalie – Graf Hektor von Zelies nannte.

Deodatus hatte seine Erzählung geendet, der Fürst schwieg mit niedergebeugtem Haupt, in tiefes Nachdenken versunken, dann erhob er sich, stürzte los auf Deodatus und rief: »Ha, der Verruchte, dieses Herz sollte die Kugel durchbohren, die letzte Hoffnung wollte er töten, dich vernichten – dich, mein –«

Ein Tränenstrom erstickte des Fürsten Worte, er schloß, ganz Wehmut und Schmerz, den Deodatus in seine Arme, drückte ihn heftig an seine Brust.

Doch plötzlich prallte wie vorher der Fürst voll Entsetzen zurück und rief, indem er die geballte Faust emporstreckte: »Fort, fort! Schlange, die sich einnisten will in meiner Brust – fort! Du teuflisches Trugbild, du sollst meine Hoffnung nicht töten, du sollst mir mein Leben nicht verstören!«

Da, rief eine ferne, seltsam dumpfe Stimme:

»Die Hoffnung ist der Tod, das Leben dunkler Mächte grauses Spiel!« und krächzend flatterte ein schwarzer Rabe auf und hinein ins Gebüsch.

Sinnlos stürzte der Fürst zu Boden. Deodatus, zu schwach, ihm beizustehen, rief laut um Hilfe. Der Leibarzt fand den Fürsten vom Schlage getroffen und in dem bedenklichsten Zustande. Deodatus wußte selbst nicht, welches unnennbar schmerzhafte Gefühl des tiefsten Mitleids seine Brust durchdrang, er kniete nieder bei der Tragbahre, auf die man den Fürsten gelegt, er küßte seine welk herabgesunkene Hand und benetzte sie mit heißen Tränen. Der Fürst kam zu sich, die wie zum Tode erstarrten Augen hatten wieder Sehkraft. Er erblickte Deodatus,[524] winkte ihm fort und rief mit bebenden Lippen kaum verständlich: »Weg – weg!«

Deodatus, tief erschüttert von dem Auftritt, der in das Innerste seines Lebens zu dringen schien, fühlte sich der Ohnmacht nahe, und auch seinen Zustand fand der Leibarzt so bedenklich, daß es nicht ratsam war, ihn zurückzubringen nach Hohenflüh.

Habe auch, meinte der Leibarzt, der Fürst den Willen geäußert, daß der junge Mensch sich wegbegeben solle, so könne er doch fürs erste in einem entfernten Flügel des Landhauses untergebracht werden, und es sei gar nicht zu befürchten, daß der Fürst, der wohl in langer Zeit nicht aus dem Zimmer kommen dürfte, seinen Aufenthalt im Landhause erfahren sollte. Deodatus, in der Tat so erschöpft, daß er keines Willens, keines Widerspruchs fähig, ließ es sich gefallen, im Landhause des Fürsten zu bleiben.

War es schon sonst im Landhause still und traurig, so herrschte jetzt bei der Krankheit des Fürsten das Schweigen des Grabes, und Deodatus gewahrte nur dann, wenn ein Diener ihn mit den nötigen Bedürfnissen versorgte oder der Wundarzt ihn besuchte, daß noch außer ihm Menschen im Landhause befindlich. Diese klösterliche Einsamkeit tat indessen dem von allen Seiten bestürmten Deodatus wohl, und er hielt eben das Landhaus des Fürsten für ein Asyl, in das er sich vor dem bedrohlichen Geheimnis, das ihn umgarnen wolle, gerettet.

Dazu kam, daß durch die schmucklose, aber freundliche bequeme Einrichtung der beiden kleinen Zimmer, die er bewohnte, vorzüglich aber durch die herrliche Aussicht, die er genoß, sein Aufenthalt jenen Reiz wohltuender Behaglichkeit erhielt, der das verdüstertste Gemüt aufzuheitern vermag. Er übersah den schönsten Teil des Parks, an dessen Ende auf einem Hügel die malerischen Ruinen eines alten Schlosses lagen. Hinter diesen stiegen die blauen Spitzen des fernen Gebirges empor. –[525]

Deodatus nutzte sogleich die Zeit, als er ruhiger geworden und als ihm der Wundarzt dergleichen Beschäftigung erlaubte, um seinem alten Vater ausführlich zu schreiben, was sich alles mit ihm begeben bis zum letzten Augenblick. Er beschwor ihn, nicht länger zu schweigen über das, was ihm in Hohenflüh bevorgestanden, und ihn so in den Stand zu setzen, seine eigne Lage ganz zu übersehen und sich gegen die Arglist unbekannter Feinde zu rüsten. –

Von dem alten verfallenen Schloß, dessen Ruinen Deodatus aus seinen Fenstern erblickte, stand noch ein kleiner Teil des Hauptgebäudes ziemlich unversehrt da. Dieser Teil schloß sich mit einem herausgebauten Erker, der, da an der andern Seite die Hauptmauer eingestürzt, frei und luftig heraushing wie ein Schwalbennest. Ebendieser Erker war, wie sich Deodatus durch ein Fernrohr überzeugte, mit Gesträuch, das sich aus den Mauerritzen hervorgedrängt, bewachsen, und ebendieses Gesträuch bildete ein Laubdach, welches sich ganz hübsch ausnahm. Deodatus meinte, daß es dort recht wohnlich sein müsse, wiewohl jetzt es unmöglich schien, hinaufzugelangen, da die Treppen eingestürzt. Um so mehr mußte daher Deodatus erstaunen, als er in einer Nacht, da er noch zum Fenster hinausschaute, ganz deutlich ein Licht in jenem Erker bemerkte, das erst nach einer Stunde wieder verschwand. Nicht allein in dieser, sondern auch in den folgenden Nächten gewahrte Deodatus das Licht, und man kann denken, daß der in unerklärliche Geheimnisse verflochtene Jüngling auch hier wieder ein verhängnisvolles Abenteuer vermutete.

Er teilte seine Beobachtung dem Wundarzte mit, der meinte aber, das Erscheinen des Lichts in dem Erker könne seinen natürlichen einfachen Grund haben: Eben in dem unversehrten Teil des Hauptgebäudes, und zwar im Erdgeschoß, wären einige Zimmer für den Förster eingerichtet, der die Aufsicht habe über den fürstlichen Park;[526] könne nun, wie er sich bei dem Beschauen der Ruinen oftmals überzeugt, auch nicht wohl oder wenigstens nicht ohne Gefahr der Erker bestiegen werden, so sei es doch möglich, daß vielleicht die Jägerbursche das Schwalbennest dort oben erklettert, um ihr Wesen ungestört zu treiben.

Deodatus war mit dieser Erklärung durchaus nicht zufrieden, er ahnte lebhaft irgendein Abenteuer, das sich in den Ruinen des Schlosses verborgen.

Der Arzt verstattete ihm endlich, in der Dämmerung den Park zu durchwandern, wobei er aber mit Behutsamkeit jeden Ort vermeiden mußte, der aus den Fenstern des Zimmers, in dem der kranke Fürst befindlich, übersehen werden konnte. Der Fürst war nämlich so weit hergestellt, daß er am Fenster zu sitzen und hinauszuschauen vermochte, seinem Scharfblick wäre Deodatus nicht entgangen, und fort hätte dieser müssen ohne Widerrede. Wenigstens glaubte der Leibarzt bei der Art, wie der Fürst damals mit dem Ausdruck des Abscheues den Jüngling von sich fortwinkte, dies voraussetzen zu müssen.

Deodatus wanderte, als ihm der Arzt Freiheit gegeben, sogleich nach dem verfallnen Schloß. Er traf auf den Förster, der über seine Erscheinung sehr verwundert tat und, als Deodatus ihm des breiteren sagte, wie er hergekommen und wie sich dann alles begeben, ganz unverhohlen meinte, daß die Herren, die ihn ohne Vorwissen des Fürsten einquartiert hätten ins Landhaus, ein gewagtes Spiel spielten. Erführe nämlich der Fürst etwas davon, so könne es sein, daß er fürs erste den jungen Herrn zum Tempel hinauswerfen ließe und alle seine Beschützer hinterher.

Deodatus wünschte den innern, noch unversehrten Teil des Schlosses zu sehen, der Förster versicherte dagegen trocken, daß dies nicht wohl angehe, da jeden Augenblick irgendeine morsche Decke oder sonst ein Stück Mauer einstürzen könne, überdem sei aber die Treppe so verfallen,[527] daß kein sichrer Tritt möglich und man jeden Augenblick Gefahr laufe, den Hals zu brechen. Als nun aber Deodatus dem Förster bemerkte, daß er oftmals Licht im Erker erblickte, da entgegnete dieser im groben barschen Ton, daß das ein einfältiger Irrtum sein müsse und daß der junge Herr auch übrigens wohltun werde, sich um nichts anderes zu kümmern als um sich selbst und auch nicht auf Beobachtungen auszugehen. Er könne dem Himmel danken, daß er, der Förster, Mitleiden mit ihm habe und nicht gleich hinginge und dem Fürsten rein heraussage, wie man gegen seinen strengsten Befehl gehandelt.

Deodatus gewahrte wohl, daß der Förster unter dieser Grobheit ein gewisses verlegenes Wesen zu verstecken sich mühte. Bestätigt fand aber Deodatus die Vermutung, daß ein Geheimnis hier verborgen, als er, über den Schloßhof schreitend, in einem ziemlich verborgenen Winkel des Gemäuers eine schmale hölzerne Freitreppe gewahrte, die neuerbaut und eben in den obern Stock des Hauptgebäudes zu führen schien.

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 521-528.
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