Sechstes Kapitel

[528] Des Fürsten Krankheit, die immer bedenklicher wurde, erregte nicht geringe Bestürzung, nicht geringe Besorgnis. Schon früher erfuhr nämlich der geneigte Leser, daß die Gemahlin des Fürsten nebst dem Kinde, das sie geboren, auf unbegreifliche Weise verschwand. Der Fürst war daher ohne Erben und sein Nachfolger auf dem Thron ein jüngerer Bruder, der sich durch sein übermütiges Betragen, durch lasterhafte Neigungen jeder Art, denen er auf freche Weise frönte, dem Hof und dem Volk verhaßt gemacht hatte. Ein dumpfes Gerücht klagte ihn des freventlichsten Verrats an dem Fürsten an und fand darin die Ursache, daß er sich aus dem Lande entfernen müssen, ohne daß jemand seinen jetzigen verborgenen Aufenthalt kannte.[528]


Die Hohenflüher zerbrachen sich weidlich die Köpfe, wie es denn nun gehen würde, wenn der Fürst gestorben. Sie zitterten vor dem tyrannischen Bruder und wünschten, er läge, wie es schon einmal geheißen, wirklich in dem tiefen Grunde des Meeres.

An der Wirtstafel im »Goldnen Bock« war nun eben von diesen Dingen stark die Rede, jeder sagte seine Meinung, und der bekannte Ratsherr urteilte, ein hochweiser Rat könne ja bei der Regierung der Stadt auch ein wenig die Regierung des Landes mit übernehmen, bis sich das Weitere finde. Ein alter Mann, der, in sich gekehrt, so lange geschwiegen, sprach nun mit dem Ton der tiefsten Rührung: »Welch ein herbes Ungemach trifft unser armes Land; den besten Fürsten erfaßt irgendein unerhörtes Verhängnis und raubt ihm alles Lebensglück, alle Ruhe der Seele, bis er dem entsetzlichen Schmerz erliegt! Wir haben von dem Nachfolger alles zu fürchten, und der einzige Mann, der feststehen wie ein Fels im Meer, der unser Hort, unser Heil sein würde, dieser einzige Mann ist dahin!« –

Jeder wußte, daß der Alte keinen andern meinte als den Grafen von Törny, der bald, nachdem die Fürstin verschwunden, sich vom Hofe entfernte.

Graf Törny war in jeder Hinsicht ein ausgezeichneter Mensch. Mit dem schärfsten Verstande, mit der freien Genialität, die den festen Takt gibt, nur das Richtige zu wollen, und die Kraft, es zu vollbringen, verband er das edelste Gemüt, den regsten Sinn für alles Gute und Schöne. Er war der Beschützer des Unterdrückten, der rastlose Verfolger des Unterdrückers. So mußte es kommen, daß der Graf nicht allein die Liebe des Fürsten, sondern auch die Liebe des Volks gewann, und nur ein sehr kleiner Teil wagte es, dem Gerücht Glauben beizumessen, das ihn als schuldbar darstellte und das, man wußte es, der Bruder des Fürsten, der den Grafen in der tiefsten Seele haßte, auszustreuen sich bemüht hatte. –[529]

Mit einem Munde rief alles an der Wirtstafel: »Graf Törny! – unser edler Graf Törny! – O wäre er noch bei uns in dieser Zeit der Bedrängnis!« –

Man trank auf des Grafen Wohl. Wurde nun weiter von des Fürsten bedenklicher Krankheit gesprochen, die ihn in das Grab bringen könne, so war es natürlich, daß man des jungen Mannes gedachte, in dessen Gegenwart den Fürsten der böse Zufall getroffen hatte.

Der kluge Ratsherr witterte die abscheulichsten Dinge. Es sei gewiß, meinte er, daß der junge Mensch, der töricht genug gewesen, den hochweisen Rat durch zwei diverse Namen über seine Person täuschen zu wollen, ein Spitzbube im höhern Stil gewesen, der Arges im Sinn getragen.

Nicht umsonst habe der Fürst ihn nach Sonsitz und heraus nach dem Landhause bringen lassen, um ihn selbst über allerlei höllische Anschläge zu befragen, und die Artigkeit des Offiziers, der bequeme Wagen, der Leibarzt, alles sei nur Maske gewesen, um den Verbrecher lustig zu erhalten und guter Dinge, damit er alles gleich gestehe. Gewiß würde es dem Fürsten gelungen sein, alles herauszubringen, wenn ihm nicht die kalte nasse Abendluft den Schlagfluß zugezogen und der junge Mensch nicht die Verwirrung benutzt hätte, um schnell zu entfliehen. Er wünschte nur, daß der Taugenichts sich wieder sehen lasse in Hohenflüh, da solle er nicht zum zweitenmal der Gerechtigkeit des hochweisen Rats entrinnen. – Eben hatte der Ratsherr dies gesprochen, als der junge Mann, von dem die Rede, hereintrat, stillschweigend und ernst die Gesellschaft grüßte und sich an die Tafel setzte.

»Schönstens willkommen, bester Herr Haberland,« sprach der Wirt, der des Ratsherrn böse Meinung gar nicht teilen konnte, »schönstens willkommen! – Nun! – Sie dürfen gewiß keine Scheu tragen, sich in Hohenflüh sehen zu lassen?« Der junge Mann schien über des Wirts Anrede sehr befremdet, da setzte sich der kleine dicke[530] Ratsherr in Positur und begann sehr pathetisch: »Mein Herr, ich erkläre Ihnen hiermit« – da faßte ihn aber der junge Mann mit einem scharfen durchdringenden Blick so fest ins Auge, daß er verstummte und unwillkürlich mit einer Verbeugung hinausstotterte: »Ganz gehorsamster Diener!« –

Vielleicht hat der geneigte Leser auch schon die Bemerkung gemacht, daß es Leute gibt, die, faßt man sie scharf ins Auge, sogleich, wie im Gefühl schuldiger Demut, zu grüßen pflegen.

Der junge Mann aß und trank nun, ohne ein Wort zu reden. Auf der ganzen Gesellschaft lag ein schwüles erwartungsvolles Stillschweigen.

Der Alte, der vorhin gesprochen, redete endlich den jungen Menschen an, indem er ihn fragte, ob die Brustwunde, die er im Walde bei Hohenflüh erhalten, schon wieder ganz geheilt sei. Der junge Mann erwiderte, daß man sich in seiner Person irren müsse, da er nie in der Brust verwundet worden.

»Ich verstehe,« fuhr der alte Mann schlau lächelnd fort, »ich verstehe, Herr Haberland, Sie sind wieder völlig hergestellt und wollen von dem unangenehmen Vorfall nicht ferner reden. – Aber da Sie gegenwärtig waren, als unsern guten Fürsten der Schlag traf, so werden Sie uns am besten sagen können, wie sich alles begab und was man von dem Zustande des Fürsten zu hoffen oder zu fürchten hat.«

Der junge Mensch erwiderte, daß derselbe Irrtum auch hier im Spiele sein müsse, da er nie in Sonsitz gewesen, nie den Fürsten Remigius gesehen habe. Indessen sei ihm die Krankheit des Fürsten bekannt geworden, und er wünsche näheres darüber zu erfahren.

Vielleicht, meinte der Alte, wolle oder dürfe der Herr Haberland von seinem Aufenthalt bei dem Fürsten nicht viel sprechen, vielleicht habe auch das Gerücht vieles von dem entstellt, was sich in Sonsitz begeben, so viel sei aber[531] gewiß, daß der Fürst den jungen Mann, der hier verwundet worden und für den er den Herrn Haberland nun einmal halten müsse, nach Sonsitz herausholen lassen und daß ihn bei einem einsamen Gespräch mit diesem jungen Manne im Park der Schlag getroffen. Entfernte Diener hätten auch eine seltsame dumpfe Stimme rufen gehört:

»Die Hoffnung ist der Tod, das Leben dunkler Mächte grauses Spiel!«

Der junge Mensch seufzte tief auf, wechselte die Farbe, alles verriet die tiefste innere Bewegung. Er stürzte schnell einige Gläser Wein hinunter, bestellte eine zweite Flasche und entfernte sich aus dem Zimmer. Die Tafel war geendet, der junge Mensch kam nicht wieder. Der Portier hatte ihn schnell dem Neudorfer Tor zueilen gesehen. Die Bezahlung für das Kuvert lag auf dem Teller.

Nun geriet der Ratsherr in gewaltigen Amtseifer, sprach von Nachsetzen, Steckbriefen etc. Der Alte erinnerte ihn aber an einen gewissen Vorfall, der ihm, als er bei ähnlichem Anlaß eine unzeitige Tätigkeit bewiesen, eine tüchtige Nase von der Landesbehörde zugezogen, und meinte, es möchte wohl besser sein, sich um den jungen Mann gar nicht weiter zu kümmern und die Sache ruhen zu lassen.

Die ganze Gesellschaft stimmte dieser Meinung bei, und der Ratsherr ließ wirklich die Sache ruhen. –

Während sich dies in Hohenflüh begab, war Haberlands Doppeltgänger, der junge Deodatus Schwendy, in einen neuen Zauberkreis bedrohlicher Abenteuer geraten.

Mit magischer Gewalt hatte es ihn immer hingezogen nach dem verfallenen Schlosse.

Als er einst, da es schon dämmerte, vor dem geheimnisvollen Erker stand und mit einer Sehnsucht, die er selbst nicht zu deuten wußte, hinaufblickte nach den erblindeten Fenstern, war es ihm, als gewahre er eine weiße Gestalt,[532] und in demselben Augenblick fiel auch ein Stein zu seinen Füßen nieder. Er hob ihn auf und löste das Papier los, mit dem er umwickelt. Er fand folgende Worte mit Bleistift kaum leserlich hingekritzelt:


»Georg! – mein Georg! – ist es möglich? täuscht mich nicht mein aufgeregter Sinn? Du hier! – o ihr ewigen Himmelsmächte! – In diesen verfallenen Mauern liegt der Vater wie im Hinterhalt – ach! nur Böses brütend! Fliehe, fliehe, Georg, ehe des Vaters Zorn Dich erreicht! Doch nein – bleibe noch! – Ich muß Dich sehen – und ein einziger Augenblick seliger Wonne, dann fliehen! – bis Mitternacht ist der Vater abwesend. Komme! – über den Schloßhof – die hölzerne Treppe! doch nein, es ist nicht möglich. Des Försters Leute – schlafen sie auch, die wachen Hunde fallen Dich an! Auf der Südseite steht noch eine Treppe, die nach den Zimmern führt, doch ist sie morsch und verfallen – Du darfst es nicht wagen, aber ich komme herab! – O Georg, was vermag alle Arglist der Hölle gegen ein liebendes Herz. Natalie ist Dein – Dein auf ewig!« –


»Sie ist es,« rief Deodatus ganz außer sich, »es ist kein Zweifel mehr, ja, sie ist es, der Traum des Knaben, die glühende Sehnsucht des Jünglings! – Hin zu ihr – um sie nie wieder zu lassen, aufgehen, lichtvoll aufgehen soll des Vaters dunkles Geheimnis! – Aber! – bin ich es denn? – bin ich der George?«

Wie ein tötender Krampf erfaßte den armen Deodatus der Gedanke, daß ja nicht er, daß es jener unbekannte Doppeltgänger sei, den Natalie liebe, den sie wiedergefunden zu haben glaube. Und doch, so sprach das glühende Verlangen der Liebe aus dem Innern heraus, und doch, kann nicht eben jener Doppeltgänger der sein, der sie täuscht, kann ich nicht der sein, dem sie angehört, mit dem sie geheimnisvolle Bande verknüpfen? Hin zu ihr! – Sowie die Nacht eingebrochen, schlich Deodatus hinaus[533] aus seinen Zimmern. Im Park, unfern des Landhauses, hörte er Stimmen flüstern, schnell duckte er sich nieder ins Gebüsch. Da schritten zwei in Mäntel gehüllte Männer dicht bei ihm vorüber. »Also,« sprach der eine, »also noch lange könnte es dauern mit dem Fürsten, meinte heute der Leibarzt?« »So ist es, gnädigster Herr,« erwiderte der andere. »Nun,« fuhr der erste fort, »so muß man zu andern Mitteln« – die Worte wurden undeutlich. Deodatus richtete sich in die Höhe, dem Sprechenden fiel der volle Glanz der leuchtenden Mondesstrahlen ins Gesicht. Deodatus erkannte mit Entsetzen den Grafen Hektor von Zelies. –

Erhebend vor dem Gedanken, daß der Hölle schwarze Ausgeburt, daß der Mord hier im Finstern lauere, zu gleicher Zeit mit unwiderstehlicher Gewalt fortgetrieben von glühender Sehnsucht, von dürstendem Verlangen, schlich Deodatus fort. Im Mondlicht fand er die verfallne Treppe an der Südseite, doch wollte er verzweifeln, als er, kaum einige Stufen hinaufgeklettert, die Unmöglichkeit einsah, in der tiefen Finsternis, die ihn nun umgab, weiter fortzukommen. Doch plötzlich leuchtete ein fernes Licht aus dem innern Gebäude ihm entgegen. Er kletterte nicht ohne Gefahr vollends die Treppe herauf, kam in einen hohen weiten Saal. – In blendendem Liebreiz, in hoher Anmut stand das holde Wunder seiner Träume vor ihm. »Natalie!« rief Deodatus und stürzte dem herrlichen Frauenbilde zu Füßen. Doch mit süßem Wohllaut lispelte Natalie: »Mein George!« und schloß den Jüngling in ihre Arme. Keine Worte – nur Blick, nur Kuß, die Sprache heißer stürmischer Liebesglut. Da rief Deodatus im Wahnsinn tötender Angst, inbrünstiger Wonne: »Mein – mein bist du, Natalie! – glaube an mein Ich – ich weiß, mein Doppeltgänger hat dir die Brust zerspalten wollen, aber er traf mich – es war nur eine Kugel, die Wunde ist geheilt, und mein Ich lebt. – Natalie, sage mir nur, ob du an mein Ich glaubest, sonst erfaßt mich der Tod vor deinen[534] Augen! – Ich heiße auch nicht George, aber doch bin ich selbst mein Ich und kein anderer.« –

»Weh mir,« rief Natalie, sich aus des Jünglings Armen loswindend, »George, was sprichst du? – Doch nein, nein! – ein bedrohliches Verhängnis hat deine Sinne aufgeregt! – Sei ruhig, sei ganz mein George!«

Natalie breitete die Arme aus, und Deodatus umfing sie, drückte sie an die Brust, indem er laut rief: »Ja, Natalie, ich bin es, ich bin der, den du liebst. – Wer will es wagen, wer vermag es, mich aus diesem Himmel voll Seligkeit zu reißen! – Natalie – laß uns fliehen, laß uns fliehen – fort – daß mein Doppeltgänger dich nicht erreiche – – fürchte nichts – es ist mein Ich, das ihn tötet!« –

In dem Augenblick ließen sich dumpfe Tritte hören und: »Natalie, Natalie!« erscholl es durch die hohen Gemächer. –

»Fort,« rief Natalie, indem sie den Jüngling nach der Treppe drängte und ihm die Lampe, die sie mitgebracht, in die Hand gab, »fort, sonst sind wir verloren, der Vater ist gekommen. – Morgen um diese Zeit komme wieder, ich werde dir folgen.« –

Halb sinnlos kletterte Deodatus die Treppe hinab, es war ein Wunder zu nennen, daß er nicht hinstürzte über die verfallenen Stufen. Unten löschte er die Lampe aus und warf sie ins Gebüsch. Kaum war er einige Schritte fortgegangen, als er hinterwärts von zwei Männern gepackt wurde, die mit ihm schnell davonrannten, ihn in den Wagen hoben, der vor dem Gattertor stand, und mit ihm davonfuhren im sausenden Galopp.

Eine gute Stunde mochte Deodatus gefahren sein, als der Wagen stillhielt im dicksten Walde vor einer Köhlerhütte. Männer mit Fackeln traten aus der Hütte, man bat den Jüngling auszusteigen, er tat es. Ein alter stattlicher Herr kam schnell heran, und mit dem Ausruf: »Mein Vater!« stürzte ihm Deodatus an die Brust.[535]

»Aus den Schlingen,« sprach der alte Amadeus Schwendy, »aus den Schlingen der Arglist und Bosheit habe ich dich gerettet, dem Morde habe ich dich entrissen, mein teurer Sohn! Bald enthüllt sich nun das Verborgene, bald tagt nun das herauf, was du in deiner Brust nicht zu ahnen vermagst.« –

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 528-536.
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