Viertes Kapitel

[514] Förster, welche am frühen Morgen den Wald durchstrichen, fanden den jungen Deodatus Schwendy ohnmächtig in seinem Blute liegend. Der Branntwein, den sie in Jagdflaschen bei sich führten, tat gute Dienste, ihn ins Leben zurückzurufen, sie verbanden, so gut sie es vermochten, die Brustwunde, packten ihn auf einen Wagen und brachten ihn nach Hohenflüh in das Wirtshaus zum »Silbernen Lamm«.

Der Schuß hatte nur die Brust stark gestreift, ohne daß die Kugel eingedrungen war, der Wundarzt erklärte daher, daß an Lebensgefahr nicht zu denken, wiewohl der Schreck und die Kälte der Nacht den erschöpften Zustand herbeigeführt, in dem sich Deodatus befand. Kräftige Mittel würden aber auch diesen bald heben.

Hätte Deodatus nicht den Schmerz der Wunde gefühlt, das ganze unerklärliche Ereignis wäre ihm nichts gewesen als ein Traum. Es schien ihm gewiß, daß jenes Geheimnis, von dem der Vater in dunklen Worten gesprochen, sich zu enthüllen begann, daß aber irgendein feindliches Wesen dazwischengetreten und seine Hoffnung vernichtet. Dieses feindliche Wesen, wer konnte es anders sein als der Maler George Haberland, der ihm so durchaus ähnlich, daß er überall mit ihm verwechselt worden.

»Und wie,« sprach er zu sich selbst, »wenn jene Natalie, jener schöne Liebestraum, der in süßen Ahnungen durch mein Leben ging, nur ihm angehörte, meinem unbekannten Doppeltgänger, meinem zweiten Ich, wenn er sie mir geraubt, wenn all mein Sehnen, all mein Hoffen ewig unerfüllt bliebe?«

Deodatus verlor sich in trübe Gedanken, immer dichtere Schleier schienen seine Zukunft zu verhüllen, jede[514] Ahnung war dahin, er sah ein, daß er nur auf den Zufall hoffen dürfte, der ihm vielleicht Geheimnisse erschließen konnte, welche gar verhängnisvoll, gar gefährlich sein müßten, da sein Vater, der alte Amadeus Schwendy, es selbst nicht gewagt, sie ihm zu offenbaren. –

– Der Wundarzt hatte den kranken Deodatus eben verlassen, er befand sich allein, als die Türe leise geöffnet wurde und ein großer, in einen Mantel gehüllter Mann hineintrat. Als er den Mantel zurückschlug, erkannte Deodatus in ihm augenblicklich jenen Fremden wieder, den er im Gasthause zum »Goldnen Bock« auf dem Flur getroffen, und er erriet, daß es derselbe sein mußte, der ihm das unerklärliche Billett geschrieben, nämlich der Graf Hektor von Zelies. Es war dem so.

Der Graf schien sich Mühe zu geben, den finstern stechenden Blick, der ihm eigen, zu mildern, er zwang sich sogar zu einiger Freundlichkeit.

»Wahrscheinlich,« so begann er, »wahrscheinlich erstaunen Sie, mich hier zu sehen, Herr Haberland, noch mehr werden Sie erstaunen, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich hier bin, um Ihnen Frieden, Versöhnung anzubieten, im Fall Sie gewisse Bedingungen« –

Deodatus unterbrach den Grafen, indem er mit Heftigkeit versicherte, daß er keinesweges der Maler George Haberland sei, daß hier ein unglücklicher Irrtum vorwalten müsse, der ihn in ein Labyrinth unerklärlicher Ereignisse stürzen zu wollen scheine. Starr schaute der Graf ihm ins Gesicht und sprach dann mit einem Blick, aus dem ein wenig der Teufel lächelte: »Sie haben, mein Herr Schwendy oder mein Herr Haberland oder wie Sie sich sonst zu nennen belieben mögen, Natalien entführen wollen?« –

»Natalie, o Natalie,« seufzte Deodatus tief aus der Seele.

»Hoho,« sprach der Graf mit dem bittersten Ingrimm, »Sie lieben Natalien wohl sehr?«[515]

»Mehr,« erwiderte Deodatus, indem er vor Schwäche zurücksank auf sein Lager, »mehr als mein Leben. – Sie wird mein werden, sie muß mein werden, in meinen Innersten glüht die Hoffnung, das Verlangen!« –

»Welche unerhörte Frechheit,« fuhr der Graf auf im flammenden Zorn, »he, warum traf« – plötzlich innehaltend, seinen Zorn mit Gewalt niederkämpfend, sprach der Graf, nachdem er einige Augenblicke geschwiegen, mit erkünstelter Ruhe: »Verdanken Sie Ihrem Zustande, daß ich Sie schone, unter andern Umständen würde ich Rechte geltend machen, die Sie vernichten könnten. Aber ich verlange nun, daß Sie mir augenblicklich sagen, wie es geschehen konnte, daß Sie Natalien sahen hier in Hohenflüh?«

Der Ton, in dem der Graf sprach, erfüllte den Deodatus Schwendy mit dem tiefsten Unwillen. Sich trotz seiner Schwäche ermannend, richtete er sich auf und sprach mit festem männlichen Ton: »Es kann nur das Recht der Unverschämtheit sein, das Sie geltend machen zu können glauben, wenn Sie in mein Zimmer dringen, wenn Sie mich mit Fragen belästigen, die ich nicht beantworten kann. Sie sind mir völlig unbekannt, niemals hatte ich mit Ihnen etwas zu schaffen, und diese Natalie, von der Sie sprechen, wissen Sie denn, daß diese das Himmelsbild ist, das in meinem Herzen lebt? – Weder in Hohenflüh noch sonst irgendwo sahen meine leiblichen Augen die – doch es ist Frevel, zu Ihnen von Geheimnissen zu reden, die ich bewahre tief in meiner innersten Brust!«

Der Graf schien in Staunen und Zweifel zu geraten, er lispelte kaum hörbar: »Niemals hätten Sie Natalien gesehen? – Und als Sie sie malten? – Wie wenn dieser Haberland – dieser Schwendy« –

»Genug,« rief Deodatus, »genug! Entfernen Sie sich, nichts habe ich zu schaffen mit dem finstern Geist, den ein wahnsinniger Irrtum hinter mir hertreibt und der mich[516] angriff auf den Tod! – Es gibt Gesetze, welche schützen gegen hinterlistigen Meuchelmord – Sie verstehen mich, Herr Graf!« –

Deodatus zog stark die Glocke. –

Der Graf biß die Zähne zusammen und maß den Deodatus mit furchtbarem Blick.

»Hüte dich,« sprach er dann, »hüte dich, Knabe! Du hast ein unglückliches Gesicht – hüte dich, daß dein Gesicht nicht noch einem andern mißfalle als mir.« –

Die Türe ging auf, und herein trat der kleine alte, etwas zu dicke Herr mit der goldnen Dose, den der geneigte Leser als Mitglied des hochweisen Rates an der Wirtstafel im »Goldnen Bock« gesehen und sehr klug räsonieren gehört hat.

Der Graf entfernte sich mit einer drohenden Bewegung gegen Deodatus zur Türe heraus und zwar so wild und heftig, daß der kleine Ratsherr und seine Begleitung darob etwas erstaunt und verblüfft schienen.

Dem Ratsherrn folgte nämlich ein ganz kleines winziges verwachsenes Männlein, das einen großen Stoß Papier unter dem Arm trug, und hinterher traten zwei Ratsdiener hinein, die sich sofort als Wachen an der Türe postierten.

Der Ratsherr grüßte den Deodatus mit ernster Amtsmiene, das Männlein rückte mit Mühe einen Tisch vor das Bett, legte die Papiere darauf, holte ein Schreibzeug aus der Tasche, erkletterte den ebenfalls mit Mühe herangerückten Stuhl und setzte sich in schreibfertige Positur, während der Ratsherr sich auch auf einen Stuhl dicht vor dem Bette niedergelassen hatte und ihn mit weit aufs gerissenen Augen anstarrte.

Deodatus wartete ungeduldig, was aus dem allen nun endlich werden sollte. Endlich begann der Ratsherr pathetisch: »Mein Herr Haberland oder mein Herr Schwendy, denn Sie, mein Herr, der Sie da vor mir im Bette liegen, belieben zwei diverse Namen zu führen, unerachtet das[517] ein Luxus ist, den keine tüchtige Obrigkeit dulden darf. – Nun! – ich hoffe, Sie werden, da der hochweise Rat schon von allem auf das genaueste unterrichtet ist, nicht durch unnütze Lügen, Ränke und Schwänke Ihren Arrest verzögern. Denn arretiert sind Sie in diesem Augenblick, wie Sie aus der Postierung jener treuen ehrlichen Ratswächter mit mehrerem ersehen werden.«

Deodatus fragte verwundert, welches Verbrechens man ihn denn anklage, und welches Recht man habe, ihn als durchreisenden Fremden zu verhaften.

Da hielt ihm aber der Ratsherr vor, daß er wider das erst neuerdings emanierte Duellmandat des gnädigsten Herrn Fürsten auf das schrecklichste gesündigt, indem er sich wirklich im Walde duelliert, welches denn schon die Pistolen, die man in seiner Rocktasche gefunden, hinlänglich bewiesen. Er möge daher nur ohne weiteres den frechen Mitduellanten, sowie die etwanigen Sekundanten nennen und hübsch erzählen, wie sich alles begeben von Anfang an.

Dagegen versicherte nun Deodatus sehr ruhig und fest, daß hier nicht von einem Duell, sondern von einem meuchelmörderischen Angriff auf seine Person die Rede. Ein Ereignis, das ihm selbst unerklärlich, und das einem hochweisen Rat noch viel unerklärlicher sein werde, habe ihn ganz ohne seinen vorbedachten Willen in den Wald geführt. Die gefährliche Drohung eines ihm ganz unbekannten Verfolgers sei die Ursache, warum er sich bewaffnet, und der hochweise Rat würde viel besser tun, seine Pflicht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, viel besser erfüllen, wenn er, statt auf eine grundlose Vermutung hin Arrest und Untersuchung zu verfügen, jenem Meuchelmörder nachforschte.

Dabei blieb Deodatus stehen, unerachtet der Ratsherr noch hin und her fragte, und bezog, als dieser mehr von seinen Lebensverhältnissen wissen wollte, sich lediglich auf seinen Paß, der, solange nicht ein gegründeter Verdacht[518] der Falschheit vorhanden, dem hochweisen Rat genügen müsse.

Der Ratsherr wischte sich den Angstschweiß von der Stirne. Der Kleine hatte schon ein Mal übers andre den grandiosen Gänsekiel in das Tintenfäßlein getunkt und wieder ausgespritzt, schreibbegehrliche Blicke auf den Ratsherrn werfend. Der schien aber vergebens nach Worten zu trachten. Da schrieb der Kleine keck und las mit krächzenden Stimme:

»Aktum Hohenflüh den – Auf Befehl eines hiesigen hochweisen Rats hatte sich der unterschriebene Deputierte«

»Recht,« rief der Ratsherr, »recht, liebster Drosselkopf, recht, himmlischer Aktuar, der unterschriebene Deputierte hatte sich – der unterschriebene Deputierte – das bin ich – ich hatte mich« –

Es war im Rat des Himmels beschlossen, daß der unterschriebene Deputierte sein Werk nicht vollenden, nicht unterschreiben, Deodatus vielmehr von dem unseligen Zuspruch befreit werden sollte.

Hinein trat nämlich ein Offizier von der Leibgarde des Fürsten in Begleitung des Wirts, den er, als er Deodatus erblickte, fragte, ob das wirklich der junge Mann sei, der im Walde verwundet worden. Als der Wirt es bejaht, näherte sich der Offizier dem Lager des Deodatus und erklärte mit bescheidner Artigkeit, daß er Befehl habe, den Herrn George Haberland sogleich zum Fürsten nach Sonsitz zu bringen. Er hoffe, daß sein Zustand kein Hindernis in den Weg legen würde; es seien alle Vorkehrungen getroffen, daß die Fahrt ihm durchaus nicht nachteilig sein könne, und werde auch übrigens der Leibchirurgus des Fürsten beständig an seiner Seite sein.

Der Ratsherr, auf einmal des Auftrags enthoben, der ihm Angstschweiß ausgepreßt, näherte sich, vollen Sonnenschein im Antlitz, dem Offizier und fragte mit submisser Verbeugung, ob er vielleicht den Arrestanten[519] schließen lassen solle, größerer Sicherheit halber. Der Offizier blickte ihn aber ganz verwundert an und fragte dann seinerseits, ob der gestrenge Herr Ratsherr wahnsinnig sei, was er denn für einen Arrestanten meine. Der Fürst wolle den Herrn Haberland selbst sprechen, um alle Umstände eines Ereignisses zu erfahren, das seinen Zorn gereizt. Nicht begreifen könne der Fürst, wie in seinem Lande und vorzüglich ganz in der Nähe von Hohenflüh noch ein verruchter Meuchelmörder sein Wesen treiben dürfe, und werde deshalb die Obrigkeit, der die Sorge für die Sicherheit der Bürger obliege, zur schweren Verantwortung ziehen.

Man kann denken, wie dies dem dicken Ratsherrn in alle Glieder fuhr, der kleine Schreiber purzelte aber sofort vom Stuhle herab und wimmerte unten, er sei nichts als ein armer, höchst unglücklicher Aktuarius, dem es ganz schrecklich ergangen sein würde, wenn er jemals die Zweifel laut werden lassen, die er schon längst gegen die Weisheit des hochweisen Rats im Innern gehegt. –

Deodatus beteuerte, um jedem Irrtum vorzubeugen, daß er nicht der Maler Haberland sei, mit dem er nur große Ähnlichkeit haben müsse, vielmehr, wie er hinlänglich auf die glaubhafteste Art nachweisen könne, Deodatus Schwendy heiße und aus der Schweiz hergereiset sei. Der Offizier versicherte dagegen, daß es hier auf den Namen gar nicht ankomme, da der Fürst nur eben den jungen Mann zu sprechen verlange, der im Walde verwundet worden. Nun erklärte Deodatus, daß er dann in jedem Fall der sei, den der Fürst gemeint, und daß er, da die Wunde nicht im mindesten bedeutend, sich stark genug fühle, mitzugehen nach Sonsitz. Der Leibchirurgus des Fürsten bestätigte dies, Deodatus wurde sogleich in den bequemsten Reisewagen des Fürsten gepackt, und fort ging es nach Sonsitz.

Ganz Hohenflüh war in Bewegung, als Deodatus durch die Straßen fuhr, und des Verwunderns kein Ende, da es[520] unerhört, daß der Fürst einen Fremden nach Sonsitz holen lassen. Ebenso, ja noch mehr verwunderten sich aber die Hohenflüher, als sie die beiden seit vielen Jahren tödlich entzweiten Gevattern und Wirte zum »Goldnen Bock« und zum »Silbernen Lamm« erblickten, wie sie mitten auf der Straße, auf dem sogenannten breiten Stein, freundlich miteinander konversierten, ja zutraulich sich in die Ohren zischelten.

Der geneigte Leser weiß bereits, wodurch der goldne Bock und das silberne Lamm versöhnt wurden, einen noch wirkungsvolleren Grund dieser augenblicklichen Versöhnung fanden beide aber jetzt in der gemeinschaftlichen brennenden, verzehrenden Neugierde, wer wohl der Fremde sein könne, dem das Außerordentlichste geschehn. –

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 514-521.
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