Zweites Kapitel

[499] Es ist nötig, dem geneigten Leser zu sagen, daß der ferne Ort, von dem her der alte Amadeus Schwendy seinen Sohn nach Hohenflüh schickte, ein Landhaus in der Gegend von Luzern war. Das Städtlein Hohenflüh im Fürstentum Reitlingen lag aber ungefähr sechs bis sieben Stunden von Sonsitz, der Residenz des Fürsten Remigius, entfernt.

Ging es in Hohenflüh laut und lustig her, so herrschte dagegen in Sonsitz solch ein allgemeines Piano wie etwa in Herrnhut oder Neusalz. Alles trat leise wie auf Socken daher, und selbst ein notwendiger Zank wurde mit gedämpfter Stimme geführt. Von den gewöhnlichen Vergnügungen der Residenz, von Bällen, Konzerten, Schauspielen war gar nicht die Rede, und wollten sich die armen, zur Traurigkeit verdammten Sonsitzer einmal vergnügen, so mußten sie hinüberziehen nach Hohenflüh. Dies alles kam daher. Fürst Remigius, sonst ein freundlicher, lebenslustiger Herr, war seit mehreren Jahren, es konnten wohl über die zwanzig sein, in furchtbar tiefe, an Wahnsinn grenzende Melancholie versenkt. Ohne Sonsitz zu verlassen, sollte sein Aufenthalt einer Einöde gleichen, in der das düstre Stillschweigen der lebensmüden Trauer herrscht. Nur seine vertrautesten Räte und die notwendigste Dienerschaft mocht' er sehen, und selbst diese durften es nicht wagen zu sprechen, wenn der Fürst sie nicht angeredet. In einer dicht verschlossenen Kutsche fuhr er daher, und niemand durfte auch nur durch eine Gebärde merken lassen, daß er den Fürsten in der Kutsche wisse.

Über die Ursache dieser Melancholie gab es nur dumpfe Gerüchte. So viel war gewiß, daß damals, als die Gemahlin des Fürsten den Erbprinzen geboren und das ganze Land von freudigem Jubel ertönte, wenige Monate nachher Mutter und Kind verschwanden auf unbegreifliche[499] Weise. Manche meinten, Gemahlin und Sohn wären als Opfer einer unerhörten Kabale entführt worden, andere behaupteten dagegen, der Fürst habe beide verstoßen. Diese bezogen sich, um ihre Behauptung zu unterstützen, auf den Umstand, daß zu derselben Zeit der Graf von Törny, erster Minister und entschiedener Liebling des Fürsten, vom Hofe entfernt worden, und es scheine gewiß, daß der Fürst ein verbrecherisches Verhältnis zwischen der Fürstin und dem Grafen entdeckt und an der Echtheit des gebornen Sohnes gezweifelt.

Alle, die die Fürstin näher gekannt, waren aber im Innersten überzeugt, daß bei der reinsten, unbeflecktesten Tugend, wie sie die Fürstin bewährt, ein solcher Fehltritt ganz undenkbar, ganz unmöglich sei.

Niemand in Sonsitz durfte bei harter Ahndung auch nur ein Wort über das Verschwinden der Fürstin äußern. Aufpasser lauerten überall, und plötzliche Verhaftungen derer, die nur irgendwo anders als innerhalb ihres Zimmers davon gesprochen, zeigten, wie man, ohne es zu ahnen, belauscht, behorcht wurde. Ebenso durfte auch über den Fürsten, über seinen Kummer, über sein ganzes Tun und Treiben kein Wort gesprochen werden, und dieser tyrannische Zwang war die ärgste Bedrängnis der Bewohner einer kleinen Residenz, die eben nichts lieber im Munde führen als den Fürsten und den Hof. –

Des Fürsten liebster Aufenthalt war ein kleines, dicht vor den Toren von Sonsitz gelegenes Landbaus mit einem weitläuftigen eingehegten Park.

In den düstern wildverwachsenen Gängen dieses Parks wandelte eines Tages der Fürst, sich ganz hingebend dem zerstörenden Gram, der in seiner Brust wühlte, als er plötzlich ganz unfern ein seltsames Geräusch vernahm. – Unartikulierte Töne – ein Ächzen – Stöhnen, dazwischen wieder ein widriges Quieken – Grunzen – und dann wie in erstickter Wut dumpf ausgestoßene Schimpfwörter. – Erzürnt, wer es gewagt, dem strengsten Verbot entgegen[500] einzudringen in den Park, trat der Fürst schnell aus dem Gebüsch, und es bot sich ihm ein Schauspiel dar, das den griesgramigsten Smelfungus zum Lachen hätte reizen können. – Zwei Männer, der eine lang und knochendürr, wie die Hektik selbst, der andere ein kleines glaues Falstafflein, in den schmuckesten Sonntagskleidern des idealen Spießbürgers angetan, waren im heftigsten Faustkampf begriffen. Der Große säbelte mit den langen Armen, die mit den geballten Fäusten mächtigen Streitkolben nicht unähnlich, so unbarmherzig auf den Kleinen los, daß jeder fernere Widerstand unnütz und nichts anders ratsam schien als schnelle Flucht. Doch Mut im Herzen, wollte der Kleine, gleich den Parthern, noch fliehend fechten. Da krallte sich aber der Große fest in das Haupthaar des Gegners. Schlechte Intention! – Die Perücke blieb ihm in der Hand, der Kleine nützte strategisch die Puderwolke, die ihn einhüllte, duckte schnell nieder und unterlief mit vorgestreckten Fäusten so behende und geschickt den Großen, daß dieser mit einem gellenden Schrei rücklings überstürzte. Nun warf sich der Kleine auf den Großen, enterte sich fest, die linke Hand mit gebogenen Fingern zweckmäßig als Enterhaken brauchend, in der Halsbinde des Gegners und arbeitete mit den Knieen und der rechten Faust so schonungslos auf den Großen ein, daß dieser, kirschblau im ganzen Antlitz, gräßliche Laute ausstieß. Doch plötzlich fuhr nun der Große dem Kleinen mit den spitzen Knochenfingern so gewaltig in die Seiten und gab mit der letzten Kraft der Verzweiflung sich selbst einen solchen Schwung, daß der Kleine in die Höhe geschleudert wurde wie ein Ball und niederstürzte dicht vor dem Fürsten.

»Hunde!« rief der Fürst mit der Stimme eines ergrimmten Löwen, »Hunde, welch ein Satan hat euch eingelassen? Was wollt ihr?«

Man kann denken, mit welchem Entsetzen die beiden ergrimmten Gymnastiker sich aufrafften vom Boden, wie[501] sie nun gleich armen verlorenen Sündern, bebend, zitternd, keines Worts, keines Lauts mächtig, vor dem erzürnten Fürsten standen.

»Fort,« rief der Fürst, »fort auf der Stelle, hinauspeitschen lasse ich euch, wenn ihr noch einen Augenblick weilt.«

Da fiel der Große nieder auf die Knie und brüllte, ganz Verzweiflung: »Durchlauchtigster Fürst – gnädigster Landesherr – Gerechtigkeit – Blut für Blut!« –

Das Wort Gerechtigkeit war noch eins von den wenigen, das stark anschlug an des Fürsten Ohr. Er faßte den Großen stark ins Auge und sprach gemäßigter. »Was ist's, sprecht, aber nehmt Euch in acht vor allen dummen Worten und macht's kurz.«

– Vielleicht hat es der geneigte Leser schon geahnt, daß die beiden tapfern Kämpfer niemand anders waren als die beiden berühmten Gastwirte zum »Goldnen Bock« und zum »Silbernen Lamm« aus Hohenflüh. In dem immer höher gesteigerten Groll gegeneinander waren sie zu dem wahnsinnigen Entschluß gekommen, da ihnen der hochweise Rat nicht genügte, dem Fürsten selbst allen Tort zu klagen, den jeder vom andern erlitten zu haben glaubte, und der Zufall ließ es geschehen, daß beide in demselben Augenblick zusammentrafen vor dem äußersten Gattertor des Parks, das ein einfältiger Gärtnerbursche ihnen öffnete. Beide können fernerhin sehr schicklich mit ihren Schildnamen bezeichnet werden! –

Also! – der goldne Bock, ermutigt durch des Fürsten ruhigere Frage, wollte eben beginnen, als ihn vielleicht in Gefolge des feindlichen Enterns ein solch fürchterliches krächzendes Husten überfiel, daß er kein Wort hervorzubringen vermochte.

Diesen verderblichen Zufall nutzte augenblicklich das silberne Lamm und stellte mit nicht geringer Beredsamkeit dem Fürsten all die Unbild vor, die ihm der goldne Bock zufüge, der alle Gäste anlocke, indem er alle nur[502] mögliche Hanswürste, Marktschreier, Wahrsager und anderes Gesindel bei sich aufnehme. Er beschrieb die weise Frau mit dem Raben, er sprach von ihren schnöden Künsten, von ihren Orakelsprüchen, mit denen sie die Leute hinters Licht führe. Das schien die Aufmerksamkeit des Fürsten zu fesseln. Er ließ sich die Gestalt der Frau von Kopf bis zu Fuß beschreiben, er fragte, wann sie gekommen, wo sie geblieben. Das Lamm meinte, er seinerseits halte das Weib für nichts anders als für eine betrügerische halb wahnsinnige Zigeunerin, die ein hochweiser Rat zu Hohenflüh hätte sogleich festnehmen lassen sollen.

Der Fürst heftete den funkelnden durchbohrenden Blick auf das arme Lamm, das, als hätt' es in die Sonne geschaut, sogleich ausbrach in ein heftiges Niesen.

Dies nützte sofort der goldne Bock, der sich indessen vom Husten erholt und nur auf den Moment gelauert hatte, dem Lamm die Rede abzuschneiden. Der Bock berichtete in süß und sanft tönenden Worten, daß alles, was das Lamm von der Aufnahme schädlichen polizeiwidrigen Gesindels berichtet, die schändlichste Verleumdung sei. Insonderheit rühmte der Bock die weise Frau, von der die gescheitesten brillantsten Herren, die größten Genies von Hohenflüh, die er täglich an seiner Tafel zu bewirten die Ehre, behaupteten, sie sei ein überirdisches Wesen und höher zu achten als die ausgebildetste Somnambüle. Ach, gar arg ging' es aber zu bei dem silbernen Lamm. Einen artigen, schönen, jungen Herrn habe das silberne Lamm von ihm weggelockt, als er nach Hohenflüh zurückgekehrt, und gleich in der folgenden Nacht sei er auf seinem Zimmer mörderisch angefallen und durch einen Pistolenschuß verwundet worden, so daß er hoffnungslos darniederläge.

Jede fernere Rücksicht, jede Ehrfurcht vor dem Fürsten in der Wut vergessend, brach das silberne Lamm los und schrie, derjenige, welcher behaupte, daß der junge Herr George Haberland auf seinem Zimmer angefallen[503] und verwundet worden, sei der niederträchtigste Spitzbube und abgefeimteste Halunkenkerl, der jemals Beinschellen getragen und die Gassen gekehrt. Vielmehr habe wohllöbliche Polizei in Hohenflüh ermittelt, daß er in selbiger Nacht vor das Neudorfer Tor spaziert, daß dort ein Wagen gehalten, aus dem eine weibliche Stimme gerufen: »Rette Natalien,« daß darauf der junge Herr in den Wagen gesprungen. – »Wer war das Weib im Wagen?« fragte der Fürst mit strengem Ton.

»Man sagt,« stotterte der goldne Bock, um nur wieder zum Wort zu kommen, »man sagt, die weise Frau habe« –

Die Rede blieb dem goldnen Bock in der Kehle stecken vor dem furchtbaren Blick des Fürsten, und als dieser ihm ein tötendes »Nun? was weiter?« zurief, fiel das silberne Lamm, das gerade außer der Richtung jener Strahlen im Schatten stand, leise stammelnd ein: »Ja, die weise Frau und der Herr Maler George Haberland – Im Walde hat er den Schuß erhalten, das weiß ja die ganze Stadt – aus dem Walde haben sie ihn geholt und zu mir gebracht am frühen Morgen – er liegt noch bei mir – wird aber wohl genesen, denn die Pflege bei mir – und der fremde Herr Graf – ja, der Herr Graf Hektor von Zelies« –

»Was? wer?« rief der Fürst auf, daß das silberne Lämmlein ein paar Schritte zurückprallte. »Genug,« sprach dann der Fürst weiter mit rauhem gebieterischen Ton, »genug! packt euch beide fort augenblicklich. – Der wird den mehrsten Zuspruch haben, der seine Gäste am besten bedient! – Hör' ich noch das mindeste von einem Gezänk unter euch, so soll der Rat euch die Schilder von den Häusern reißen und euch fortbringen lassen aus den Toren von Hohenflüh!«

Nach diesem kurzen kräftigen Bescheid ließ der Fürst die beiden Wirte stehen und verlor sich schnell ins Gebüsch.

Der Zorn des Fürsten hatte die aufgebrachten Gemüter besänftigt. Im Innersten zerknirscht schauten sich[504] beide, das silberne Lämmlein und der goldne Bock, wehmütig an, Tränen entquollen den verdüsterten Augen, und mit dem gleichzeitigen Ausruf: »O Gevatter!« fielen sie sich in die Arme. Während der goldne Bock, das silberne Lamm fest einklammernd und über dasselbe weggebeugt, häufige Schmerzestropfen ins Gras fallen ließ, schluchzte dieses vor herber Wehmut leise an der Brust des versöhnten Gegners. Es war ein erhabener Moment!

Die zwei herbeieilenden fürstlichen Jäger schienen aber dergleichen pathetische Szenen nicht sonderlich zu lieben, denn ohne weiteres packten sie den goldnen Bock sowohl als das silberne Lamm, wie man zu sagen pflegt, beim Fittich und warfen beide ziemlich unsanft zum Gattertor hinaus.

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 499-505.
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