Viertes Abenteuer

[83] Unerwartetes Zusammentreffen zweier Freunde. Der Rat Knarrpanti und seine peinlichen Grundsätze. Liebesverzweiflung der Distel Zeherit. Optischer Zweikampf zweier Magier. Somnambuler Zustand der Prinzessin Gamaheh. Die Gedanken des Traums. Wie Dörtje Elverdink beinahe die Wahrheit spricht und die Distel Zeherit mit der Prinzessin Gamaheh von dannen rennt.


Sehr bald war der Fehlgriff des Wächters ausgemittelt, der den Herrn Pepusch als einen nächtlichen Dieb, welcher einzubrechen versucht, zur Haft gebracht hatte. Man wollte indessen einige Unrichtigkeiten in seinen Pässen bemerkt haben, und dies war die Ursache, warum man ihn ersuchte, irgendeinen angesessenen Bürger in Frankfurt als Gewährsmann aufzustellen, bis dahin sich aber den Aufenthalt auf dem Bürgermeisteramt gefallen zu lassen.

Da saß nun Herr George Pepusch in einem ganz artigen Zimmer und sann hin und her, wen er wohl in Frankfurt als seinen Gewährsmann aufstellen könne. So lange war er abwesend gewesen, daß er befürchten mußte, selbst von denen vergessen worden zu sein, die ihn vormals recht gut gekannt hatten, und an sonstigen Adressen fehlte es ihm gänzlich.

Ganz mißmütig sah er zum Fenster heraus und begann laut sein Schicksal zu verwünschen. Da wurde dicht neben ihm ein anderes Fenster geöffnet, und eine Stimme rief: »Wie? sehe ich recht? Bist du es, George?« – Herr Pepusch war nicht wenig erstaunt, als er den Freund erblickte, mit dem er während seines Aufenthaltes in Madras den vertrautesten Umgang gepflogen.[83]

»Wetter,« sprach Herr Pepusch, »Wetter, wie man so vergeßlich, ja so ganz vor den Kopf geschlagen sein kann! Ich wußt' es ja, daß du glücklich in den heimatlichen Stapel eingelaufen bist. Wunderdinge habe ich in Hamburg von deiner seltsamen Lebensweise gehört, und nun ich hier angekommen, denke ich nicht daran, dich aufzusuchen. Doch wer solche Dinge im Kopfe hat als ich – Nun, es ist gut, daß der Zufall mir dich zugeführt. Du siehst, ich bin verhaftet, du kannst mich aber augenblicklich in Freiheit setzen, wenn du Gewähr leistest, daß ich wirklich der George Pepusch bin, den du seit langen Jahren kennest, und kein Spitzbube, kein Räuber!«

»Ich bin«, rief Herr Peregrinus Tyß, »in der Tat jetzt ein herrlicher tadelsfreier Gewährsmann, da ich selbst verhaftet eines schweren Verbrechens halber, das ich nicht kenne, ja von dem ich auch nicht die leiseste Ahnung habe.«

Doch, es möchte geraten sein, das Gespräch der beiden Freunde, die sich auf eine Weise wiederfanden, wie sie es wohl nicht vermutet, zu unterbrechen und dem geneigten Leser zu sagen, was es mit der Verhaftung des Herrn Peregrinus Tyß für eine Bewandtnis hatte. Es ist schwer, ja wohl unmöglich darzutun, wie Gerüchte entstehen; sie gleichen dem Winde, von dem man nicht weiß, woher er kommt und wohin er fährt. So hatte sich auch in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß am Weihnachtsabende aus einer großen Gesellschaft, die bei einem reichen Bankier versammelt gewesen, eine sehr vornehme Dame auf unbegreifliche Weise entführt worden. Jeder sprach davon, nannte den Namen des Bankiers und klagte laut, daß die Polizei wenig wachsam sein müsse, wenn eine solche gewaltsame Tat ohne Scheu verübt werden dürfe. Der Rat konnte nicht umhin, Nachforschungen anzustellen; alle Gäste, die am Weihnachtsabende bei dem Bankier gewesen, wurden vernommen; jeder sagte, allerdings sei, wie er gehört habe, eine vornehme Dame aus der Gesellschaft[84] entführt worden, und der Bankier bedauerte gar sehr, daß in seinem Hause solch ein Streich geschehen. Keiner wußte indessen den Namen der entführten Dame anzugeben, und als der Bankier die Liste seiner Gäste einreichte, fand es sich, daß keine einzige von den Damen, die zugegen gewesen, vermißt wurde. War dies nun auch der Fall mit sämtlichen einheimischen und fremden Frauen und Mädchen in der ganzen Stadt, von denen keiner am Weihnachtsabende Leids geschehen, so sah der Rat, wie es nicht anders geschehen konnte, das entstandene Gerücht für völlig grundlos und die ganze Sache für erledigt an.

Da erschien aber vor dem Rat ein seltsamer Mensch, sowohl seiner Kleidung als seinem ganzen Wesen nach, welcher sagte, er sei Geheimer Hofrat und nenne sich Knarrpanti. Darauf zog er ein Papier mit einem großen Siegel aus der Tasche und überreichte es mit einer höflichen Verbeugung und einer Miene, die deutlich aussprach, wie sehr der Rat durch die hohe Würde, die er, der Geheime Hofrat Knarrpanti, bekleide, und durch den wichtigen Auftrag, den er erhalten, überrascht sein, und welcher Respekt ihm nun erwiesen werden würde. Knarrpanti war ein sehr wichtiger Mann, ein sogenanntes Faktotum an dem Hofe eines kleinen Fürsten, auf dessen Namen sich der Herausgeber nicht besinnen kann, und von dem nur zu sagen ist, daß es ihm beständig an Geld fehlte, und daß von allen Staatseinrichtungen, die er aus der Geschichte kannte, ihm keine besser gefiel als die Geheime Staats-Inquisition, wie sie ehemals in Venedig stattfand. Diesem Fürsten war wirklich vor einiger Zeit eine von seinen Prinzessinnen abhanden gekommen, man wußte nicht recht, wie? Als nun dem Knarrpanti, der sich gerade in Frankfurt befand, um womöglich einiges Geld für seinen Herrn aufzuborgen, das Gerücht von der entführten vornehmen Dame zu Ohren kam, schrieb er sogleich an den Fürsten, daß es seinen Bemühungen gelungen, der verlornen[85] Prinzessin auf die Spur zu kommen. Darauf erhielt er sofort den Auftrag, den Räuber zu verfolgen und alles anzuwenden, die Prinzessin aufzufinden und sich ihrer zu bemächtigen, koste es, was es wolle. Diesem Auftrage war ein höfliches Schreiben an den Rat beigelegt, worin derselbe ersucht wurde, dem Geheimen Hofrat Knarrpanti in seinen Nachforschungen möglichst beizustehen und auf seinen Antrag den Räuber zu verhaften und ihm den Prozeß zu machen. Dies Schreiben war aber jenes Papier, welches Knarrpanti dem Rat in der Audienz überreichte, und von dem er sich solche große Wirkung versprach.

Der Rat erwiderte, das Gerücht von einer vornehmen Dame, die entführt sein solle, sei als grundlos widerlegt, dagegen vollkommen ermittelt, daß überhaupt niemand entführt worden, es könne daher von Ausmittlung eines Entführers nicht die Rede sein, und werde der Herr Geheime Hofrat Knarrpanti, aller weiteren Nachforschungen entübrigt, wohl keines Beistandes bedürfen.

Knarrpanti hörte dies alles mit einem selbstzufriedenen Lächeln an und versicherte, daß es seiner ungemeinen Sagazität bereits gelungen, den Täter zu erforschen. – Auf die Erinnerung, daß doch eine Tat begangen sein müsse, wenn es einen Täter geben solle, meinte Knarrpanti, daß, sei erst der Verbrecher ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst finde. Nur ein oberflächlicher leichtsinniger Richter sei, wenn auch selbst die Hauptanklage wegen Verstocktheit des Angeklagten nicht festzustellen, nicht imstande, dies und das hineinzuinquirieren, welches dem Angeklagten doch irgendeinen kleinen Makel anhänge und die Haft rechtfertige. Er müsse schon jetzt dringend auf die schleunige Verhaftung des Entführers seiner Prinzessin antragen, und dieser Entführer sei niemand anders, als Herr Peregrinus Tyß, der ihm schon längst als höchst verdächtig bekannt, und dessen Papiere er sofort in Beschlag zu nehmen bitte.

Der Rat erstaunte über die kecke Anklage eines stillen[86] unbescholtenen Bürgers und wies Knarrpantis Antrag mit vielem Geräusch zurück.

Knarrpanti kam nicht im mindesten aus der Fassung, sondern versicherte mit einer gewissen widerlichen Anmaßung, die ihm überhaupt eigen, daß, verlange man von ihm zuvor den Nachweis seiner Anklage, er diesen sehr leicht führen könne. Durch zwei Zeugen wolle er nämlich dartun, daß Herr Peregrinus Tyß in der Weihnachtsnacht mit Gewalt ein schön geputztes Mädchen in sein Haus geschleppt habe.

Mehr, um die Absurdität dieser Behauptung völlig darzutun, als um auf die Sache wirklich einzugehen, beschloß der Rat, die beiden vorgeschlagenen Zeugen vernehmen zu lassen. Beide, ein Nachbar des Herrn Peregrinus Tyß, der in jener verhängnisvollen Weihnachtsnacht zufällig eben in sein Haus treten wollen, sowie der Wächter hatten aber aus der Ferne den ganzen Auftritt, als Peregrinus die geheimnisvolle Schöne herbeitrug, beobachtet und bekundeten einstimmig, daß Herr Tyß allerdings eine geputzte Dame in sein Haus gebracht. Beide wollten denn auch bemerkt haben, daß die Dame sich sehr gesträubt und jämmerlich lamentiert. Auf die Frage, warum sie denn dem bedrängten Frauenzimmer nicht zu Hilfe geeilt, erwiderten sie, solches sei ihnen nicht eingefallen.

Die Aussage dieser Zeugen setzte den Rat in nicht geringe Verlegenheit, da Herr Peregrinus sich wirklich des Vergehens schuldig gemacht zu haben schien, dessen man ihn anklagte. Knarrpanti sprach wie ein Cicero und bewies, wie der Umstand, daß man jetzt keine Dame vermisse, gar nichts entscheide, da die Dame sich ja wieder aus Peregrinus' Hause gerettet haben und aus purer Scham den ganzen Vorfall verschweigen könne. Wer die Dame sei, sowie was Herr Tyß noch sonst in gefährlichen Liebesumtrieben begonnen, das würde sich gewiß aus des Verbrechers Papieren ergeben, und er nahm die Gerechtigkeitsliebe des Rats in Anspruch, nach der gewiß keine[87] fluchwürdige Tat ungeahndet bleiben dürfe. Der Rat beschloß fürs erste, dem Gesuch des würdigen Geheimen Hofrats nachzugeben, und so geschah es, daß des armen Peregrinus Tyß schnelle Verhaftung sowie die Beschlagnahme seiner Papiere erfolgte. –

Wir kehren zu den beiden Freunden, die nebeneinander die Köpfe aus den Fenstern ihrer Gefängnisse gesteckt haben, zurück.

Peregrinus hatte dem Freunde ausführlich erzählt, wie er bei seiner Rückkehr nach Frankfurt sich verwaist gefunden und seitdem in völliger Abgeschiedenheit nur in der Erinnerung an die früheren Tage mitten in der geräuschvollen Stadt ein einsames freudenloses Leben führe.

»O ja,« erwiderte Pepusch mürrisch, »ich habe davon gehört, mir sind die Narrenspossen erzählt worden, die du treibst, um das Leben zu verbringen in kindischer Träumerei. Du willst ein Held der Gemütlichkeit, der Kindlichkeit sein, und darum verhöhnst du die gerechten Ansprüche, die das Leben, die menschliche Gesellschaft an dich macht. Du gibst eingebildete Familienschmäuse und spendest die köstlichen Speisen, die teuern Weine, die du für Tote auftischen ließest, den Armen. Du bescherst dir selbst den Heiligen Christ ein und tust, als seist du noch ein Kind; dann schenkst du aber die Gaben, welche von der Art sind, wie sie wohl verwöhnten Kindern in reicher Eltern Hause gespendet zu werden pflegen, armen Kindern. Aber du bedenkst nicht, daß es den Armen eine schlechte Wohltat ist, wenn du einmal ihren Gaumen kitzelst und sie nachher ihr Elend doppelt fühlen, wenn sie aus nagendem Hunger kaum genießbare Speise, die mancher leckere Schoßhund verwirft, kauen müssen – ha, wie mir diese Armenabfütterungen anekeln, wenn ich bedenke, daß das, was an einem Tage verspendet wird, hinreichen würde, sie Monate hindurch zu ernähren auf mäßige Weise! – Du überhäufst die Kinder armer Leute mit glänzenden Spielsachen und bedenkst nicht,[88] daß ein hölzerner buntgemalter Säbel, ein Lumpenpüppchen, ein Kuckuck, ein geringes Naschwerk, von Vater und Mutter einbeschert, sie ebenso, ja vielleicht noch mehr erfreut. Aber sie fressen sich überdem an deinem verdammten Marzipan matt und krank, und mit der Kenntnis glänzenderer Gaben, die ihnen in der Folge versagt bleiben, ist der Keim der Unzufriedenheit, des Mißmuts in ihre Seele gepflanzt. Du bist reich, du bist lebenskräftig, und doch entziehst du dich jeder Mitteilung und vereitelst so jedes freundliche Annähern dir wohlwollender Gemüter. Ich will es glauben, daß der Tod deiner Eltern dich erschüttert hat, aber wenn jeder, der einen empfindlichen Verlust erlitten hat, in sein Schneckenhaus kriechen sollte, so würde, beim Teufel, die Welt einem Leichenhause gleichen, und ich wollte nicht darin leben. Aber, Patron! weißt du wohl, daß dich die störrigste Selbstsucht regiert, die sich hinter einer albernen Menschenscheue versteckt? – Geh, geh, Peregrinus, ich kann dich nicht mehr achten, nicht mehr dein Freund sein, wenn du dein Leben nicht änderst, die fatale Wirtschaft in deinem Hause nicht aufgibst.«

Peregrinus schnippte mit dem Daumen, und sogleich warf ihm Meister Floh das mikroskopische Glas ins Auge.

Die Gedanken des zürnenden Pepusch lauteten: »Ist es nicht ein Jammer, daß ein solcher gemütlicher verständiger Mensch auf solche bedrohliche Abwege geraten konnte, die ihn zuletzt zu völliger Abgespanntheit aller bessern Kräfte bringen können? Aber es ist gewiß, daß sein weiches, zum Trübsinn geneigtes Gemüt den Stoß nicht ertragen konnte, den ihm der Tod der Eltern versetzte, und daß er Trost in einem Treiben suchte, das an Wahnsinn grenzt. Er ist verloren, wenn ich ihn nicht rette. Ich will ihm desto härter zusetzen, mit desto grelleren Farben ihm das Bild seiner Torheit aufstellen, je mehr ich ihn hochschätze, sein wahrer Freund bin und bleibe.«[89]

Peregrinus erkannte an diesen Gedanken, daß er in dem mürrischen Pepusch seinen alten wahrhaften Freund unverändert wiedergefunden.

»George,« sprach Peregrinus, nachdem ihm Meister Floh wieder das mikroskopische Glas aus der Pupille genommen, »George, ich mag mit dir gar nicht darüber rechten, was du über das Tadelnswerte meiner Lebensweise sagst, denn ich weiß, daß du es sehr gut mit mir meinst. Doch muß ich dir sagen, daß es meine Brust hoch erhebt, wenn ich den Armen einen Freudentag bereiten kann, und ist dies, unerachtet ich dabei an niemanden weniger denke, als an mich selbst, gehässige Selbstsucht, so fehle ich wenigstens unbewußt. Das sind die Blumen in meinem Leben, das mir sonst vorkommt, wie ein trauriges unwirtbares Feld voll Disteln.«

»Was,« fuhr George Pepusch heftig auf, »was sprichst du von Disteln? warum verachtest du Disteln und setzest sie den Blumen entgegen? Bist du so wenig erfahren in der Naturkunde, um nicht zu wissen, daß die wunderherrlichste Blume, die es nur geben mag, nichts anders ist, als die Blüte einer Distel? Ich meine den Cactus grandiflorus. Und ist die Distel Zeherit nicht eben wieder der schönste Cactus unter der Sonne? Peregrinus, ich habe dir so lange verschwiegen oder vielmehr verschweigen müssen, weil ich selbst die klare Erkenntnis davon nicht hatte, aber jetzt erfahre es, daß ich selbst die Distel Zeherit bin und meine Ansprüche auf die Hand der Tochter des würdigen Königs Sekakis, der holden, himmlischen Prinzessin Gamaheh, durchaus nicht aufgeben will und werde. – Ich habe sie gefunden, aber in demselben Augenblick erfaßten mich dämonische Wächter und Bürgerwachen und schleppten mich ins Gefängnis.«

»Wie,« rief Peregrinus halb erstarrt vor Erstaunen, »auch du, George, bist verflochten in die seltsamste aller Geschichten?«

»Was für eine Geschichte?« fragte Pepusch.[90]

Peregrinus nahm gar keinen Anstand, auch seinem Freunde, wie Herrn Swammer, alles zu erzählen, was sich bei dem Buchbinder Lämmerhirt und darauf in seinem Hause begeben. Er verschwieg auch nicht die Erscheinung des Meisters Floh, wiewohl, man mag es wohl denken, den Besitz des geheimnisvollen Glases.

Georges Augen brannten, er biß sich in die Lippen, er schlug sich vor die Stirn, er rief, als Peregrinus geendet, in voller Wut: »Die Verruchte! die Treulose! die Verräterin!« – Um in der Selbstqual verzweifelnder Liebe jeden Tropfen aus dem Giftbecher, den ihm Peregrinus, ohne es zu ahnen, gereicht, gierig auszukosten, ließ er sich jeden kleinen Zug von Dörtjens Beginnen wiederholen. Dazwischen murmelte er: »In den Armen – an der Brust – glühende Küsse« – Dann sprang er vom Fenster zurück, lief in der Stube umher und gebärdete sich wie ein Rasender.

Vergebens rief Peregrinus ihm zu, er möge ihn doch nur weiter hören, er habe ihm noch viel Tröstliches zu sagen; Pepusch ließ nicht nach mit Toben.

Das Zimmer wurde aufgeschlossen, und ein Abgeordneter des Rats kündigte dem Herrn Peregrinus Tyß an, daß kein gesetzlicher Grund zu seiner längeren Haft gefunden worden und er zurückkehren könne in seine Wohnung.

Der erste Gebrauch, den Peregrinus von seiner wiedererlangten Freiheit machte, war, daß er sich als Gewährsmann für den verhafteten George Pepusch gestellte, dem er bezeugte, daß er wirklich der George Pepusch sei, mit dem er, in innigster Freundschaft verbunden, zu Madras gelebt, und der ihm als ein vermögender, ganz unbescholtener Mann bekannt sei. Von der Distel Zeherit, der schönsten aller Fackeldisteln, schwieg Peregrinus wohlweislich, da er einsah, daß unter den vorwaltenden Umständen dies dem Freunde hätte mehr schädlich als nützlich sein können.[91]

Meister Floh ergoß sich in sehr philosophischen lehrreichen Betrachtungen, die darauf hinausliefen, daß die Distel Zeherit, trotz der rauhen störrigen Außenseite, sehr human und verständig sei, jedoch sich stets ein wenig zu anmaßend zeige. Im Grunde genommen habe die Distel mit vollem Recht die Lebensweise des Herrn Peregrinus getadelt, sei auch dies in etwas zu harten Ausdrücken geschehen. Er seinerseits wolle wirklich dem Herrn Peregrinus raten, sich von nun an in die Welt zu begeben.

»Glaubt mir,« so sprach Meister Floh, »glaubt mir, Herr Peregrinus, es wird Euch gar manchen Nutzen bringen, wenn Ihr Eure Einsamkeit verlaßt. Fürs erste dürftet Ihr nicht mehr fürchten, scheu und verlegen zu erscheinen, da Ihr, das geheimnisvolle Glas im Auge, die Gedanken der Menschen beherrschet, es daher ganz unmöglich ist, daß Ihr nicht überall den richtigen Takt behaupten solltet. Wie fest, wie ruhig könnt Ihr vor den höchsten Häuptern auftreten, da ihr Innerstes klar vor Euern Augen liegt. Bewegt Ihr Euch frei in der Welt, so wird Euer Blut leichter fließen, jedes trübsinnige Brüten aufhören und, was das beste ist, bunte Ideen und Gedanken werden aufgehen in Euerm Gehirn, das Bild der schönen Gamaheh wird von seinem Glanz verlieren, und bald seid Ihr dann besser imstande, mir Wort zu halten.«

Herr Peregrinus fühlte, daß beide, George Pepusch und Meister Floh, es sehr gut mit ihm meinten, und er nahm sich vor, ihren weisen Rat zu befolgen. Doch sowie er die süße Stimme der holden Geliebten vernahm, welche öfters sang und spielte, so glaubte er nicht, wie es möglich sein werde, das Haus zu verlassen, das ihm zum Paradiese geworden.

Endlich gewann er es doch über sich, einen öffentlichen Spaziergang zu besuchen. Meister Floh hatte ihm das Glas ins Auge gesetzt und Platz genommen im Jabot, wo er sich sanft hin und her zu schaukeln wußte.[92]

»Habe ich endlich das seltene Vergnügen, meinen guten lieben Herrn Tyß wiederzusehen? Sie machen sich rar, bester Freund, und alles schmachtet doch nach Ihnen. Lassen Sie uns irgendwo eintreten, eine Flasche Wein leeren auf Ihr Wohl, mein Herzensfreund! – Wie ich mich freue, Sie zu sehen!« So rief ihm ein junger Mann entgegen, den er kaum zwei-, dreimal gesehen. Die Gedanken lauteten: »Kömmt der alberne Misanthrop auch einmal zum Vorschein? – Aber ich muß ihm schmeicheln, weil ich nächstens Geld von ihm borgen will. Er wird doch nicht des Teufels sein und meine Einladung annehmen? Ich habe keinen Groschen Geld, und kein Wirt borgt mir mehr.«

Zwei sehr zierlich gekleidete junge Mädchen traten dem Peregrinus geradezu in den Weg. Es waren Schwestern, weitläuftig mit ihm verwandt.

»Ei,« rief die eine lachend, »ei, Vetterchen, trifft man Sie einmal? Es ist gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich so einsperren, daß Sie sich nicht sehen lassen. Sie glauben nicht, wie Mutterchen Ihnen gut ist, weil Sie solch ein verständiger Mensch sind. Versprechen Sie mir, bald zu kommen. Da! Küssen Sie mir die Hand.« – Die Gedanken lauteten: »Wie, was ist das? was ist mit dem Vetter vorgegangen? Ich wollte ihn recht in Furcht und Angst setzen. Sonst lief er vor mir, vor jedem Frauenzimmer, und jetzt bleibt er stehen und guckt mir so ganz sonderbar ins Auge und küßt mir die Hand ohne alle Scheu! Sollte er in mich verliebt sein? Das fehlte noch! – Die Mutter sagt, er sei etwas dämisch. Was tut's, ich nehm' ihn; ein dämischer Mann ist, wenn er reich ist, wie der Vetter, eben der beste.« Die Schwester hatte mit niedergeschlagenen Augen und hochroten Wangen bloß gelispelt: »Ja, besuchen Sie uns recht bald, lieber Vetter!« – Die Gedanken lauteten: »Der Vetter ist ein recht hübscher Mensch, und ich begreife nicht, warum ihn die Mutter albern und abgeschmackt nennt und ihn nicht[93] leiden mag. Wenn er in unser Haus kommt, verliebt er sich in mich, denn ich bin das schönste Mädchen in ganz Frankfurt. Ich nehme ihn, weil ich einen reichen Menschen heiraten will, damit ich bis eilf Uhr schlafen darf und teurere Shawls tragen kann als die Frau von Lersner.« – Ein vorüberfahrender Arzt ließ, als er den Peregrinus erblickte, den Wagen halten und schrie zum Schlage heraus: »Guten Morgen, bester Tyß! Sie sehen aus, wie das Leben! der Himmel erhalte Sie bei guter Gesundheit! Aber wenn Ihnen was zustoßen sollte, so denken Sie an mich, an den alten Freund Ihres seligen Herrn Vaters. – Solchen kräftigen Naturen helfe ich auf die Beine in weniger Zeit! Adieu!« Die Gedanken lauteten: »Ich glaube, der Mensch ist aus purem Geiz beständig gesund? Aber er sieht mir so blaß, so verstört aus, er scheint mir endlich was am Halse zu haben. Nun! kommt er mir unter die Hände, so soll er nicht wieder so bald vom Lager aufstehen, er soll tüchtig büßen für seine hartnäckige Gesundheit.«

»Sei'n Sie schönstens gegrüßt, Wohledler!« rief ihm gleich darauf ein alter Kaufmann entgegen; »sehen Sie, wie ich laufe und renne, wie ich mich plagen muß der Geschäfte halber. Wie weise ist es, daß Sie sich den Geschäften entzogen, unerachtet es bei Ihren Einsichten Ihnen gar nicht fehlen könnte, den Reichtum Ihres braven Herrn Vaters zu verdoppeln.«

Die Gedanken lauteten: »Wenn der Mensch nur Geschäfte machen wollte, der verwirrte Einfaltspinsel würde in kurzer Zeit seinen ganzen Reichtum verspekulieren, und das wäre dann ein Gaudium. Der alte Herr Papa, der seine Freude daran hatte, andere ehrliche Leute, die sich durch ein klein Bankerottchen aufhelfen wollten, schonungslos zu ruinieren, würde sich im Grabe umdrehen.« –

Noch viel mehr solche schneidende Widersprüche zwischen Worten und Gedanken liefen dem Peregrinus in den Weg. Stets richtete er seine Antworten mehr nach dem[94] ein, was die Leute gedacht, als nach dem, was sie gesprochen, und so konnt' es nicht fehlen, daß, da Peregrinus in der Leute Gedanken eingedrungen, sie selbst gar nicht wußten, was sie von dem Peregrinus denken sollten. Zuletzt fühlte sich Herr Peregrinus ermüdet und betäubt. Er schnippte mit dem Daumen, und sogleich verschwand das Glas aus der Pupille des linken Auges.

Als Peregrinus in sein Haus trat, wurde er durch ein seltsames Schauspiel überrascht. Ein Mann stand in der Mitte des Flurs und sah durch ein seltsam geformtes Glas unverwandten Blickes nach Herrn Swammers Stubentür. Auf dieser Türe spielten aber sonnenhelle Kreise in Regenbogenfarben, fuhren zusammen in einen feurigglühenden Punkt, der durch die Türe zu dringen schien. Sowie dies geschehen, vernahm man ein dumpfes Ächzen, von Schmerzenslauten unterbrochen, das aus dem Zimmer zu kommen schien.

Zu seinem Entsetzen glaubte Herr Peregrinus Gamahehs Stimme zu erkennen.

»Was wollen Sie? Was treiben Sie hier?« So fuhr Peregrinus auf den Mann los, der wirklich Teufelskünste zu treiben schien, indem stets rascher, stets feuriger die Regenbogenkreise spielten, stets glühender der Punkt hineinfuhr, stets schmerzlicher die Jammerlaute aus dem Zimmer ertönten.

»Ah!« sprach der Mann, indem er seine Gläser zusammenschob und schnell einsteckte, »ah, sieh da, der Herr Wirt! Verzeihen Sie, bester Herr Tyß, daß ich hier ohne Ihre gütige Erlaubnis operiere. Aber ich war bei Ihnen, um mir diese Erlaubnis zu erbitten. Da sagte mir aber die gute freundliche Aline, daß Sie ausgegangen wären, und die Sache hier unten litt keinen Aufschub.«

»Welche Sache?« fragte Peregrinus ziemlich barsch, »welche Sache hier unten ist's, die keinen Aufschub leidet?«

»Sollten Sie,« fuhr der Mann mit widrigem Lächeln fort, »sollten Sie, wertester Herr Tyß, denn nicht wissen,[95] daß mir meine ungeratene Nichte Dörtje Elverdink entlaufen ist? Sie sind ja, wiewohl mit großem Unrecht, als ihr Entführer verhaftet worden, weshalb ich denn auch, sollte es darauf ankommen, mit vielem Vergnügen Ihre völlige Unschuld bezeugen werde. Nicht zu Ihnen, nein, zu dem Herrn Swammerdamm, der sonst mein Freund war, sich aber jetzt in meinen Feind verkehrt hat, ist die treulose Dörtje geflüchtet. Sie sitzt hier im Zimmer, ich weiß es, und zwar allein, da Herr Swammerdamm ausgegangen. Eindringen kann ich nicht, da die Türe fest verschlossen und verriegelt ist, ich aber viel zu gutmütig bin, um Gewalt anzuwenden. Deshalb nehme ich mir aber die Freiheit, die Kleine mit meinem optischen Marter-Instrument etwas zu quälen, damit sie doch erkenne, daß ich, trotz ihres eingebildeten Prinzessintums, ihr Herr und Meister bin!«

»Der Teufel,« schrie Peregrinus im höchsten Grimm, »der Teufel sind Sie, Herr! aber nicht Herr und Meister der holden himmlischen Gamaheh. Fort aus dem Hause, treiben Sie Ihre Satanskünste, wo Sie wollen, aber hier scheitern Sie damit, dafür werde ich sorgen.« –

»Ereifern,« sprach Leuwenhoek, »ereifern Sie sich doch nur nicht, bester Herr Tyß, ich bin ein unschuldiger Mann, der nichts will als alles Gute. Sie wissen nicht, wessen Sie sich annehmen. Es ist ein kleiner Unhold, ein kleiner Basilisk, der dort im Zimmer sitzt in der Gestalt des holdesten Weibleins. Möchte sie, wenn ihr der Aufenthalt bei meiner Wenigkeit durchaus mißfiel, doch geflohen sein; aber durfte die treulose Verräterin mir mein schönstes Kleinod, den besten Freund meiner Seele, ohne den ich nicht leben, nicht bestehen kann, rauben? Durfte sie mir den Meister Floh entführen? – Sie werden, Verehrtester, nicht verstehen, was ich meine, aber« –

Hier konnte sich Meister Floh, der von dem Jabot des Herrn Peregrinus hinaufgesprungen war und den sicheren und bequemeren Platz in der Halsbinde eingenommen[96] hatte, nicht enthalten, ein feines höhnisches Gelächter aufzuschlagen.

»Ha,« rief Leuwenhoek, wie vom jähen Schreck getroffen, »ha! was war das! – sollte es möglich sein? – ja, hier an diesem Orte! – erlauben Sie doch, verehrtester Herr Peregrinus!«

Damit streckte Leuwenhoek den Arm aus, trat dicht heran an Herrn Peregrinus und wollte nach seiner Halsbinde greifen.

Peregrinus wich ihm aber geschickt aus, faßte ihn mit starker Faust und schleppte ihn nach der Haustüre, um ihn ohne weiteres hinauszuwerfen. Eben als Peregrinus sich mit Leuwenhoek, der sich in ohnmächtigen Protestationen erschöpfte, dicht an der Türe befand, wurde diese von außen geöffnet, und hinein stürmte George Pepusch, hinter ihm aber Herr Swammerdamm.

Sowie Leuwenhoek seinen Feind Swammerdamm erblickte, riß er sich los mit der höchsten Anstrengung seiner letzten Kräfte, sprang zurück und stemmte sich mit dem Rücken gegen die Türe des verhängnisvollen Zimmers, wo die Schöne gefangen saß.

Swammerdamm zog, dies gewahrend, ein kleines Fernglas aus der Tasche, schob es lang aus und ging dem Feinde zu Leibe, indem er laut rief: »Zieh, Verdammter, wenn du Courage hast!«

Schnell hatte Leuwenhoek ein ähnliches Instrument in der Hand, schob es ebenfalls auseinander und schrie: »Nur heran, ich stehe dir, bald sollst du meine Macht fühlen!« – Beide setzten nun die Ferngläser ans Auge und fielen grimmig gegeneinander aus mit scharfen mörderischen Streichen, indem sie ihre Waffen durch Aus- und Einschieben bald verlängerten, bald verkürzten. Da gab es Finten, Paraden, Volten, kurz alle nur mögliche Fechterkünste, und immer mehr schienen sich die Gemüter zu erhitzen. Wurde einer getroffen, so schrie er laut auf, sprang in die Höhe, machte die wunderlichsten Kapriolen,[97] die schönsten Entrechats, Pirouetten, wie der beste Solotänzer von der Pariser Bühne, bis der andere ihn mit dem verkürzten Fernglase fest fixierte. Geschah diesem nun Gleiches, so machte er es ebenso. So wechselten sie mit den ausgelassensten Sprüngen, mit den tollsten Gebärden, mit dem wütendsten Geschrei; der Schweiß tropfte ihnen von der Stirne herab, die blutroten Augen traten ihnen zum Kopfe heraus, und da man nur ihr wechselseitiges Anblicken durch die Ferngläser, sonst aber keine Ursache ihres Veitstanzes gewahrte, so mußte man sie für Rasende halten, die dem Irrenhause entsprungen. – Die Sache war übrigens ganz artig anzusehen. –

Herrn Swammerdamm gelang es endlich, den bösen Leuwenhoek aus seiner Stellung an der Türe, die er mit hartnäckiger Tapferkeit behauptet, zu vertreiben und den Kampf in den Hintergrund des Flurs zu spielen.

George Pepusch nahm den Augenblick wahr, drückte die frei gewordene Türe, die weder verschlossen noch verriegelt war, auf und schlüpfte ins Zimmer hinein. Sogleich stürzte er aber auch wieder heraus, schrie: »Sie ist fort – fort!« und eilte mit Blitzesschnelle aus dem Hause von dannen. – Beide, Leuwenhoek und Swammerdamm, hatten sich schwer getroffen, denn beide hüpften, tanzten auf ganz tolle Weise und machten dazu mit Heulen und Schreien eine Musik, die dem Wehgeschrei der Verdammten in der Hölle zu gleichen schien.

Peregrinus wußte in der Tat nicht recht, was er beginnen sollte, die Wütenden auseinanderzubringen und so einen Auftritt zu endigen, der ebenso lächerlich als entsetzlich war. Endlich gewahrten beide, daß die Türe des Zimmers weit offen stand, vergaßen Kampf und Schmerz, steckten die verderblichen Waffen ein und stürzten sich ins Zimmer.

Schwer fiel es nun erst dem Herrn Peregrinus Tyß aufs Herz, daß die Schönste aus dem Hause entflohen, er verwünschte den abscheulichen Leuwenhoek in die Hölle.[98] Da ließ sich auf der Treppe Alinens Stimme vernehmen. Sie lachte laut auf und rief wiederum dazwischen: »Was man nicht alles erlebt! Wundersam – unglaublich! – wer hätte sich das träumen lassen!« –

»Was ist,« fragte Peregrinus kleinlaut, »was ist denn schon wieder Unglaubliches vorgefallen?«

»O lieber Herr Tyß,« rief ihm die Alte entgegen, »kommen Sie doch nur schnell herauf, gehen Sie doch nur in Ihr Zimmer.«

Die Alte öffnete ihm schalkisch kichernd die Türe seines Gemachs. Als er hineintrat, da, o Wunder! o Wonne! hüpfte ihm die holde Dörtje Elverdink entgegen, gekleidet in das verführerische Gewand von Silberzindel, wie er sie bei dem Herrn Swammer erblickt. »Endlich, endlich sehe ich dich wieder, mein süßer Freund,« lispelte die Kleine und wußte sich dem Peregrinus so anzuschmiegen, daß er nicht umhinkonnte, sie, aller guten Vorsätze unerachtet, auf das zärtlichste zu umarmen. Die Sinne wollten ihm vergehen vor Entzücken und Liebeslust. –

Wohl oft hat es sich aber begeben, daß jemand gerade im höchsten Rausch der überschwenglichsten Wonne sich recht derb die Nase stieß und plötzlich, geweckt durch den irdischen Schmerz, aus dem seligen Jenseits hinabfiel in das ordinäre Diesseits. Geradeso ging es Herrn Peregrinus. Als er sich nämlich hinabbückte, um Dörtjes süßen Mund zu küssen, stieß er sich ganz entsetzlich die nicht unansehnliche Nase an dem Diadem von funkelnden Brillanten, das die Kleine in den schwarzen Locken trug. Der empfindliche Schmerz des Stoßes an den eckicht geschliffenen Steinen brachte ihn hinlänglich zu sich selbst, um das Diadem zu gewahren. Das Diadem mahnte ihn aber an die Prinzessin Gamaheh, und dabei mußte ihm wieder alles einfallen, was ihm Meister Floh von dem verführerischen Wesen gesagt hatte. Er bedachte, daß einer Prinzessin, der Tochter eines mächtigen Königs, unmöglich an seiner Liebe etwas gelegen sein könne, und daß ihr[99] ganzes liebeatmendes Betragen wohl nur als gleisnerischer Trug gelten dürfe, durch den die Verräterin sich den zauberischen Floh wiederverschaffen wolle. – Dies betrachtend, glitt ein Eisstrom durch sein Inneres, der die Liebesflammen, wenn auch nicht gänzlich auslöschte, so doch wenigstens dämpfte.

Peregrinus wand sich sanft aus den Armen der Kleinen, die ihn liebend umfaßt hatte, und sprach leise mit niedergeschlagenen Augen: »Ach du lieber Himmel! Sie sind ja doch die Tochter des mächtigen Königs Sekakis, die schöne, hohe, herrliche Prinzessin Gamaheh! – Verzeihung, Prinzessin, wenn mich ein Gefühl, dem ich nicht widerstehen konnte, hinriß zur Torheit, zum Wahnsinn. Aber Sie selbst, Durchlauchtige –«

»Was,« unterbrach Dörtje Elverdink den Peregrinus, »was sprichst du, mein holder Freund? Ich eines mächtigen Königs Tochter? ich eine Prinzessin? Ich bin ja deine Aline, die dich lieben wird bis zum Wahnsinn, wenn du – doch, wie ist mir denn? Aline, die Königin von Golkonda? die ist ja schon bei dir; ich habe mit ihr gesprochen. Eine gute, liebe Frau, doch alt ist sie geworden, und lange nicht mehr so hübsch, als zur Zeit ihrer Verheiratung mit einem französischen General! – Weh mir! ich bin wohl nicht die rechte, ich habe wohl nie in Golkonda geherrscht? – Weh mir!« –

Die Kleine hatte die Augen geschlossen und begann zu wanken. Peregrinus brachte sie auf den Sofa.

»Gamaheh,« fuhr sie, wie somnambul sprechend, fort, »Gamaheh sagst du? – Gamaheh, die Tochter des Königs Sekakis? Ja, ich erinnere mich, in Famagusta! – ich war eigentlich eine schöne Tulpe – doch nein, schon damals fühlte ich Sehnsucht und Liebe in der Brust. – Still, still davon!«

Die Kleine schwieg, sie schien ganz einschlummern zu wollen. Peregrinus unternahm das gefährliche Wagestück, sie in eine bequemere Stellung zu bringen. Doch sowie[100] er die Holde sanft umschlang, stach ihn eine versteckte Nadel recht derb in den Finger. Seiner Gewohnheit nach schnippte er mit dem Daumen. Meister Floh hielt das aber für das verabredete Zeichen und setzte ihm augenblicklich das mikroskopische Glas in die Pupille.

So wie immer erblickte Peregrinus hinter der Hornhaut der Augen das seltsame Geflecht der Nerven und Adern, die bis in das tiefe Gehirn hineingingen. Aber durch dies Geflecht schlangen sich hell blinkende Silberfaden, wohl hundertmal dünner als die Faden des dünnesten Spinngewebes, und eben diese Faden, die endlos zu sein schienen, da sie sich hinausrankten aus dem Gehirn in ein selbst dem mikroskopischen Auge unentdeckbares Etwas, verwirrten, vielleicht Gedanken sublimerer Art, die andern von leichter zu erfassender Gattung. Peregrinus gewahrte bunt durcheinander Blumen, die sich zu Menschen gestalteten, dann wieder Menschen, die in die Erde zerflossen und dann als Steine, Metalle hervorblinkten. Und dazwischen bewegten sich allerlei seltsame Tiere, die sich unzähligemal verwandelten und wunderbare Sprachen redeten. Keine Erscheinung paßte zu der anderen, und in der bangen Klage brustzerreißender Wehmut, die durch die Luft ertönte, schien sich die Dissonanz der Erscheinungen auszusprechen. Doch eben diese Dissonanz verherrlichte nur noch mehr die tiefe Grundharmonie, die siegend hervorbrach und alles, was entzweit geschienen, vereinigte zu ewiger namenloser Lust.

»Verwirrt,« zischelte Meister Floh, »verwirrt Euch nicht, guter Herr Peregrinus, das sind Gedanken des Traums, die Ihr da schaut. Sollte auch vielleicht noch etwas mehr dahinterstecken, so ist es wohl jetzt nicht an der Zeit, das weiter zu untersuchen. Ruft nur die verführerische Kleine bei ihrem rechten Namen und fragt sie dann aus, wie Ihr nur Lust habt.«

Da die Kleine verschiedene Namen führte, so hätte es, wie man denken sollte, dem Peregrinus schwer fallen[101] müssen, den rechten zu treffen. Peregrinus rief aber, ohne sich im mindesten zu besinnen: »Dörtje Elverdink! Holdes, liebes Mädchen! wäre es kein Trug? wäre es möglich, daß du mich wirklich lieben könntest?« Sogleich erwachte die Kleine aus ihrem träumerischen Zustande, schlug die Äugelein auf und sprach mit leuchtendem Blick: »Welche Zweifel, mein Peregrinus? Kann ein Mädchen wohl das beginnen, was ich begann, wenn nicht die glühendste Liebe ihre Brust erfüllt? Peregrinus, ich liebe dich, wie keinen andern, und willst du mein sein, so bin ich dein mit ganzer Seele und bleibe bei dir, weil ich nicht von dir lassen kann, und nicht etwa bloß, um der Tyrannei des Onkels zu entfliehen.«

Die Silberfaden waren verschwunden, und die gehörig geordneten Gedanken lauteten: »Wie ist das zugegangen? Erst heuchelte ich ihm Liebe, bloß um den Meister Floh mir und dem Leuwenhoek wiederzugewinnen, und jetzt bin ich ihm in der Tat gut geworden. Ich habe mich in meinen eignen Fallstricken gefangen. Ich denke kaum mehr an den Meister Floh, ich möchte ewig dem Mann angehören, der mir liebenswürdiger vorkommt als alle, die ich bis jetzt gesehen.«

Man kann sich vorstellen, wie diese Gedanken alles selige Entzücken in Peregrinus' Brust entflammten. Er fiel vor der Holden nieder, bedeckte ihre Händchen mit tausend glühenden Küssen, nannte sie seine Wonne, seinen Himmel, sein ganzes Glück. –

»Nun,« lispelte die Kleine, indem sie ihn sanft an ihre Seite zog, »nun, mein Teurer, wirst du gewiß einen Wunsch nicht zurückweisen, von dessen Erfüllung die Ruhe, ja das ganze Dasein deiner Geliebten abhängt.« –

»Verlange,« erwiderte Peregrinus, indem er die Kleine zärtlich umschlang, »verlange alles, mein süßes Leben, alles, was du willst, dein leisester Wunsch ist mir Gebot. Nichts in der Welt ist mir so teuer, daß ich es nicht dir, nicht deiner Liebe mit Freuden opfern sollte.«[102]

»Weh mir,« zischelte Meister Floh. »Wer hätte das gedacht, daß die Treulose siegen sollte. Ich bin verloren!«

»So höre denn,« fuhr die Kleine fort, nachdem sie die glühenden Küsse, die Peregrinus auf ihre Lippen gedrückt, feurig erwidert hatte, »so höre denn, ich weiß, auf welche Art der« –

Die Tür sprang auf, und hinein trat Herr George Pepusch. »Zeherit!« schrie wie in Verzweiflung die Kleine auf und sank leblos in den Sofa zurück.

Die Distel Zeherit flog aber auf die Prinzessin Gamaheh los, nahm sie in den Arm und rannte mit ihr blitzschnell von dannen.

Meister Floh war für diesmal gerettet. –[103]

Quelle:
E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden, Band 6, Berlin 1963, S. 83-104.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meister Floh
Meister Floh
Meister Floh : e. Märchen in 7 Abenteuern zweier Freunde. [Mit e. Nachw. von Werner Kahle. Ill. von Eva Groh]
Meister Floh
Meister Floh: Vorzugsausgabe
Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde

Buchempfehlung

L'Arronge, Adolph

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik

78 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon