Hugo von Hofmannsthal

Worte zum Gedächtnis Molières

I

Prolog

Gesprochen vor dem »eingebildeten Kranken« von der Schauspielerin im Kostüm der Dienstmagd Toinette

Verwundern Sie sich nicht, daß ich heraustrete anstatt eines Herren im Festkleid, ich, die Dienstmagd Toinette des Herrn Argan, es geschieht ganz im Sinne des Mannes, den wir heute ehren wollen, zu nennen brauche ich ihn ja nicht. Er hat des öfteren keinem feineren und gebildeteren Geschöpf als ich es bin seine allerbesten Sachen in den Mund gelegt, und es nicht verschmäht, unsereinen zum Sprachrohr für seinen Kopf und sein Herz zu machen, wo er doch aller Menschen Platz sehr gut gekannt hat und Manns genug war, auch den König an den seinen zu stellen, ich meine in seinen Gedanken, denn er war ein furchtloser Kopf und ein großer Herr wie einer, seinem Gemüt nach, wenngleich er nach dem Hofalmanach ein Lakai war und unter den Hoftapezierergehilfen geführt wurde. Soll ich ihn aber vor Ihnen loben zu seinem dreihundertsten Geburts- und Gedächtnistag, so muß ich den Mund nur wenig aufmachen, denn er war der geschworene Feind und Spötter aller Schönredner: er hielt sie insgesamt für Flachköpfe, Narren oder abgefeimte Heuchler – obwohl er, wenn er wollte, eine Rede hinsetzen konnte, biegsam und feurig genug, die Erde und den Himmel umzuwenden; denn das war sein Handwerk, Figuren zu ersinnen und ihnen Reden in den Mund zu legen, die so natürlich aus ihrem Mund herauskamen wie das Miauen einer Katze und dabei das Zwerchfell kitzelten und zugleich das Herz schneller oder langsamer pochen machten und oben bei den Stirnen anklopften und den Menschenverstand aufweckten. Darin war er ein Meister und ist dafür erkannt worden über die ganze Welt hin, seit dreihundert Jahren, und das will etwas heißen, den Appetit von neun aufeinanderfolgenden Menschengeschlechtern[157] gestillt zu haben, denn jedes bringt einen anderen mit, die Nahrung aber, die er anbot, hat Stich gehalten wie das ehrliche tägliche Brot, das auch nicht aus der Mode kommt, und seine Kinder, ich meine, die ihm bei der Stirn hervorgesprungen sind, haben ihm mehr Enkel und Urenkel in die Welt gesetzt, als ich ihm an den zehn Fingern von beiden Händen aufzählen könnte, und nähme ich noch Ihrer aller Hände dazu, und ich habe sagen hören, daß der Tasso des großen Goethe auch noch seinen Misanthropen für einen seinigen Ahnherrn ansieht, aber das geht über meinen Horizont – fürs übrige aber bürge ich Ihnen, und daß es nicht die schlechtesten Kreaturen sind, die von ihm abstammen.

Das macht, er hat uns, die wir seine erstgeborenen Geschöpfe sind, aus seinem Innersten etwas mitgegeben; sein Innerstes aber war: Verstehen der Menschen, nicht so, wie einer bloß mit dem Kopfe versteht, sondern schon mit dem ganzen Ich und allen Eingeweiden, daß er im Verstehen sich mit meinte und sich selber mitverspottete, denn er hielt es, was das Verhalten im Leben anlangt, für das Richtige, daß jeder mit Anstand seinem Geschäfte nachgehe, und das seinige war nun einmal, die Leute lachen zu machen. In welchem Sinne er das aber verstand, das wird Ihnen aufgehen, wenn Sie an den Narren Orgon denken, wie er unter den Tisch kriecht und seine Frau mit dem Tartüff allein läßt, oder an Harpagon den Geizigen, wie er seine Kassette umarmt, oder an Arnolphe, den armen, verliebten Narren, oder an meinen armen Herrn Argan da in seinem Lehnstuhl, der Ihnen gleich vor Augen kommen wird. Es ist schon keine ganz gewöhnliche Sorte von Lachen, auf die er es abgesehen hat: es mischt sich zuweilen ein Weh hinein oder ein kleines Gruseln. Das ist seine Stärke.

Was kann ich Ihnen jetzt noch viel von ihm sagen? Wenn dann der Lehnstuhl des Herrn Argan hineingeschoben wird – in dem ist er sozusagen gestorben. Ja, er schonte sich nicht, er gab sich preis, aber schon wie einer, er war ein Held, ein großer Held in seiner Weise, und da er es unternommen hatte, ein Komödiendirektor zu sein und ein Komödienspieler – und dabei doch des Menschen Würde zu wahren – und er hat sie[158] gewahrt, meiner Seel, und wenn der König mit ihm sprach, so war ihm, er habe mit seinesgleichen gesprochen –, so achtete er einen kleinen trockenen Husten für nichts und machte sich auch nichts aus einem Krampf, der ihn hie und da anfaßte, und aus heißen fiebrigen Händen, sondern spielte fort, und eines Abends, als man besonders hatte über ihn lachen können, da faßte ihn der Krampf ein bißchen heftig an, und man mußte ihn, in den Schlafrock des Herrn Argan gewickelt, hinaustragen, nicht anders als man einen zu Tod geschossenen Seehelden, in die Flagge des Admiralschiffes gewickelt, hinunter in die Kajüte trägt, indes alle, an denen sie ihn vorbeitragen, still stehen und salutieren – er aber will nicht anders salutiert sein als damit, daß Sie lachen über unsere Gebärden und die Reden, die er uns in den Mund gelegt hat – denn lachen machen, das war sein Handwerk, und das, was ich jetzt gesagt habe, ist alles, was er mir, aufs höchste, zu sagen erlaubt hätte.

Sie macht die Reverenz und tritt hinter den Vorhang.


II

So ungefähr könnte Toinette sprechen, aber es bliebe dabei noch etwas ungesagt, das auch gebildetere Personen als Toinette, und selbst solche, die dicke Bücher über Molière geschrieben haben, noch haben ungesagt sein lassen. Da war dieser Mensch Poquelin, genannt Molière, Hofbediensteter, Tapezierer, Schauspieler. Er war ein Kind des Volkes. Er liebte den gesunden natürlichen Verstand und liebte nicht die Besonderheiten. Er konnte, was er wollte, und wollte nichts anderes, als was er konnte. Er hat sein Handwerk verstanden wie kein zweiter. Was das Wesen Molières, den Menschen anlangt, so hat er auf diesen nicht sehr aufgepaßt; er hat sich nicht überschätzt. Er war Schauspieldirektor, Gatte, Betrogener, Lustigmacher; dabei war er unsäglich einsam, aber natürlich fortwährend unter Menschen, umgeben von dem Haß unfähiger Literaten, schlechter Schauspieler, frecher Höflinge, frommtuender Intriganten. Aber er war ein tiefer Kopf, einer[159] der tiefsten und stärksten Köpfe seines Jahrhunderts, nein, aller Jahrhunderte. Es war in ihm etwas, das einen Rousseau aufreizte, aber einen Goethe mit nie erlöschender ehrfürchtiger Liebe erfüllte. Was war dies? Ist es eigentlich in seinem dichterischen Werk enthalten? »War es genug«, hat man gefragt, »der Juvenal der Preziösen zu sein, der Verspotter schlechter Komödianten vom Hôtel de Bourgogne, der Satiriker der Ärzte, der Provinzialen, der affektierten Sprachreiniger, der Koketten und Hypochonder?« Musset hat es ausgedrückt, die Verse sind bekannt genug:


Ne trouvait-il rien mieux pour émouvoir sa bile

Qu'une méchante femme et qu'un méchant sonnet?

Il avait autre chose pour mettre au cabinet.


Ein Franzose, ein konservativer berühmter Kritiker, hat die Analyse seiner »allgemeinen Ideen« gemacht und schließt das Kapitel mit den Worten: »Ich würde nicht so weit gehen« – als ein anderer, der sehr weit in seiner Kritik geht – »aber ich würde sagen, daß eine Nation, die Molière zu ihrem Führer im Sittlichen genommen hätte und die seinen Vorschriften genau folgen würde, nicht sehr schlimm wäre – sie hätte immerhin, was man gesunde Vernunft nennt, und einen guten Geschmack –, aber sie wäre die platteste Nation von der Welt.« Welch ein Urteil! Aber diese Nation nennt ihn den größten Dichter, und er ist es: wir fühlen, daß er es ist. Es gibt also etwas in einem Dichter, das geistiger ist als seine Ideen, gewichtiger als seine Werke, dauerhafter als sein in Worte formulierter Ruhm. Hier rühren wir an das Geheimnis der Kunst und der Künstler.

Den Werken haftet etwas Bürgerliches an. Zwar der »Misanthrop« ist ein unvergängliches ernstes Lustspiel, und die »Schule der Frauen« steht vielleicht noch darüber, man hat sie seinen »Hamlet« genannt. Aber immerhin: hier ist nichts, das sich, was den geistigen Gehalt anlangt, neben den großen Werken Goethes hielte, geschweige denn neben Calderon, neben Shakespeare, neben Dante. Die Franzosen selbst zögern, ihn »Dichter« zu nennen; sie sind zurückhaltend und[160] verstehen abzuwägen. Aber aus diesem ganzen dichterischen Werk sieht uns ein schmerzlich vergeistigtes, unendlich edles und überlegenes Gesicht an, die Lebensmaske eines vollkommen großen Menschen. Wir erkennen kaum mehr darin die Merkmale einer Nation, und erkennen sie dennoch, aber zugleich etwas höchst Allgemeines, Europäisches, ja Menschliches. Alle Qual, alle Duldung, alles Verstehen ist darin reine geistige Kraft und Heiterkeit geworden. Wir stehen mit Ehrfurcht vor einer Figur, die mit keinen Maßen, die außer ihr lägen, zu messen ist – vor dem gültigen Repräsentanten einer der großen Nationen Europas.[161]

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1–3. Band 2, Frankfurt a.M. 1979.
Lizenz:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon