Der Schatten eines Toten ...

[112] Der Schatten eines Toten fiel auf uns

Und einer Künstlerseele letzter Kampf,

Der Seele, die sich sterben zugesehn

Und die noch malen wollte ihren Krampf.


Und uns durchzitterte die böse Gier,

Nachzuempfinden dieses Toten Graun,

Als könnten wir durch sein gebrochnes Aug

Die tiefgeheimen Lebensgründe schaun.


Und wie ein Sterbender sich stöhnend wälzt

Und seine Decken zuckend von sich stößt,

So hatte der rings um uns, in uns selbst

Verhüllte Qual, betäubte Qual entblößt.


Unsagbar widerwärtig quoll es auf,

Wie Wellen, Ekelwellen brachs herein,

So sinnlos leer und frierend kalt und öd,

Ein Atemzug der überreichsten Pein:


Als wär des Lebens Inhalt ausgelöscht,

Das Heiligste gelöst in Qualm und Dunst ...

Verstehn, Gestalten, Künstler sein, wozu?

Wozu denn Leben? und wozu die Kunst?


Erlognes an Erlognes, Wort an Wort

Wie bunte Steinchen aneinanderreihn!

Was wissen wir, wodurchs zusammenhält;

Und muß es so, und kann nicht anders sein?!


Und wär der Blick, mit dem wir es erschaun,

Nur unser, unser der erträumte Schein!

Er ist es nicht, und was ich denke, ist,

Ja, dieser Schrei ist Nachhall, ist nicht mein!
[113]

Nur eins ist mein, wie's auch dem Tier gehört,

Ist nicht gespenstisch, keinem nachgefühlt;

Daß mich bei deiner trostverschloßnen Angst

Ein seltsam dumpfes Mitleid hat durchwühlt.


Und daß ich, selber ohne Trost und Rat,

Dich trösten wollte, wie ein Kind ein Kind,

Das nichts von unverstandnem Kummer weiß,

Von Dingen, die unfaßbar in uns sind.


Das ist vielleicht das Letzte was uns bleibt,

Wenn der Gedanke ungedacht schon lügt:

Daß auf ein zitternd Herz das andre lauscht

Und leisen Drucks zur Hand die Hand sich fügt ...

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 112-114.
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