Neuntes Kapitel

[47] Hermann war indessen nach dem Walde hinausgeeilt, worin er das wilde Mädchen gefunden hatte. Rasch war, sobald er von der Herzogin die Mittel besaß, sein Plan zu Flämmchens Rettung entworfen worden. Vorerst sollte sie in dem Dorfe jenseits des Waldes untergebracht werden, dann wollte er die Sache mit dem Komödianten abmachen, und wenn dies geschehen, hatte er vor, das Kind in eine benachbarte Pension zu geben, deren Vorsteherin ihm bekannt war.

So war sein Entwurf, an dessen Gelingen er nicht zweifelte. Es war bei ihm ein Ehrenpunkt geworden, diese Angelegenheit zur Zufriedenheit der Herzogin zu Ende zu bringen, die ihn[47] nach seiner Meinung so ungerechterweise von ihrem holden Antlitze hinwegwies. Flämmchens romantische Gestalt schwebte vor seinem Geiste, sein Blut befand sich in heftiger Wallung.

Vielleicht bewirkte es dieser aufgeregte Zustand, daß er im Walde, den er halb laufend erreicht hatte, bald von der Richtung, die er am Morgen genommen, abkam. Der umgestürzte Stamm, welcher ihm den Ort, wo Flämmchen weilte, zeigen sollte, blieb unsichtbar, und es dauerte nicht lange, so sah er sich zwischen fünf bis sechs Kreuz- und Quersteigen verirrt.

Anfangs wählte er noch unter denselben, dann ließ er den Zufall walten, und endlich war er durch Wahl und Zufall im dichtesten Forste. Erschöpft sank er an einer Quelle nieder, die durch aromatische Kräuter hinrieselte. Nachdem er seinen brennenden Durst gelöscht, und sich hinlänglich ausgeruht hatte, wollte er seine Irrgänge wieder anfangen, obgleich er bei dem fast taghellen Scheine des inzwischen aufgegangnen Mondes an seiner Uhr sah, daß Mitternacht herannahte.

Ein Rascheln wurde im Laube hörbar. Hermann erblickte eine schwarze Gestalt, die gebückt am Stabe daherschlich. Das alte Weib kam näher, setzte sich auf einen Stein, und sagte:

»Nun wird mich, wie ich meine, das Ding nicht wiederfinden. Dieses Flämmchen kann wohl eine Flamme heißen!«

Hermann trat heftig auf die Alte zu, faßte sie bei der Schulter, und rief: »Wer bist du? Von wem sprichst du?«

Ohne aus der Fassung zu kommen schlug die Alte ihr dunkelfarbiges Kopftuch zurück, und ein braungelbes, scharfkantiges, runzelvolles Antlitz sah ihn im Mondenstrahle an. »Das bin ich«, sagte die Alte, »und von dem Flämmchen, dem jungen Teufel, sprach ich.«

»Wo ist sie?« fragte Hermann.

»In den Fichten«, versetzte die Alte. »Ich habe sie hingeschickt, um sie loszuwerden, und dort mag sie den Geist erwarten, den ich ihr zitieren sollte.«

Er nahm so viel aus den Reden des alten Weibes ab, daß Flämmchen sie vor dem Zusammentreffen mit ihm gesprochen, und nachher wieder aufgesucht habe. Was sie ihr gewahrsagt, vermochten weder Bitten noch Drohungen herauszubringen. –[48] »Es ist gegen unser Gewissen«, sagte sie. »Unsre Reden gehen nur zu zweien Ohren ein; so lautet ein Sprichwort.« – Den Ort, wohin sie die Abergläubische geschickt, wollte oder konnte sie nicht angeben, sie sei selber fremd in der Gegend, sie habe den Narren auf das Geratewohl nach einem Fichtenkampe gehen heißen, dessen Lage sie nicht mehr bezeichnen könne. Er sei wohl eine Stunde von hier; ob er nach Morgen oder Abend stehe, wisse sie nicht.

»Wenn du mich belögest!« rief Hermann, »wenn du mit dem Mädchen etwas Schlimmes vorgenommen hättest ...«

Die Alte erwiderte: »Ich bin eine gute Christin, und glaube an Himmel und Hölle. Bei dem Kreuz! Ich habe dem Mädchen nichts zuleide getan. Wartet die Nacht ab, morgen wird sie schon wieder zum Vorschein kommen, und Ihr werdet Eure Perle nach Herzenslust beschauen können. Ich glaube, vor der nimmt Wolf, Bär, Löwe und Tiger Reißaus. Ihr seid ein Aufgeklärter, das sehe ich Euch auch bei Mondenschein an. Ihr würdet mich nur auslachen, wollte ich in Eure Hand sehn, und sagen: so und so. Aber nehmt von einem alten Weibe einen Rat an. Hütet Euch vor dieser Flamme! Sie hat zehntausend böse Geister im Leibe. Ich habe geschlummert die Nacht hinter dem Dorn am alten Raubschloß, auf der Bahre im Beinhause, im weißen Klippentale und auf der grauen Heide, und ich habe mich nicht gefürchtet. Heute aber fürchtete ich mich, als sie vor mir stand, die junge Hyäne, das blanke Messer in der Hand und von mir verlangte, ich solle ihren toten Vater berufen!«

»Laß dein angelerntes Geschwätz!« rief Hermann. »Gewiß hast du die Not der Armen benutzt, ihr den letzten Pfennig abgenommen, und dafür ihr Gehirn mit aberwitzigen Dingen erfüllt.«

»Nur aus der Hand, auf der etwas Blankes liegt, läßt sich wahrsagen«, versetzte die Alte. »Sie hat bezahlen müssen, was recht ist. Wer gibt Euch die Befugnis, mich auszuschelten?«

In diesem Augenblick trat der Mond hinter eine finstre Wolke, und bei der Dunkelheit, die hierdurch entstand, gewahrte Hermann durch die Bäume den Schimmer eines schwachen Lichts. Der Mondschein hatte vorher das spärliche Leuchten überstrahlt. Er schloß aus diesem Umstande auf die Nähe einer[49] menschlichen Wohnung, und da er seiner Meinung nach von dem Städtchen weit verschlagen sein mußte, die Alte aber fest dabei verblieb, daß sie ihm den Ort, wohin sie Flämmchen geschickt, nicht bezeichnen könne, so entschloß er sich, auf den Schein loszugehn, und den guten Willen der Bewohner um ein Obdach anzusprechen.

Er verließ die Alte ohne Abschied. Diese hob, wir wissen nicht, ob zu ihrer Erbauung, oder zum Zeitvertreibe, ein holprichtes Lied an, und sang mit tiefer und rauher Stimme Strophen durch die Nacht, deren Worte Hermann nicht verstehn konnte.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 47-50.
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