Sechzehntes Kapitel

[143] Ein für allemal war täglich eine Stunde bestimmt, worin Hermann der Herzogin das korrigierte Pensum des »Ivanhoe« zu bringen hatte. An die Verhandlungen hierüber knüpfte sich seit einiger Zeit eine Lektion im Englischen, welche ein junges Mädchen aus der Stadt, über welches die Fürstin Obsorge übte, von ihm empfing. Alles dieses hatte sich, wie von selbst, gemacht, doch war es Hermann schon oft so vorgekommen, als sei der »Ivanhoe« und das Englische nur Nebensache. Er bemerkte, daß die Herzogin seinen Lehren über deutschen Stil eine mehr gefällige als gespannte Aufmerksamkeit schenkte, und die junge Lucie wurde nicht gescholten, wenn sie unter allerhand Vorwänden vor Ablauf des gesetzten Zeitraums der Grammatik entrann, und sich wieder ins Fenster zum Filet setze. Man benutzte diese Zusammenkünfte zu Gesprächen über wichtige Punkte des Lebens; es schien, daß man unsern Freund von allen Seiten kennenlernen wolle, und er unterließ nicht, als er diese ihm überaus behagliche Absicht wahrnahm, sich im besten Lichte zu zeigen.

Nun war durch Wilhelmis unvorsichtige Eröffnung eine gärende Unruhe in sein Blut geworfen worden, und er ging sehr befangen am andern Morgen zur Herzogin. Daß sie unschuldig sei, unschuldig bis in den geheimsten Gedanken ihrer Seele, davon überzeugte ihn der erste Blick auf diese reine Stirn, in diese milden Augen. Er bedauerte sie, er verwünschte die Begehrlichkeit der Männer, die kein Heiligtum unangetastet lassen können. Der Arzt erschien ihm gemein und niedrig, er fühlte sich berufen, den Ritter jener hochverehrten Dame zu machen.

Zerstreuter hatte er nie Unterricht gegeben. Seine Verwirrung erreichte den Gipfel, als der Arzt sich anmelden ließ, und[143] angenommen wurde. Dieser war, wie immer, frei und unbefangen, was unserm Freunde als die äußerste moralische Verdorbenheit vorkam. Er hätte an Pausen des Gesprächs, an einigen verlegnen Bewegungen der Herzogin wohl abnehmen können, daß der Besuch einen Zweck habe, und daß seine Gegenwart nicht ferner gewünscht werde, doch blieb er sitzen, bis ihn die Herzogin auf die freundlichste Weise entließ. Sie hatte dies nie getan, und es kam ihm vor, als ob ihm der Arzt beim Abschiede einen höhnischen und triumphierenden Blick zuwerfe.

Er irrte durch den Park, worin es schon grün zu werden begann. Das junge Laub erfreute ihn nicht. Er sah den Herzog kommen, und wich ihm aus. Seine Seele war in einer wogenden Bewegung, in einem unbestimmten Verdrusse, voll Mißmut, der eigentlich keinen Gegenstand hatte.

Die Stunden bei der Herzogin gingen fort, aber wie sehr hatte sich seine Stimmung in ihnen verwandelt! Nun war ihm die Plauderhaftigkeit der kleinen Lucie, welcher ihre Beschützerin viel Freiheit eingeräumt hatte, äußerst zuwider. Das Geschrei des Papageien, über welches er sonst gelacht hatte, klang ihm jetzt ganz unerträglich, und er begriff nicht, wie eine Dame von so feiner Konstitution das überlaute Tier in ihrer Nähe dulden konnte. Die abendlichen Versammlungen gereichten ihm zur Pein, er nahm sich jeden Tag vor, aus denselben fort zu bleiben, und saß doch regelmäßig, wenn die Glocke geschlagen hatte, mit empfindlichen Schmerzen auf seinem Stuhle. Alles war ihm durch die unglückliche Entdeckung verschoben und zerstückt.

Sein durch üble Laune geschärfter Blick sah nunmehr auch so manches um ihn her, was ihm lächerlich und abgeschmackt vorkam. Er bemerkte, daß man das Wappen des Hauses überall angebracht hatte, wo sich nur ein Plätzchen dafür finden wollte; über Toren und Türen, Sälen, Zimmern, Gartenhäuschen und Vorratskammern, und er konnte aus der Neuheit vieler Verzierungen dieser Art abnehmen, daß sie erst während der Besitzzeit des Herzogs entstanden sein mußten.

Wilhelmis Sarkasmen über den neualten Aufputz, der hin und wieder im Schlosse sichtbar war, klangen ihm wieder vor[144] den Ohren. Wirklich sahn einige Räume sehr buntscheckig aus. Des Herzogs Vater, ein Charakter, wie er im achtzehnten Jahrhundert unter vornehmen Edelleuten nicht selten vorkam, war im Sinne seiner Periode liberal und modern gewesen. Französische Papiertapeten, Goldleistchen, Phantasieblumen, leichte geschnörkelte Meubles verdrängten den alten schweren Schmuck. Der Sohn, fast in allem ein Gegensatz seines zu Genuß und Empfindsamkeit aufgelegten Vaters, ließ, sobald Graf Heinrich in die Gruft der Ahnen gegangen war, was noch von frühern Zeiten übriggeblieben, wieder hervorsuchen, und machte die Contrerevolution, inwieweit es anging. Da kamen die bunten Schäfer und Landschaftsbilder, die massiven Schränke und Tische aus ihrem Versteck, aus Böden und Verschlägen wieder hervor, und nahmen sich nun freilich neben den übrigen Dingen im neusten Geschmack seltsam genug aus. Der Herzog äußerte, wenn ihm der Kontrast von Eichenholz und Mahagoni, von dickem Damast und dünner Seide selbst auffallend werden wollte, daß es besser sei, ohne Kosten sich mit den alten soliden Sachen zu helfen, die trotz ihres Jahrhunderts noch aussähen, wie von heute und gestern, als neue Fabrikate anzuschaffen, gegen deren Dauerhaftigkeit jeder ein entschiednes Mißtrauen empfinden müsse.

Hermann sah aber in seiner jetzigen Verstimmung nur das Ungereimte solcher Zusammenstellungen. Und bald überzeugte ihn ein kleiner Vorfall noch mehr, daß er sich unter Menschen andrer Art und Natur aufhalte.

Er bemerkte eines Tages, daß unter den Arbeitern im Garten ein Rennen und Treiben entstand, und sah mit nicht geringem Erstaunen nach kurzer Zeit die wohlbekannten Figuren, welche soeben noch in ihren kurzen Jacken gesteckt hatten, in schönen roten Uniformen einherstolzieren. Eine Trommel ließ sich vernehmen, und bald war ein Häuschen vor dem Schlosse, welchem sich dieser Gebrauch sonst nicht ansehen ließ, als Hauptwache von den neugeschaffnen Soldaten besetzt. Zwei Schildwachen faßten gravitätisch vor der Rampe des Mittelgebäudes Posto, kurz, ein kleiner Militärstaat wuchs im Augenblicke, sozusagen, aus der Erde.[145]

Als er sich nach der Ursache dieser plötzlichen Verwandlung erkundigte, hörte er, daß der Herzog das Recht der Standesherrn, eine Leibwache zu halten, auf diese Weise ausübe. Man habe vernommen, daß ein fremder General noch heute ankommen werde. In solchen und ähnlichen Fällen nun, wo es gelte, den Glanz des Hauses zu zeigen, werde die Armee zusammenberufen, für welche jeder Arbeiter zugleich geworben sei, und welche nur so lange bestehe, als die Veranlassung währe. Wirklich sah Hermann noch vor Abend die Posten von dem Schlosse abziehn, die Hauptwache verlassen, und die Arbeiter wieder rüstig in ihren Jacken schaufeln und jäten, denn die Nachricht mit dem fremden Generale hatte sich nicht bestätigt. Dergleichen Beobachtungen führten ihn darauf, über die Schlußworte in dem Briefe seines Oheims nachzusinnen. Sie lauteten folgendermaßen:

»Du bist da in Umgebungen geraten, wo Du nur verdirbst. Traue ihnen nicht, sie meinen es immer falsch mit uns. Deinen Vater haben sie zum unglücklichen Mann gemacht, laß Dich von seinem Schicksale warnen.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 143-146.
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