Zehntes Kapitel

[120] »Wir können nicht leugnen, daß über unsre Häupter eine gefährliche Weltepoche hereingebrochen ist. Unglücks haben die Menschen zu allen Zeiten genug gehabt; der Fluch des gegenwärtigen Geschlechts ist aber, sich auch ohne alles besondre Leid unselig zu fühlen. Ein ödes Wanken und Schwanken, ein lächerliches Sichernststellen und Zerstreutsein, ein Haschen, man weiß nicht, wonach? eine Furcht vor Schrecknissen, die um so unheimlicher sind, als sie keine Gestalt haben! Es ist, als ob die Menschheit, in ihrem Schifflein auf einem übergewaltigen Meere umhergeworfen, an einer moralischen Seekrankheit leide, deren Ende kaum abzusehn ist.

Man muß noch zum Teil einer andern Periode angehört haben, um den Gegensatz der beiden Zeiten, deren jüngste die Revolution in ihrem Anfangspunkte bezeichnet, ganz empfinden zu können. Unsre Tagesschwätzer sehen mit großer Verachtung auf jenen Zustand Deutschlands, wie er gegen das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts sich gebildet hatte, und noch eine Reihe von Jahren nachwirkte, herab. Er kommt ihnen schal und dürftig vor; aber sie irren sich. Freilich wußten[120] und trieben die Menschen damals nicht so vielerlei als jetzt; die Kreise, in denen sie sich bewegten, waren kleiner, aber man war mehr in seinem Kreise zu Hause, man trieb die Sache um der Sache willen, und, daß ich bei der Schutzrede für die Beschränkung mit einem recht beschränkten Sprüchlein argumentiere: der Schuster blieb bei seinem Leisten. Jetzt ist jedem Schuster der Leisten zu gering, woher es auch rührt, daß kein Schuh mehr uns bequem sitzen will.

Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen. Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wie mit fremdem Gute leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer. Aus dieser Bereitwilligkeit der himmlischen Göttin gegen jeden Dummkopf ist eine ganz eigentümliche Verderbnis des Worts entstanden. Man hat dieses Palladium der Menschheit, dieses Taufzeugnis unsres göttlichen Ursprungs, zur Lüge gemacht, man hat seine Jungfräulichkeit entehrt. Für den windigsten Schein, für die hohlsten Meinungen, für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten. Das alte schlichte: Überzeugung, ist deshalb auch aus der Mode gekommen, und man beliebt, von Ansichten zu reden. Aber auch damit sagt man noch meistenteils eine Unwahrheit, denn in der Regel hat man nicht einmal die Dinge angesehn, von denen man redet, und womit beschäftigt zu sein, man vorgibt.«

»Wie wahr! Wie haben Sie so ganz recht!« rief Hermann, den Redner unterbrechend, aus. Die Gedanken, welche Wilhelmi vortrug, hatten ihn in die höchste Bewegung versetzt.

Jener fuhr fort: »Ich muß Ihnen gestehn, daß mich die Betrachtung der allgemeinen Schwätzerei oft der Verzweiflung nahe gebracht hat. Wenn ich rings um mich nichts als das lose lockre Plaudern vernahm, wenn ich Kunstvereine mit pomphafter[121] Ankündigung von Leuten stiften sah, die kalt an den Werken des Raffael vorübergehn würden, zeigte man ihnen diese, ohne den Namen des Meisters zu nennen; wenn ich hörte, da habe wieder einmal einer, vom innern Drange getrieben, das katholische Glaubensbekenntnis abgelegt, von dem ich recht wohl wußte, daß es mit dem religiösen Bedürfnisse bei ihm betrübt stand, daß er nur ein leichter nachgiebiger Weltcharakter war, wenn die Schneeflocken des politischen kalten Brandes mir aus dem Munde solcher entgegenstäubten, von denen ich voraussehen konnte, sie würden nicht der kleinsten Aufopfrung für ein Gemeinwesen fähig sein, dann, mein junger Freund, hatte ich Momente, in denen ich mir hätte das Leben nehmen können! Ich betastete mich und fragte: ›Bist du nicht auch ein Schemen, der Nachhall eines andern selbständigen Geistes?‹ Ich grub in die letzten Tiefen meiner Seele, und suchte nach der Affektation, die, das wußte ich wohl, in irgendeinem verborgnen Winkel bei mir ebenfalls lauern mußte. Ich sah ja alles verfälscht, vom armseligen Journalisten und seinem Handlanger an, die beide mit entwendetem Tiefsinn und geraubtem Scharfblick nur ihr trostloses Leben fristen, und ihre winzige Persönlichkeit bemerkbar machen wollen, bis hinauf zum Fürsten, dem ein faselnder Minister allerhand unregentenhafte Kostbarkeiten vor dem Volke in den Mund legt. Sollte ich denn allein eine Ausnahme machen?«

»Sie sind eine!« rief Hermann begeistert, Wilhelmin feurig die Hand drückend. »Wir leben in einer erbärmlichen Welt, und man möchte mit Feuer und Schwert darein wüten!«

»Da würden wir nebenher auch verzehrt. Nein, bei uns müssen wir beginnen, und mit unsrem Selbst den ersten Baustein zum Tempel der neuen Andacht tragen; Lege den Gehalt einer Gesinnung auch in das kleinste Tun! Sprich nichts, als was du wirklich gedacht hast! Sei wahr in jedem Atemzuge! Nach diesen drei Vorschriften lassen Sie uns jeden Moment unsres Daseins prüfen, und wenn wir selbst auf solche Weise streng gegen uns sind, dann haben wir die Befugnis, unerbittlich gegen andre zu sein. Antworten Sie mir! Sind Sie durchdrungen von dem, was ich äußerte? Haben Sie den Mut, mit mir auf der neuen dornigen Bahn zu wandeln?«[122]

»Ja!« war alles, was Hermann vorbringen konnte. Sein ganzes Leben ging in diesem Augenblicke ihm vorüber. Er fühlte, wie oft er die Fehler und Zweideutigkeiten sich hatte zuschulden kommen lassen, die Wilhelmi so scharf rügte. Die Sucht zu glänzen und zu scheinen, war ihm leider nicht fremd geblieben. Er gelobte sich mit stillem Schwure, ein andrer und beßrer zu werden.

Wilhelmi nahm einige Zeremonien vor, die wir unbeschrieben lassen. Dann umarmte er den Neophyten, und rief: »So nehme ich dich denn auf, mein Bruder, in den neuen Grad, den ich hiemit stifte!«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 120-123.
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