Viertes Kapitel
Ein chronischer Schläfer und ein seltenes Beispiel von Bediententreue

[539] Während dieser Begebenheiten saß der alte Baron, unwissend noch über die Verrammelung des Schlosses, etwa eine Viertelstunde von diesem in einem krausen und durcheinandergewirrten Busche von Hagdornen, Eschen und Birken, der auf einem kleinen Hügel wuchs. Er hatte den Ort in seinen wohlhabenden Tagen zum Vogelherde benutzt; es stand aber von der früheren Vorrichtung nichts mehr als der Pfahl für den Lockvogel nebst den vier Pfosten, zwischen welchen die Hütte erbaut gewesen war. Das Dach und Bretterwerk war längst verfault oder von armen Leuten gestohlen. An diesem stillen und wüsten Platze saß der Schloßherr und lauerte auf einen gleichsam Vogel, aber nicht auf einen Finken, Hänfling oder Kreuzschnabel, sondern auf den Bedienten Karl Buttervogel.

Die Straße nach der Stadt zog sich nämlich unter dem Hügel durch. Karln hatte er vor kurzem auf ihr fortwandern sehen, und sogleich war von ihm beschlossen worden, dem Bedienten bei der Heimkehr, die mittags zu erwarten stand, den Weg zu verlegen, ihn auf den Vogelherd zu rufen, mit ihm dort, begünstigt von der Einsamkeit des Ortes, ein scharfes Verhör anzustellen und dadurch womöglich hinter die Geheimnisse Münchhausens zu kommen.

Der alte Herr hatte lange über diesen Entschluß mit seinem Zartsinne gefochten, endlich aber war er doch zu dem Resultate gediehen, daß er ihn unbeschadet seines Gewissens ausführen dürfe, weil ein so dankvergessener Gast, wie der Freiherr von Münchhausen, durchaus keine Rücksicht verdiene.[539]

Die Verhältnisse im Innern des Schlosses hatten sich nämlich folgendermaßen gestellt:

Durch den Abzug des Schulmeisters waren die Akademiker von Schnick-Schnack-Schnurr desjenigen Individuums quitt geworden, welches einer jeden menschlichen Gemeinschaft not tut, nämlich des Sündenbockes. Irgendeiner muß in jedem Hause vorhanden sein, an welchem die übeln Launen, die Zornmütigkeiten und die verdrießlichen Stimmungen ausgelassen werden dürfen. Ohne einen solchen Abzugskanal läßt sich ein dauerhafter häuslicher Friede gar nicht denken. Ich habe ein Hauswesen gekannt, in welchem so lange zwischen der Herrschaft und den übrigen Hauptpersonen eine vortreffliche Einigkeit bestand, als ein dummes und ungeschicktes Mädchen, eine entfernte Verwandte, tagtäglich auszuschmälen war. Herr und Frau begingen aber den Torenstreich, dieses Mädchen fortzuschicken aus dem Grunde, weil der Ärger und Lärmen mit ihr im Hause zu groß sei. Und von Stund an hörte alle Verträglichkeit auf; es war, als ob in der Dummen und Ungeschickten der Schutzgeist des Herdes verscheucht worden sei, der Mann zankte mit der Frau, die Frau schmollte mit dem Manne, der erwachsene Sohn und die mannbare Tochter hatten ein beständiges Schrauben und unangenehmes Reiben miteinander; selbst die Hausfreunde bekamen Augen für die Schwächen ihrer Wirte und erkalteten, kein Gesinde wollte mehr bleiben, weil es die erschwerte Last der übeln Behandlung nicht zu tragen vermochte – kurz, es war eben mit allem Komfort zwischen jenen vier Pfählen vorbei, als man rechten Komfort darin stiften wollte. So können sich die Menschen über ihre nächsten Verhältnisse und Umgebungen täuschen. Und in der großen Welthistorie geht es mitunter nicht anders zu. Einem Volke tut ein tüchtiger Feind not, nur solange es ihn besitzt, ist es in Flor. Solange Rom sich mit Karthago herumbiß, setzte es alles böse Wesen draußen ab, als aber die Nebenbuhlerin in Trümmern rauchte, ging die innerliche böse Wirtschaft an; von Napoleon hat nicht einer bloß gesagt, er sei für uns viel zu früh gefallen.

Doch um von Rom und Karthago und Napoleon und uns zum Schlosse Schnick-Schnack-Schnurr zurückzugelangen –[540] solange der Schulmeister auf dem Gebirge Taygetus saß, wußten der alte Baron und seine Tochter, wohin mit ihren verdrießlichen Stimmungen, und als er abzog, wurde es buchstäblich wahr, was der Schloßherr gesagt hatte: Es kam eine Lücke in den schönen Kreis. Das Glück war bekanntlich nicht die Göttin des dortigen Herdes, es gab also viel Anlaß zu Verstimmungen, an wem sollten sie nun ausgelassen werden? Hätte das Fräulein Lisbeth gehabt, so wäre wenigstens ihr geholfen gewesen, so aber wie die Sachen standen, gab es durchaus keinen Rat. Vater und Tochter waren zu sehr aneinander gewöhnt um miteinander hadern zu können. Der Bediente Karl Buttervogel war für Emerentien Karlos, der geliebte und verehrte Schmetterling, für den alten Baron ein zu geringfügiges Individuum. In dieser Not und Verlegenheit sank der Freiherr von Münchhausen von einem langweiligen Erzähler, der er für den alten Baron bereits geworden war, zum Sündenbock herab.

Ja, es ist richtig, wenn auch betrübt; dieser große und wunderbare Charakter war bald dahin gediehen, wo der verachtete Schulmeister Agesel gestanden hatte; er wurde wechselweise von dem alten Baron und seiner Tochter über die Achsel angeschaut. Das war nämlich so zugegangen.

Der Baron Schnuck-Muckelig in der Boccage zum Warzentrost verbracht einige unmutige Tage nach dem Abzuge des Schulmeisters und suchte sich durch wiederholtes Besichtigen des freien Platzes, wo die Luftverdichtungsfabrik zu stehen kommen sollte, leidlich hinzuhalten. Er dachte, Münchhausen werde rücksichtsvoll genug sein, auch ohne Erinnerung ihm das Geheimnis der Bereitung kundzutun. Münchhausen schwieg. Hiernächst spielte er von ferne auf Pflichten der Gastfreundschaft an, welche nicht verabsäumt werden dürften. Münchhausen schwieg. Darauf gab er die Sache näher und sagte, es sei nicht gleichviel, jemandem etwas in den Kopf zu setzen, man müsse auch Wort halten können. Münchhausen schwieg. Endlich wurde er klar und rief: »Wenn du mir nicht die Luftfabrik machst, so bist du kein ehrlicher Mann!« Münchhausen seufzte und schwieg.

Emerentien war die Zeit ebenso lang geworden, wie ihrem Vater. Der Prätendent von Hechelkram aß Wurst, Eier und[541] Rindfleisch, soviel ihm von diesen Dingen die Hand der Liebe reichte, blieb aber nach wie vor Bedienter, die Gemeinheit seiner Maske täuschend in Worten und Werken festhaltend. Unglaublich war es, bis zu welchem Grade sich dieser maskierte Fürst verstellen konnte, besonders seitdem er fern von den vornehmeren Personen dieser Geschichte in dem Gartenhause auf dem Taygetus wohnte und bis auf die zu leistenden Dienste sein eigener Herr geworden war. Emerentia begann zu zittern, wenn sie, die Wurst unter der Schürze, das Stiftskreuz im Herzen, nach dem verfallenen Schneckenberge ging, und war eines Tages bei einem unbeschreiblichen Anblicke genötigt gewesen, zu Karln zu sagen: »Fürst, spielen Sie nicht zu natürlich.« – Bei dieser Gelegenheit hatte Karl Buttervogel erwidert: »Immer und ewig sich genieren müssen, tut keinem Menschen gut. Wofür bin ich hieher in des Schulmeisters seine alte Kabache gezogen, wenn ich meine Freiheit nicht haben soll? Ich verlange und bestehe darauf, daß wofern ich es platterdings sein soll, mir meine fernerweite Verköstigung draußen hingesetzt wird, stillschweigend, ohne Ansprache und Bekümmernis um mich.«

Emerentia wurde hochrot vor Zorn, denn diese Antwort war zu grob, um sie selbst einem Fürsten hingehen zu lassen. Sie rief: »Und ich bestehe darauf, daß Ew. Durchlaucht nunmehr bald aus Ihrem Inkognito hervortreten, denn meine Lage wird Ihnen gegenüber von Tage zu Tage zärter und peinlicher. – Gnädiger Herr, erwacht denn nicht Ihr Mitleid mit einem armen Mädchen, dessen Lebenshoffnung Sie sind?« setzte sie weicher werdend hinzu, und einige Tränen liefen über ihre Wangen. Karl aß schon die Wurst, die ihm Emerentia gebracht hatte, und da sein Herz der Rührung immer am offensten war, wenn er Wurst aß, so tat ihm die Weinende leid, er trat daher, das letzte Stück in der Hand, zu ihr und sagte: »Ich bin ja, weiß Gott, kein schlechter Kerl, und Frauenspersonen muß man alles zu Gefallen tun, was nur menschenmöglich ist. Wenn ich also nur wüßt', wie ich's anfangen sollte, so geschäh's ja alsobald. Wofern aber mit meinem Herrn Rücksprach' genommen würde, so könnt' es sein, daß ich's würde, denn er weiß für alles Rat und hat mehr Grütz im[542] kleinen Finger als wir beide im ganzen Leib, sonst wär' er nicht vermöglich, so schreckbar zu lügen, wie er lügen tut.« – »Ich verstehe Ihren Wink«, versetzte das Fräulein, wischte sich die Tränen ab und ging getröstet vom Taygetus.

Dieser Vorfall ereignete sich an dem Tage, an welchem der alte Baron gegen den Freiherrn klar geworden war. Emerentia hatte sich seit der Stunde, wo sie Münchhausen zum ersten Male nicht verstanden, in einer stillen Entfernung von ihm gehalten, welche jedoch die Fortdauer achtungsvoller Empfindungen noch nicht ganz ausschloß. Jetzt war es ihr sogar lieb, eine Gelegenheit zu finden, mit ihm wieder anknüpfen zu dürfen. Sie setzte sich daher nieder und schrieb folgenden Brief an ihn:


Münchhausen!

Ich nenne Sie nicht mehr du, denn schmerzlich habe ich einsehen lernen, daß wir einander doch nicht ganz so nahe standen, als schöne Träume mir sagen wollten. Denken Sie an den Augenblick, da ich die Bohnenschüssel fallen ließ, weil Sie mich nicht begriffen. Indessen ist mir ein hohes Gefühl von Ihnen geblieben, und das Schicksal lehrt uns wohl, uns begnügen, wo uns die volle Befriedigung versagt wird.

Münchhausen, Karl hofft auf Sie. Sie haben, wenn Sie wollen, alles in der Hand; einem Manne, gleich Ihnen, ist nichts unmöglich. Erinnern Sie sich Ihrer Verpflichtungen gegen ihn, helfen Sie ihm zu dem Seinigen. Ich sage nichts weiter.

Emerentia


Münchhausen rieb sich die Augen, als er diesen Brief überlesen hatte. Er las ihn zweimal, bevor er einen Sinn finden konnte, endlich glaubte er doch einen solchen gefunden zu haben und rief: »Die Bestie hat mich also endlich auch noch bei meiner Anbeterin wegen des rückständigen Lohnes verklagt. Schlimm, schlimm, schlimm! Aber man muß schon in den sauren Apfel beißen, denn es gibt nichts Gefährlicheres für die weibliche Verehrung, als wenn der Verehrte seinem Bedienten etwas schuldig bleibt.«

Er hatte eben eine kleine dünne Einnahme von fernher empfangen. Traurig riß er das Kuvert mit den fünf Siegeln auf,[543] zählte, was er notdürftig entbehren konnte, wehmütig ab, rief den Schmetterling und gab ihm das Geld mit einer Flut harter Reden. Karl hörte nicht auf die Beschimpfungen hin. Wenn er Geld bekam, so war er gegen alles andere gleichgültig, er dankte dem Himmel, der ihm abermals so unerwartet half. Freudetrunken lief er in den verwilderten französischen Garten und zählte sein Geld auf dem Postamente des Schäfers ohne Flöte über.

Münchhausen schrieb an Emerentien:


Diotima!

Denn das bleibst Du mir. Nenne Dich Emerentia, mir bleibst Du Diotima. Karl ist bezahlt. Ich war ihm allerdings seit Lichtmeß Lohn schuldig. Vielfache Gedanken und unter diesen hauptsächlich die tiefe Seelenbewegung, in welche mich Dein Umgang und Geist versetzt hatten, bewirkten, daß mir die Kleinigkeit aus dem Sinne gekommen war.

Dank für Deine Erinnerung. Wie ich nie, oder nur ein einziges Mal in meinem Leben log, so bezahlte ich auch stets meine Schulden; denn Ausnahmen von dieser Regel befestigten sie eben. Deine Wünsche sind Befehle

Deinem Münchhausen


Emerentia wurde starr, als sie diesen Brief empfing. Sie hatte darauf gerechnet, daß der Freiherr durch seine großen diplomatischen Verbindungen die Restauration des Fürstentums Hechelkram bewirken solle, und – er gab dem Prätendenten Lohn! – Zerstört ging sie in den Garten. Karl sprang ihr vom Schäfer entgegen, schüttelte in einem ledernen Beutelchen den klingenden Inhalt und rief jauchzend: »Ich hab' mei' Geld, ich hab' mei' Geld! O was für ein glückseliger Tausendsassa bin ich! Ich möcht' den ganzen Markt von Cannstatt auskaufen.« – Emerentia versetzte nichts; sie stand bleich und entsetzt da. – »So ist es denn also wahr«, sagte sie, nachdem Karl fort und auf seinen Schneckenberg gesprungen war, »daß ein fortwährendes Rollespielen mit der Rolle identifiziert. Dieser Fürst wird mir noch innerlich zum Bedienten, wenn ich nicht bald die Entscheidung herbeiführe. Fürs erste aber soll das[544] gekränkte Weib zu jenem Verderblichen reden, über den ich mich so hart enttäuscht sehe.«

Sie ging nach ihrem Zimmer und schrieb an Münchhausen:


Mein Herr!

Ich bin fortan für Sie weder Diotima noch Emerentia, sondern das Fräulein von Schnuck. Die Linie, der ich angehöre, ist die Linie Muckelig. Verstehen Sie mich? Nein, Sie verstehen mich nicht. Ich aber durchschaue Sie. Sie wollen mich erniedrigen. Sie wollen, daß mir der Bediente Bedienter bleibt. Armer Spötter! In dem vollen Gefühle meiner Würde, erhaben über Ihre Possen

Emerentia, Freiin von Schnuck-Muckelig

in der Boccage zum Warzentrost


Münchhausen verwünschte sein Los, als er diesen Zettel erhielt. »Das Geld an den Schlingel weggeworfen und nun das noch!« rief er. »Was will denn dieses verrückte Fräulein, die mir wahrhaftig so unleidlich zu werden anfängt als – Pst! Still, Münchhausen – Der Alte läßt mir keine Ruhe, ich weiß mir nicht Rat gegen seine verdammten Luftgedanken, und nun büße ich auch diesen letzten Stützpunkt ein. – O Münchhausen, Münchhausen, könntest du doch nur – –«

Er wollte sagen: »Von deinen Renten leben« – vollendete aber nicht, sondern schrieb gleich ein zweites Billet, welches nichts als das Wort enthielt:


Diotima?!


Aber er fand es nach einiger Zeit uneröffnet vor seiner Türe wieder.

Der alte Baron und Emerentia begegneten einander draußen in der Gegend zwischen dem Schlosse und dem Platze, wo die Luftsteinfabrik stehen sollte. Der Vater sah verdrießlich und zerstört, die Tochter kalt und stolz aus. – »Ich fürchte, Renzel«, sagte der Alte, »wir haben einen Phantasten im Quartier. Noch hängt meine Hoffnung an einem dünnen Faden, Gott gebe, daß der nicht reißt!« – »Meine Hoffnung ist bei den Toten«, versetzte das Fräulein erhaben. »Edle Seelen werden leicht betrogen, ich schäme mich nicht, daß mich ein dürftiger[545] Witzling täuschen konnte. Die Schuppen fallen mir von den Augen, nur Gemeines sehe ich noch, wo ich sonst gutmütig bewunderte.« – »Ich verachte ihn auch bereits recht herzlich«, sagte der alte Baron, »es ist nur der Punkt hier in Erwägung zu ziehen, daß auch solche Haselanten im Besitze wichtiger Fabrikgeheimnisse sein können, und wenn denn das doch der Fall wäre und man hätte ihn, ohne die Sache zu erfahren, aus dem Hause getrieben, so wäre es außerordentlich schlimm.

Wir wollen ihm daher unsere Gesinnungen fühlbar machen, Renzel, aber so, daß ihm noch eine Hintertüre offenbleibt, damit womöglich seine Ambition erweckt wird, und mir das Syndikat nicht entgeht. Nur wenn alle Aussicht verschwindet, wollen wir ihm sagen, daß er sich packen könne.«

Nach diesem Tage gaben der alte Baron und das Fräulein dem Freiherrn ihre Gesinnungen zu erkennen, d.h. sie behandelten ihn schlecht. Münchhausen, welcher fühlte, wie sehr er durch seine politischen Fehler sich die Stellung im Schlosse Schnick-Schnack-Schnurr verdorben habe, machte verzweifelte Anstrengungen sie herzustellen und ließ das glänzendste Brillantfeuer seines Witzes in tausend Einfällen, wunderbaren Capriccios und Mären spielen. Das Fräulein aber zeigte sich um so gelangweilter, je brillanter Münchhausen wurde. Sie wandte ihm bei den Colloquiis im Garten den Rücken, fiel ihm häufig mit einer Bemerkung über schlechtes Wetter in die Rede, oder sagte, wenn sie ihn hatte aussprechen lassen, weiter nichts, als: »Spaße für den Volkskalender.« – Ihr Verhalten drückte unbedingte Geringschätzung aus. Der Schloßherr knüpfte dagegen die seinige noch an Bedingungen. Die Summe seiner Reden ging dahin, daß er an den Erzählungen des Gastes, ehe und bevor die Fabrikangelegenheit in Ordnung gebracht sei, wenig Geschmack zu finden vermöge. Zuweilen hörten beide Schloßbewohner gar nicht zu, sondern sprachen miteinander von Wirtschaftsangelegenheiten, während der Freiherr die buntesten Wunder vortrug.

So gingen mehrere Tage hin. Die Situation war für den Helden immer peinlicher geworden. Doch die Kräfte seines Geistes waren unerschöpflich und gerade in Verlegenheiten entfaltete sich erst deren ganzer Reichtum. Eines Abends, wo[546] das Fräulein auf ihrem Zimmer an ihrem Tagebuche schrieb, der alte Baron und er aber stumm lange Zeit nebeneinander im Versammlungsgemache auf und nieder gegangen waren; brauchte er die Rührung als großes, heroisches Mittel. Er fing nämlich plötzlich an heftig zu schluchzen, und da der alte Baron sich erstaunt umwandte, so stellte er sich mit den strömenden doppelfarbigen Augen vor seinen Wirt, nahm dessen beide Hände, sah ihm bewegt in das Antlitz und rief mit einer von Weinen gehemmten Stimme: »Könnt ihr es über das Herz bringen, du und deine göttliche Tochter, euren Freund so zu mißhandeln, wie ihr tut? Nennen wir uns nicht du? Bin ich nicht dein Bruder in des Worts verwegenster Bedeutung?«

»Eben darum, weil wir uns du nennen, muß Offenheit herrschen«, versetzte trocken und ungerührt der alte Schloßherr. »Ich merke schon, was diese Krokodilstränen bezwecken sollen. Du bist ein Krokodil – ein Chamäleon will ich sagen. Ich lasse mich nicht länger foppen, nicht länger lasse ich mich an der Nase herumführen. Von deinen Ziegen und deinen Holländern und deinen Poltergeistern habe ich den Pfifferling gehabt. Darum ein Wort für tausend: Kannst du Luft versteinern?«

»Bruder, sei nicht so hart – –«

»Hart bin ich, hart will ich sein, steinhart wie Luftstein. Wisch dir die Tränen von der Nase, sie erweichen mich nicht. Du hast mir den Geheimen Rat verleidet und die tröstlichen Gedanken an das höchste Gericht durch dein Luftprojekt, du Luftspringer! Die Ruhe meines Alters hast du vergiftet. Nun sind zwei Fälle möglich. Entweder kannst du Luft versteinern oder du hast mir's vorgelogen. Im ersten Falle soll dir alles vergeben sein, ich werde Syndikus, kriege für sechstausend Taler Fabrikat jährlich und damit basta. Hast du mir's aber vorgelogen, so wollte ich dich ersuchen, dich an deine vielfachen anderweitigen Verbindungen in der Welt zu erinnern, die sich gewiß schon lange nach dir sehnen und dir es übelnehmen würden, wenn du länger dein Pfund in diesem abgelegenen Schlosse vergraben wolltest. – Hierüber sehe ich morgen deiner bestimmten Erklärung ohne alle Einkleidungen, Geschichten und Carmina entgegen.«[547]

Mit diesen unzweideutigen Worten trennte sich der Wirt von seinem Gaste. Letzterer blieb im Zimmer stehen, legte die Hand an seine Stirn und sagte nach tiefem Besinnen: »Behaupten muß ich mich noch eine Zeitlang hier, es geht nicht ohne dieses. Ich muß ihn erwarten hier, ihn, meinen Freund, meinen Kurator. Kann ich mich nicht durch Worte und Tränen halten, so muß ich es durch den Zustand des Epimenides versuchen.« – Er ging auf sein Zimmer und legte sich augenblicklich nieder.

Am folgenden Vormittage um eilf Uhr fragte der alte Baron Karl Buttervogeln, der von des Freiherrn Gemache herabkam: »Ist Sein Herr noch nicht aufgestanden?« – »Nein«, versetzte Karl, »er schnarcht, daß es nur so eine Art hat, wenn das so fortgeht, kann es lange dauern.« – Der Schloßherr stellte sich vor das Zimmer seines Gastes und hörte wirklich ein ungemein kräftiges Schnarrwerk da drinnen.

Um ein Uhr bei Tische, wo sich nur Vater und Tochter zusammenfanden, warf Emerentia nachlässig die Worte hin: »Dieser Mensch scheint uns heute zu verschmähen.« – Karl wurde berufen, hinaufgesandt und brachte den Bescheid, der gnädige Herr habe sich eben so weit ermuntert, um allenfalls etwas Suppe und Gemüse zu sich nehmen zu können, wenn man die Güte haben wollte, ihm davon zu senden. – Emerentia gab dem Bedienten das Verlangte, der alte Baron ließ hinaufbestellen, er bitte, daß der Freiherr aufstehe. Nach einiger Zeit kam Karl mit den leeren Tellern zurück und sagte: »Mit dem letzten Bissen im Munde wieder auf die linke Seite gefallen und weiter geschnarcht.« – »Zum Henker, was bedeutet das?« rief der Schloßherr. – Um vier Uhr nachmittags ging er, da kein Münchhausen sichtbar wurde, selbst hinauf. Münchhausen schlief. Der alte Baron rief ihn an, rüttelte ihn, schüttelte ihn, Münchhausen richtete sich etwas auf, sah ihn schlaftrunken an, lallte mit schwerer Zunge: »Warum weckst du mich?« und fiel auf den Rücken. Um sechs Uhr, um acht Uhr abends hatten gleiche Weckversuche die gleichen Erfolge, oder vielmehr Nichterfolge. Münchhausen schlief.

Der erste Tag war sonach verschlafen. Am andern nahm der alte Baron allerhand lärmende Geschäfte vor, er brachte z.B. schweres Gerät und Möbelwerk von der Gerichtsstube herab[548] und hatte dessen kein sonderlich Arg, wenn ein Stück donnernd gegen Münchhausens Stubentüre flog. »Denn«, brummte er ingrimmig, »ich will diesen verruchten Kerl denn doch wohl wachkriegen!« Alles vergebens. Münchhausen schlief auch den zweiten Tag hindurch mit Ausnahme kurzer Eßpausen. Karl Buttervogel berichtete, sein Herr sei zwar aufgestanden und habe sich angekleidet, aber immer mit halbgeschlossenen Augen und mit Gähnen. Sobald er das letzte Stück angezogen gehabt, sei er wieder in einen Stuhl gesunken und sitzend eingeschlafen.

Am dritten Tage schnarchte Münchhausen stärker, als je zuvor. Der alte Baron, der die ganze Nacht schlummerlos zugebracht hatte, saß bekümmert auf der Gerichtsstube. Emerentia sang unten im Hause auf Befehl ihres Vaters. Denn dieser meinte, was sein Rütteln und Rumoren nicht zuwege gebracht, werde der helle und durchdringende Gesang der Tochter bewirken. Als sie ihre besten Gänge und Kadenzen von sich gegeben hatte und eine Pause entstand, stellte sich der Schloßherr an die Söllertreppe und rief hinunter: »Karl!« – Karl Buttervogel trat aus des Freiherrn Dormitorium. »Ist er wach?« fragte der alte Baron. – »Ich hab' mir die Ohren zugehalten, denn ich bin kitzlig gegen Musik«, versetzte der Bediente, »mein gnädiger Herr aber legten sich auf die andere Seite und lächelten im Schlaf wie ein Engel. Jetzt eben verlangen sie mit zugemachten Augen Waschwasser, werden also wohl aufstehen wollen, um sich dann zum Schlummer niederzusetzen. Glauben mir der Herr Baron, Sie treiben es mit meinem Herrn nicht durch, was der sich vornimmt, das führt er aus, wachend oder schlafend.«

Zornig lief der alte Baron in die Gerichtsstube zurück, rannte mit großen Schritten auf ihr hin und her, stieß an den Tisch, daß ein Teil der aufgestellten juristischen Handbibliothek herabfiel und polterte: »Da habe ich mir einen schönen Störenfried und eine wackere Rute Gottes in das Haus geladen! Das ist nun der Gipfel des Unglücks! Ich sehe es kommen! Ich sehe es kommen! Dieser Mensch schläft uns allen Schlaf weg in und um Schnick-Schnack-Schnurr! Wie ein starker Fresser eine ganze Wirtschaft auszehren kann, so wird uns der Schnarcher[549] an Schlummer bankerott machen. Schon tue ich die Nacht kein Auge zu. – Der Henker hole die Stunde, in welcher der Sünder in unsere Mitte geschleudert wurde!«

Er stieg die Treppe hinab und fand unten auf dem Vorsaale Emerentien, welche wieder beginnen wollte zu singen. – »Laß nur das Geplärr!« fuhr sie der Vater an, »Sankt Ursel mit den eilftausend Jungfrauen sänge den nicht auf.« – »Verachten wir ihn, mein Vater«, erwiderte Emerentia, »und lassen wir ihn sich der Vergessenheit entgegenschlummern!« – »Ich kann doch den Schlummerbalg nicht immer im Hause behalten und ihn unnütz füttern!« fuhr der alte Baron auf.

»Wenn er nur wenigstens die Eßstunden auch verschlummerte! Aber zum Frühstück, Mittags- und Nachtmahl ist er regelmäßig wach! Folglich darf ich ihn nicht verachten. Verachten kann man nur den, der einen nicht inkommodiert. Und Münchhausen ist mir jetzt zur größten Beschwer und ich würde den für meinen besten Freund halten, der mir diesen Gast vom Halse schaffte.«

Er ging in das Zimmer des Freiherrn. Dieser saß auf seinem Stuhle und das Haupt hing ihm auf die Brust hinab. Er schlief fest und tief. Der alte Baron nahm eine Feder, setzte sich vor ihn, kitzelte ihn mit der Feder um den Mund und rief;

»Münchhausen, wach auf!«

Einer kitzelnden Feder mußte selbst der beharrliche Schlummer des Freiherrn weichen. Er kratzte sich an der gekitzelten Stelle, riß die Augen weit auf, sah seinen Wirt wüst an und fragte dann matt und verdrossen: »Was willst du, Schnuck? Warum lässest du mich nicht in Ruhe?«

»Ich wünschte von dir zu erfahren, wie lange du hier noch zu schlafen gedenkst?« sagte der alte Baron sehr ernst.

»Ich wünschte, daß du mich lieber fragtest, woher dieser chronische Schlummer rührt?« versetzte in gedehntem Tone der Freiherr.

»Ich wünschte allerdings, daß du auch darüber mir eine Aufklärung geben möchtest«, sprach der alte Baron.

»Ich wünschte, daß du dich an meine Jugendbildungsgeschichte erinnertest, die ich dir einst vortrug«, versetzte der Freiherr, schon wieder lallend und nur noch das braune Auge[550] offenhaltend; denn das blaue war ihm bereits von neuem zugefallen. – »Habe ich dir nicht erzählt, daß mein sogenannter Vater mich in so vielen Sprachen und Wissenschaften unterrichtete, daß an gewöhnlichen, ausreichenden Schlummer damals nicht zu denken war? Es blieb also in meiner Jugend aller Schlaf, welchen andere Menschen zu der Zeit abmachen und entwickeln, in mir unabgemacht und unentwickelt stecken. Dieser versetzte und zurückgehaltene Schlaf bricht nun jetzt in meinen Mannesjahren aus, er entfaltet sich unaufhaltsam und wird nicht eher zu Ende sein, als bis ich nachgeholt habe, was ich in der Jugend versäumte. Dieses ist die natürliche Erklärung meines gegenwärtigen Zustandes, über den mich ein Traum inspirierte.«

»Wohl. Wer mit dir verkehrt, muß sich immer auf Wunderdinge gefaßt halten. Kalt will ich also bei dieser inspirierten Ankündigung bleiben, ganz kalt, und dich nur in aller Seelenruhe fragen: Wie lange dauerte jener anstrengende Jugendunterricht, und wieviel weniger als andere Menschen schliefest du während desselben?«

»Drei Jahre. Mäßig angeschlagen, büßte ich Nacht für Nacht sechs Stunden Schlummer ein«, erwiderte der Freiherr kaum hörbar und träumerisch das Haupt hin und her wiegend.

Der alte Baron schob seinen Stuhl an den Tisch, nahm ein Stück Kreide, welches dort lag, und rechnete auf dem Tische. Nachdem er den Strich unter den Zahlen gezogen hatte, sagte er: »Vorausgesetzt, daß unter jenen drei Jahren kein Schaltjahr war, so hast du während derselben sechstausendfünfhundertundsiebenzig Stunden Schlafdefizit gehabt und würdest folglich neun Monate, drei Tage und achtzehn Stunden jetzt bei mir nachschlummern müssen. Wie?«

Er wendete sich um, da er keine Antwort bekam und sah, daß der chronische Zustand seines Gastes schon wieder eingetreten war. – Stolz erhob er sich und rief: »Keine Rücksicht der Gastfreundschaft und Höflichkeit kann mich verpflichten, einen Menschen neun Monate, drei Tage und achtzehn Stunden bei mir schlafen zu lassen. Ich habe an dir gehandelt, wie ein Kavalier sich gegen den anderen benehmen soll, die Geduld ist aber nun erschöpft, und – höre es oder höre es[551] nicht – ich kündige dir hiemit Krieg und Fehde an. Darunter verstehe ich, daß ich dich aus dem Schlosse zu bringen wissen werde, in dem du nichts als Unheil und Verwirrung gestiftet hast.«

Nach dem Abgange des Schloßherrn öffnete Münchhausen die Augen und sagte zu Karl Buttervogel, der ein stummer Zeuge dieser Szene gewesen war: »Karl, willst du mir treu bleiben?« – »O mein gnädiger Herr«, rief Karl Buttervogel, »wie könnte ich es wohl über das Herz bringen, Ihnen untreu zu werden, da Sie mir soeben noch vor kurzem meinen vollen Lohn gegeben haben, zwölf Gulden vierundzwanzig Kreuzer. Nein, wenn der Mensch Geld kriegt, so muß er treu sein, wie ein Hund, und Häuser muß man auf ihn bauen können, und so lange wie der letzte Kreuzer vorhält, muß er an seinem Herrn halten, denn dafür ist er Bedienter, und ein Bedienter, der seinen Herrn verrät, der ihn ordentlich bezahlt, ist kein Bedienter nicht, sondern ein Schuft.«

»Schweige!« rief Münchhausen. »Rede nicht, sondern handle, Buttervogel. Es liegt mir jetzt alles daran, allein im Schlosse zu sein, aus dem mich der Alte forttreiben will. Locke daher das Fräulein ins Freie –«

»Das wird nicht nötig sein«, fiel Karl Buttervogel ein, »denn sie hat sich selber schon, ganz blümerant aufgetakelt, ins Freie gelockt, ich habe sie eben mit einem großen Dinge unter der Schürze nach meinem Schneckenberge gehen sehen.«

»Gut, das halbe Werk ist sonach getan. Locke denn also noch den Alten ins Freie.«

»Ich will so tun, als ginge ich nach der Stadt in die Apotheke für Sie, um wieder Spezies zu holen fürs chemische Schmieren, und wenn ich an ihm im Hause vorbeigehe, so will ich munkeln: ›Ja, wenn ich sprechen dürfte‹ – so wird er mir nachgegangen kommen, um mich auszufragen.«

»Tue das, Karl, mache mir das Schloß rein von allem lästigen Personal, ich will daraus eine Festung für mich schaffen«, sprach der Freiherr von Münchhausen mit seiner ganzen ihm so eigentümlichen Würde.


Auf dem Vogelherde saß also, verlockt von dem scheinbaren[552] Stadtgange des Bedienten, der alte Baron, während Emerentia dieses nämlichen Bedienten, der für sie kein Bedienter war, mit einem leckeren Gerichte am Schneckenberge harrte. Der Schloßherr hatte seinen Plan entworfen. So geradezu jemand aus dem Schlosse zu bringen, der sich darauf versteift zu haben schien, bei ihm neun Monate, drei Tage und achtzehn Stunden mit den Wachpausen für Essen und Trinken abzuschlafen, konnte mißlich erscheinen. Der alte Baron wünschte daher nichts mehr, als irgendeinen Umstand zu erkunden, welcher ihn allenfalls berechtigte, die öffentliche Macht gegen den Propheten anzurufen, der ihm nun wie ein Tagedieb vorkam. Einen solchen Umstand hoffte er von dem Bedienten Karl Buttervogel herauszubringen, denn das Wort »Munkel« und die beständige Erwähnung von ungeheuren Geheimnissen, welche um die Persönlichkeit des Freiherrn nebelten, deutete nach seiner Meinung offenbar auf Verschuldungen oder wenigstens auf Verwickelungen hin, die ihm den Arm der Polizei, so hoffte er, wider den chronischen Schläfer willfährig machen sollten.

Er hatte sich mit diesen Gedanken unter eine Vogelbeerstaude gesetzt und überlegte die Mittel, mit denen er Karl Buttervogeln plaudern machen wollte. Der Mensch hatte ihn immer so freundlich und gerührt, wir wissen weshalb? seither angesehen, daß er hoffte, auf sein Gefühl wirken und seinen Mund durch Liebe und Dankbarkeit aufschließen zu können. Er nahm sich daher vor, ihn auf bewegliche Weise zu bewegen.

Karl saß indessen, um seinen Stadtgang glaublich zu machen, eine halbe Stunde vom Vogelherde in einem Kruge und vertrank einen Teil des Lohnes, den ihm die diplomatischen Mißverständnisse zwischen dem Fräulein und seinem Herrn gespendet hatten. Dem alten Baron wurde darüber die Zeit lang und da er an seiner Kriegslist nichts mehr zu denken fand, so nahmen seine Vorstellungen eine andere Richtung, welche folgendes Selbstgespräch offenbarte.

»Ich habe mich resigniert«, sagte er. »Der heutige Tag zeigt mir meine Lage im wahren Lichte. Münchhausen erscheint mir als das, was er ist, als ein großer Frevler. Vielleicht ist er der Vater von Kaspar Hauser. Möglich auch, daß er ein berüchtigter[553] Giftmischer ist wegen der beständigen chemischen Experimente. Auf jeden Fall ein Mann, dem zu vertrauen bedenklich sein muß. Ein unnatürlicher Charakter, abnorm in jeder Beziehung. Welcher Mensch außer ihm, sammelt Schlaf von seiner Jugendzeit auf für neun Monate, drei Tage, achtzehn Stunden. Es ist zwar eine Klage manches Schulmanns, wie ich gelesen habe, daß auch die jetzt gar zu sehr angestrengte Jugend nachher schläfrig werde, aber dann schlafen sie mit offenen Augen, die Jungens werden rein dumm vom vielen Lernen, natürlichen Nachschlaf kriegen sie aber deshalb nicht. Dieser Nachschlaf ist folglich wieder ganz eine Veranstaltung à la Münchhausen.

Ich traue ihm nicht mehr. Seit heute verlasse ich mich auf meine gesunden Sinne und nicht auf Flirren und Flausen. Luft ist Luft und wird mein Tage nicht Stein. Das ganze Projekt ist Windbeutelei und die Luftverdichtungsaktienkompanie nicht so viel wert.«

Der alte Baron blies bei den letzten Worten über seine flache Hand hin, senkte dann tiefsinnig das Haupt und sprach nach einer Pause: »Wunderbar! – Wie demjenigen, der eine große Wahrheit entdeckt, zugleich viele andere Wahrheiten mit einem Schlage aufzugehen pflegen, so zerstört die Zerstörung eines großen Irrtums auch seine Nachbarn. Seit ich nicht mehr an versteinerte Luft glaube, bin ich auch mißtrauisch geworden über die Rückkehr der alten Verhältnisse und meinen Eintritt in das höchste Gericht als geborener Geheimer Rat. Es ist zuviel Gras darüberhin gewachsen, meine Tage sind gezählt; ich erlebe es nicht mehr, das fühle ich wohl.

Und so wäre ich denn ein armer, alter, zerbrochener, abgebrauchter Mann? – Nein! Mitnichten. Schon regen sich neue Gedanken in mir, die jugendliche Kräfte aufwecken. Das ist eben der wunderbare Segen der Gegenwart, daß niemand untergehen kann, der sich mit rüstigem Arm und beherzter Brust in ihre Fluten wirft. Erlischt hier ein Licht, so flammt es da wieder auf, die unendliche Mannigfaltigkeit der Mittel, Gedanken und Anregungen macht jede welkende Hoffnung zu einem Phönix, der sich zwar bestattet, aber aus dem Feuergrabe immer wieder auflebt.[554]

Ich habe schon wieder Aussicht, Mut, eine Zukunft. Ich glaube nicht mehr an den geborenen Geheimen Rat, ich glaube nicht mehr an die Luftverdichtungskompanie; ade Syndikat! Ade ihr sechsmalhunderttausend Luftsteine, mit denen ich salariiert werden sollte – Fahret wohl, ihr nichtigen Träume und Schäume und macht einem soliden Geschäfte Platz. – Das religiöse Bedürfnis ist mächtig erwacht in der Zeit und schmachtet nach der Herstellung der Hierarchie. Diesem Bedürfnisse zu genügen, muß ein großartiges Institut in das Leben gerufen werden. Ich werde Jesuiten auf Aktien kommen lassen. Schon morgen reise ich, um die nötige Protektion und Förderung mir zu verschaffen, wenn ich inzwischen Münchhausen loswerden kann, nach –«

Der alte Baron gab nicht an, wohin er reisen wollte, denn es unterbrach ihn ein Geräusch unten auf der Straße. Er sah den Bedienten kommen und rief ihn an. Karl Buttervogel murmelte für sich, indem er dem Rufe auf den Vogelherd folgte: »Treu bin ich meinem Herrn bis fünf Taler, wenn er aber mehr geben will, da kann der Mensch nicht widerstehen.«

So kamen beide auf dem Vogelherde zusammen; der Bediente mit der Absicht, sich um mehr als fünf Taler bestechen zu lassen, der Schloßherr in der Meinung, ihn durch Güte zu rühren, denn außer Güte hatte er nichts bei sich.

»Er hat wohl auch von dem Wege viel Mühe gehabt bei der Wärme, mein Freund? Setze Er sich mir da gegenüber unter die Rüster« – sagte der Schloßherr im gütigsten Tone. – »Ich kann schon stehen«, versetzte der Bediente, »ich würde unter der Rüster sitzen wie auf Kohlen und mir, mit Respekt zu melden, das Gesäß verbrennen, wenn ich in Gegenwart von einem so gnädigen Herren sitzen tun sollte. Jeder an seinem Platze und an seinem Orte, das ist so das beste, der Herr Baron sitzend und ich hier stehend in alle Ewigkeit.«

»Es kommt mir so vor, als halte Er etwas auf mich«, sagte der alte Baron nach einer Pause, während welcher er vergeblich nach einem schicklichen Anknüpfungspunkte suchte.

»O gnädiger Herr«, rief Karl Buttervogel erregt, beugte sich zu dem Schloßherrn nieder und küßte dessen Rock, »wie ich Sie liebe, das kann keine Menschenzunge aussprechen. Denn[555] warum sollte ich Sie denn auch nicht lieben, da Wurst und Eier bis jetzt nicht gemangelt haben, und da ich gewiß fernerweit gute Verköstigung kriege, und der gnädige Herr so ein ehrwürdiges Ansehen haben und die ganze Positur so etwas Martialisches und da die nähere Verbindung bevorsteht, und Schwiegersöhne Schwiegerväter schon aus Pflicht lieben müssen, und da–«

»Nun wohl, Buttervogel«, rief der alte Baron, »lass' Er die vielen Gründe, die mir auch zum Teil dunkel sind, denn ich weiß nicht, was Er mit der Wurst und mit den Eiern und den Verbindungen und den Schwiegervätern und Schwiegersöhnen sagen will. Wenn Er wirklich auf mich etwas hält, so kann Er mir einen Gefallen tun, und ich ersuche Ihn darum.«

»Tausend Gefallen für einen, gnädiger Herr!« rief Karl Buttervogel. »Soll ich Ihnen den grünen Rock ausbürsten, oder an dem Schlafrock mit den Weinranken das Loch im Ärmel zunähen, oder –«

»Nichts von allem dem. Sondern mich interessiert Sein Herr bis in die kleinsten Umstände seines Lebens und über manches möchte ich Aufschluß haben. Erinnere Er sich nun, wie gut ich an Euch gehandelt habe, sei Er dankbar für so viele Gastfreundschaft, erwäge Er, was Er mir für meine Güte schuldig ist, und wenn dadurch in Ihm ein richtiges Gefühl entstand, so sage Er mir, warum Sein Herr Seine Grobheiten vermischt mit geheimen Anspielungen duldet? denn dahinter muß notwendig etwas stecken.«

»Dahinter steckt auch etwas«, sagte Karl Buttervogel ernsthaft. »Und ich wollte mich wohl verführen lassen aus Liebe und Erkenntlichkeit zu dem gnädigen Herrn Baron und zum Delinquenten an meinem Herrn von Münchhausen werden, wenn nur ...« Er sah starr nach der Hosentasche des alten Barons.

»Was, Karl? Spreche Er Sich deutlich aus, mein Sohn.«

Karl Buttervogel machte eine krumme Hand und sah den Schloßherrn dabei gerührt an. »Sie haben als Vater an uns gehandelt, und wer so ist, wie Sie, der macht mich weichherzig und da kenne ich gar keine Pflichten und lass' meinen eigenen Bruder im Stich. Aber insofern ...«[556]

»Aber insofern? – Stocke Er doch nicht so oft. Heraus mit der Sprache! Was versteht Er unter dem Munkel, wie Er Seinen Herrn nennt, und unter den Geheimnissen der Erzeugung?«

Karl Buttervogel spuckte vor sich nieder, sah dann wieder nach der Hosentasche des alten Barons, machte den Gestus des Geldzählens und fuhr darauf plötzlich, als der Schloßherr diesen Gebärden stumm und verwundert und ohne auf den Sinn ihrer Forderung einzugehen, zusah, mit der Frage heraus:

»Haben Sie wohl über fünf Taler bei sich?«

»Nein«, versetzte der alte Baron etwas verlegen. »Ich trage kein Geld bei mir.«

»So bleibt auch das Geheimnis bei mir«, sagte Karl Buttervogel.

Der alte Baron rief entrüstet: »Also aus Liebe zu mir will Er mir nichts sagen, aber für Geld würde Er Seinen Herrn verraten!«

»Ja«, rief der Bediente, »für Geld kann man alles kriegen, denn die Zeiten sind teuer und ohne Nebenverdienst geht es einmal nicht in der Welt, und weil es in der Freundschaft bliebe, so wäre es auch kein Verrat, und die Liebe zu Ihnen ist zu groß, und Sie könnten es mir gewissermaßen befehlen von wegen der kindlichen Ehrfurcht, die ich gegen Sie haben tun muß, und warum fängt mein Herr solche Sachen an und ich würde es auch nicht für ein paar Groschen tun, denn das wäre schimpflich, aber fünf Taler machen einen Unterschied, und das Hemde ist mir näher als der Rock, und Bestechung ist nur ein Vorurteil, aber ohne Geld und Gaben bin ich meinem Herrn so treu wie Gold, und keine Menschenmacht soll mich von meiner Schuldigkeit abwendig machen, und das können Sie mir auch gar nicht verdenken, denn Sie würden sich auch so einen ehrlichen Kerl zum Bedienten wünschen, der alles mit sich in die Sterbegrube nähme, wenn Sie sich chemisch schmieren müßten, weil nämlich –«

»Schweige Er!« rief der alte Baron, welcher befürchtete, daß Karl Buttervogel sich in ein neues Meer von Gründen stürzen würde. Verdrießlich riß er Blätter von den Stauden, zwischen denen er saß, und zerpflückte sie. Karl Buttervogel entfernte[557] sich gleichfalls verstimmt über die unverletzte Treue, die er seinen Grundsätzen gemäß dem Herrn bewahrt hatte, von dem Vogelherde.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 539-558.
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