Siebenzehntes Kapitel
Die drei Schloßbewohner erteilen dem Freiherrn von Münchhausen vernünftigen Rat; er aber bleibt auch für den Bedienten Karl Buttervogel teilweise ein Rätsel

[126] Nachdem Münchhausen seine Erzählung vollendet hatte, fragte er den Schulmeister, warum der alte Baron fortgegangen sei, und noch immer nicht wiederkomme?

»Herr von Münchhausen«, versetzte Agesilaus, »Sie haben zwar auf eine eben nicht freundliche Weise in Ihrer Liebesgeschichte meiner teuersten Überzeugungen gespottet, indessen ist meine Sinnesart nicht so beschaffen, andern etwas nachzutragen, und ich kann ganz gerne Unrecht leiden, ohne mich dafür zu rächen. Ich will Ihnen, trotz Ihrer satirischen Anspielungen auf mich, in betreff unsres alten Herrn einen wohlgemeinten Rat erteilen.«

»Welche satirische Anspielungen auf Sie, Herr Schulmeister?«

»Sie beliebten zu sagen, daß Sie jenem Frauenzimmer eine fürstliche Abstammung vorgelogen hätten. Ich aber erlaube mir, Ihnen zu versichern, daß, wenn ich eine ähnliche Abstammung von mir aussage, damit keinesweges Lügen vorbringe, welche ich überhaupt herzlich verabscheue.«

»Ich beteure, Herr Schulmeister, daß meine Seele nicht an Sie gedacht hat. Großer Gott, kann denn ein Erzähler nicht einmal in dieser Einöde den Deutungen entgehen?«

»Wohl, diese Angelegenheit bleibe, wie manches andere, vorderhand auf sich beruhen«, sagte der Schulmeister. »Der Rat, den ich Ihnen erteilen wollte, ist folgender. Unser alter Herr hat sich die Rückkehr früherer Verhältnisse, und die Hoffnung auf das Amt, welches er sein angebornes nennt, steif und fest in den Kopf gesetzt. In dieser Beziehung ist er toll, und schon lange quält mich die Besorgnis, daß aus der[126] Geheimeratsidee, wenn wir sie nicht so sehr schonten, einmal plötzlich der völlig ausgewachsene Wahnsinn hervorspringen wird. Sie aber rühren unvorsichtig – verzeihen Sie meine Freimütigkeit, Herr von Münchhausen – nur zu oft daran, wie es denn heute abend auch noch geschehen ist. Und es wäre doch schlimm, wenn der sonst so vortreffliche und geistesgesunde Mann mutwilligerweise von uns andern Vernünftigen um seine Besinnung gebracht würde.

Die menschliche Seele hat, wie der Körper, nur ein bestimmtes Maß von Kräften des Wachstums«, fuhr der Schulmeister fort. »Ward dieses erschöpft, so bleibt der Mensch geistig stehen, wie er nach dem zwanzigsten Jahre nicht mehr leiblich wächst. Deshalb begreift das Alter die Jugend nicht, und ungewöhnliche Ereignisse finden darum immer nur bei denen Anklang, die noch im geistigen Wachstum stehen. Kann sich nun der Mensch mit allen seinen Seelenkräften vollständig in die von der Natur ihm bestimmte Länge und Breite legen, so wird er nicht verrückt, sondern er bleibt an einem Ziele stehen, andernfalls aber geht es ihm wie einem, der in der Entwickelungszeit eine starke Hemmung erleiden muß; der Überschuß von Kräften schlägt ihm als Krankheit nach innen und er bekommt einen Stich. Unser alter Herr war durchaus bestimmt, Geheimer Rat auf der Adelsbank zu werden, da wäre er stehen, oder vielmehr sitzen geblieben, und als völlig vernünftiger Mann zu seinen Vätern versammelt worden. Weil er aber bis dahin nicht vordringen konnte, so setzte sich ihm der Geheime Rat gewissermaßen als Knoten in die Seele, der, nicht gereizt, vielleicht ein ruhiges Lebensende herankommen läßt, gerieben und entzündet aber, einen unheilbaren Brand auch über die noch gesunden Teile des Geistes verbreiten möchte.«

Der Freiherr wunderte sich über die Weisheit des Schulmeisters und gelobte, seinem Rate Folge zu leisten. Darauf zündete Agesilaus seine Handlaterne an und ging nach dem Gebirge Taygetus, überzeugt, ein gutes Werk getan zu haben.

Münchhausen suchte den alten Baron auf und fand ihn draußen im Mondschein hinter dem Schlosse wandeln. Er wollte ihn um Entschuldigung bitten, der andere fiel ihm aber in die Rede und sagte: »Laßt doch die Narrenpossen; ich habe[127] Euch den Hieb lange vergeben, da ich weiß, daß Ihr mich nicht absichtlich beleidigen wolltet. Zudem könnt ihr andern auch gar nicht fassen, was es bedeutet, durch die Geburt zu einer Ehre, oder einem Vorzuge, oder einem Amte, wie der Geheimeratsposten ist, bestimmt zu sein. Ihr redet also über solche Sachen, wie der Blinde von der Farbe, und man muß euch euer Geschwätz darüber nicht so übelnehmen. Nein, ich blieb nur hier draußen, weil ich, aufrichtig gesagt, an Liebessachen keinen sonderlichen Anteil nehme und dachte, Ihr würdet wohl so gütig sein, mir einmal unter vier Augen ohne Umschweif das Ergrünen zu erklären. Überhaupt wünschte ich, bester Münchhausen, meiner Tochter wegen, Ihr sprächet von Romanenangelegenheiten wenig oder gar nicht mehr.

Meine Tochter hat in diesem Punkte einen Sparren«, fuhr der Alte mit leiserer Stimme fort, indem er dicht zu Münchhausen trat. »Es ist immer schlimm, wenn die Frauenzimmer nicht heiraten, oder keine Kinder bekommen, denn auf Zärtlichkeit sind denn doch nun einmal die armen Dinger durchaus gestellt, und die versetzt sich ihnen dann leicht, daß sie entweder langweilige, empfindsame Bücher schreiben, oder mit Papageien und Schoßhunden quengeln, unerträglich für andere. Meine Tochter hält sich nun weder Schoßhund noch Papagei, dagegen einen Gedanken- und Erinnerungsliebhaber, mit dem sie verkehrt, wie mit einer lebendigen Mannsperson. Besonders im Mondschein, wie jetzo, ist sie immer sehr aufgeregt, und deshalb hütet Euch, Freund, diesen Zustand zu steigern; bedenkt, was für ein Elend für mich alten Mann es wäre, wenn ihre Krankheit aus diesem stillen und sonst unschädlichen Faseln in einen lauten Raptus überginge!«

Münchhausen fehlte die Zeit, dem Vater beruhigende Versicherungen zu geben, denn in der Taxuslaube hinter dem Genius des Schweigens entstand ein Geräusch und hervor trat Fräulein Emerentia, die in der Laube der ganzen Rede zugehört hatte. »Zum Henker«, rief der alte Baron, »das habe ich sauber gemacht!« Er entfernte sich eilig in das Schloß.

Emerentia näherte sich Münchhausen und sprach mit sanfter Stimme: »Es ist eine zu alte Erfahrung, daß die höherstehende Natur von ihren Umgebungen für wahnwitzig gehalten wird,[128] als daß mich die Worte des Vaters verletzen könnten. Vergebung daher ihm, und ferne sei es von mir, das Recht der Wiedervergeltung zu üben und Sie auf seine Einbildungen aufmerksam zu machen.

Aber Dank bin ich Ihnen schuldig, teurer Meister, für die unvergleichliche Zartheit, mit welcher Sie mich heute zweimal aus dem Zimmer sendeten. Eine so rücksichtsvolle Behandlung tut unendlich wohl. Ich muß Ihnen meinen Dank durch eine Warnung betätigen. Hüten Sie sich vor dem Schulmeister, reizen Sie seine Ihnen bekannte Verrücktheit nicht durch hingeworfene Äußerungen, welche er auf sich und seine fixe Idee beziehen kann. Ich habe Ursache, zu glauben, daß die Krankheit dieses Mannes im Steigen ist; denn er kocht schon die sogenannte schwarze Suppe, ohne ihrer benötigt zu sein und schläft zuweilen im Freien auf dem lächerlichen Gebirge Taygetus – Zeichen gewiß einer innerlichen Gärung. Welches Unglück, wenn er plötzlich wütend würde, den Vater, wie leicht möglich, ansteckte, und beide die Riesenkraft der Raserei entfalteten! Wir Vernünftigen wären schwerlich imstande, sie zu bewältigen, ja nur uns vor ihnen zu retten.«

Das Fräulein fuhr fort: »In den Stunden, in welchen ich der Empfindung nicht nachhing, habe ich viel über den Wahnsinn nachgedacht und bin auf folgendes Resultat gekommen. Aller Wahnsinn ist eigentlich eine krankhafte Richtung der Natur, das Individuum in das Maßlose zu erweitern, und über die Schranken hinaus, welche die Selbstverleugnung und eine edle Ergebung in die Beschlüsse des Schicksals ihm setzt, ihm Güter, Gefühle und Genüsse anzueignen. Deshalb ist die geistige Krankheit auch verhältnismäßig häufiger bei Personen aus den geringen Ständen, die so vieles entbehren müssen, und schafft bei ihnen die Einbildung, daß sie Könige, Kaiser, ja Gott seien, oder daß sie große Schätze besitzen. Auch die Furcht vor Feinden und Verfolgern, welche nicht selten als Äußerung des Wahnsinns auftritt, und auf den ersten Anblick meiner Erklärung zu widersprechen scheint, bestätigt sie doch nur. Solche arme und unangesehene Leute haben nicht selten das geheime, nagende Gefühl ihrer Unbedeutendheit; nun kann nur ein Zufall, ein Mißgeschick ihre Seele erschüttern, so[129] fangen sie an, eine erträumte Wichtigkeit in der Menge von geheimen Feinden, welche ihnen die schwärmende Phantasie vorgaukelt, zu genießen. Daher kommt es denn auch im Gegenteil, daß Fürsten und vornehme Personen, wenn sie ihren Verstand verlieren, in Stumpfsinn und Hinbrüten zu verfallen, oder sich ganz alberne Ideen einzubilden pflegen, wie z.B. daß sie von Glas seien, einen Sperling im Kopfe tragen und was dergleichen mehr ist. Natürlich; sie haben schon alles, was das menschliche Herz begehrt, deshalb muß die kranke Seele entweder über dem Ungestalteten brüten, oder sich mit den abenteuerlichsten, von Wunsch und Begehren ganz fernen Vorstellungen nähren.

Die Anwendung dieser allgemeinen Bemerkungen auf den Schulmeister zu machen, ist sehr leicht. Die Natur hatte ihm eine Beimischung von Selbstgefühl gegeben, welche mit seinem geringen Amtsberufe nicht in Einklang stand, und diesen Einklang hat er sich nun durch seine stolze Träumerei von der spartanischen Abkunft luftschloßartig gestiftet und erbaut.«

Münchhausen erstaunte noch mehr über diese Rede, als über die der andern Personen, welche er heute abend hatte sprechen hören. Er ging auf sein Zimmer, roch in die Luft hinaus, wie er oft zu tun pflegte, um die Beschaffenheit derselben für seine Zwecke zu erkunden, setzte sich auf sein Bett, und ließ sich vom Bedienten Karl Buttervogel, welcher inzwischen mit dem Waschwasser hereingekommen war und seinem Herrn die Nachtmütze aufgesetzt hatte, die Stiefeln ausziehen.

»Karl«, sagte Münchhausen, »wir sind hier in einem Tollhause. Der alte Baron, das Fräulein, der Schulmeister sind sämtlich verrückt. Jeder von ihnen hat merkwürdigerweise einen klaren Blick in den Zustand des andern, und was noch merkwürdiger ist, sie reflektieren äußerst gescheit über den Wahnsinn. Aber nimm dich doch in acht; denn solche Zustände können durch die geringste Veranlassung gesteigert werden.«

»Ich werd' schon«, versetzte Karl Buttervogel, indem er seinem Herrn die Beinkleider abstreifte. »Dem Fräulein hab' ich lang' was angesehen, sie schießt zuweilen so verzwickte[130] Blicke auf mich. Aber gnädiger Herr, warum sind wir denn so fortgegangen, wo uns die drei Herren so reichlich in allem unterhielten, und Sie nichts zu tun hatten, als sich ein paar Stunden von ihnen studieren zu lassen? Und warum kriechen wir hieher in dieses verwunschene Schloß, wo sich wahrhaftig keine Maus satt fressen kann? Ich liege in einem dunkeln Loche, weder von Sonne noch Mond beschienen, und will ein Halunke sein, wenn ich seit drei Tagen Fleisch gerochen habe! Dazu sind die Wanzen in meiner Spelunk', jeden Morgen bin ich zerbissen, als hätte ich mich mit sechs Jagdhunden herumgebalgt! Lassen Sie uns je eher, je lieber fort, gnädiger Herr, denn so gern ich Ihnen diene, hier halte ich es nicht lange aus.«

»Hier bleibe ich, solange die Ursache dauert, welche mich hergeführt hat«; erwiderte der Freiherr mit Ansehn.

»Die Ursache, welche hergeführt hat«, sagte Karl Buttervogel, »ist doch nur, daß Sie vom Pferde fielen, und diese hat aufgehört.«

»O du Tor und Kurzsichtiger«, rief Münchhausen zornig, »der du immer nur den Sturz vom Pferde erkennst und nicht wahrnimmst – –«

»Was, mein gnädiger Herr?«

»Nichts!« versetzte Münchhausen barsch, warf sich auf sein Bette, daß die Not- und Hülfssponde, welche der Schulmeister roh zusammengefügt, knackte, und schlief sogleich ein.

Karl Buttervogel stand mitten im Zimmer, die Kleidungsstücke seines Herrn auf dem Arme, und sagte, als er ihn schnarchen hörte: »Es ist wahrhaftig recht schlecht von meinem Herrn, daß er mir nicht sagen will, warum wir hier in dem vermaledeiten Neste bleiben? Keinen Lohn kriegt man von ihm, sondern wird ewig vertröstet auf die Zeit, wo er die Luft wird festmachen können, wie sie's in Paris tun, und dennoch kein ganzes Zutrauen! Ich weiß doch, daß er nicht mit rechten Dingen in die Welt gekommen ist, warum sagt er mir denn nicht, was er hier vorhat?«[131]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 126-133.
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