Erstes Kapitel
Der Lendemain in einem Oberhofe

[661] Während des Hochzeitschmauses und des Tages, der darauf folgte, hatte der einäugige Spielmann im Eichenkampe nicht weit vom Oberhofe gesessen. Man brachte ihm Speise und Trank dorthin, er rührte aber nur wenig an und genoß auch dieses wenige mit Widerstreben, etwa so viel, als hinreichte, seinen wütenden Hunger zu stillen. Die Stelle, wo sich dieser Mensch aufhielt, lag kaum fünf Schritte von der Straße ab, die durch den Kamp führte, sie war von den dicksten und höchsten Stämmen überstanden, deren einer mit seinen gewaltigen Wurzelknorren eine natürliche Brustwehr vor dem Erdreich bildete, welches hinter ihm in eine Vertiefung ablief, auf deren Rande man bequem sitzen konnte.

Dort saß denn auch der Spielmann und sah beharrlich lauernd nach dem Hause hinüber. Zuweilen erhob er sich mit halbem Leibe, um aufzustehen, und dies geschah, wenn sich eben niemand in der Türe und im Flure des Oberhofes blicken ließ, aber bei dem Ab- und Zulaufen der Menschen dauerte das immer nur einen Augenblick. Sobald wieder Menschen sichtbar wurden, setzte er sich immer wieder unwillig hin. Auch drehte er zuweilen heftig an seinem Leierkasten, worauf dieser widerwärtige Töne von sich gab, die pfeifend und heulend ausklangen. Darüber machten die Leute, die eben vorbeigingen (und es gingen viele an jenem Tage durch den Eichenkamp), ihre groben Späße, und einer oder der andere sagte, der Patriotenkaspar pfeife aus dem letzten Loche. Doch äußerte sich so meistens nur das junge Volk, dessen Erinnerung den Spielmann bloß als eine lächerliche Gestalt kannte; die Alten bekümmerten sich hier so wenig um ihn als andererorten, wenn sie ihm zufällig begegneten. Die Späße der jungen Leute ließ der Patriotenkaspar ruhig und ohne Erwiderung an sich vorübergleiten, oder höchstens zwinkerte er dazu mit seinem unversehrt gebliebenen Auge. Ging aber ein Alter vorbei, der gar nicht tat, als ob er, der Patriotenkaspar, der die alte Orange in Schoonhoven mit hatte vermolestieren helfen, da sitze, so[661] ballte er grimmig in dessen Rücken die Faust und murmelte: »Ihr Schubjacken! Aber ich werde euren Obersten schon ...«

Was ihm am Tage mißlungen war, nämlich in das Haus einzudringen, das meinte er, werde ihm in der Dunkelheit des Abends glücken. Aber er hatte sich getäuscht. Denn als es finster wurde, begannen ein paar Mägde vor dem Hause ein Topfwaschen und Kesselscheuern, welches bis spät dauerte und ihn verhinderte, unbemerkt hineinzuschlüpfen. Als diese mit dem letzten Kessel fertig waren, hatten inzwischen zwei Betrunkene sich in die Türe gestellt, wovon der eine dem anderen seinen Prozeß klarmachen wollte, den er seit mehreren Jahren über eine Durchgangsgerechtigkeit führte. Der andere sagte nach jedem Satze seines Nachbarn: »Verstanden«, und fragte darauf: »Wie war es aber eigentlich?« Der Prozeßführende wiederholte dann seinen Satz, der andere noch einige Male sein verstehendes und fragendes Wort; so rückte die Geschichte äußerst langsam vor, und es war kein Ende derselben abzusehen. Dabei hatten die beiden noch gerade so viel Besinnung, um jeden, der zwischen ihnen durch in die Türe gehen wollte, mit heftigen Gebärden zurückzuweisen, weil sie, in die Prozeßgeschichte vertieft, behaupteten, hier sei keine Durchgangsgerechtigkeit. Weshalb denn auch mehrere, die sich mit jener Absicht ihnen näherten, um Streit zu vermeiden, zurück und neben dem Hause vorbei nach der Hoftüre gingen, der Spielmann aber die Ausführung des Vorsatzes, der ihn an seine Stelle fesselte, aufgeben mußte, solange die Betrunkenen da standen. Endlich, es war schon Mitternacht, kam ein Dritter vom Flure nach der Türe gegangen, faßte, ohne ein Wort zu sagen, die beiden von hinten am Kragen, zog sie zurück und in den Flur, schlug aber darauf sogleich die Türe zu und verriegelte sie von inwendig. Sie wurde nachmals nicht wieder aufgetan.

Die Hochzeitgesellschaft verlor sich gegen ein Uhr nachts und der Oberhof lag nun in dunkelen Schatten still und lautlos da. Jetzt erhob sich der Spielmann von seinem Sitze und umschlich das Gehöft tückisch spähend wie eine Katze, um irgendwo eine offenstehende Lucke oder sonst eine vergessene Öffnung zu finden, durch welche er eindringen könnte. Aber[662] es wollte sich nichts dergleichen finden, und als er an der niedrigsten Stelle der Hofesmauer sich bereitete, überzusteigen, erhoben die Hunde im Hofe ein solches Gebell, daß er befürchten mußte, es möge jemand im Gehöfte wach werden. Er wich daher auf den Zehen und die Zähne zusammenbeißend zurück und ging wieder, seine Flüche verschlingend, nach der Sitzstelle im Eichenkampe, wo er nun ebenso hartnäckig in der Nacht ausharrte, wie bei Tage.

So saß dieser Mensch einen ganzen Nachmittag, einen Abend und mehrere Stunden der Nacht hindurch, erpicht auf sein Vorhaben. Und gleichwohl war dieses nicht auf ein großes Verbrechen oder einen reichlichen Vorteil gerichtet; er wollte dem Hofschulzen weder seine Geldsäcke rauben, noch ihm das Haus über dem Kopfe anzünden, sondern nur ihm einen Schabernack anzutun übte der Feind des Reichen eine solche zähe Beharrlichkeit.

Gegen vier Uhr morgens endlich, als die Gegend noch im halben Dämmer lag, wurde die Türe aufgestoßen, ein Knecht kam herausgegangen um Wasser zu holen und diesen Augenblick benutzte der Lauerer, um in das Haus zu schlüpfen. Er lief über den Flur und die Treppe hinauf, sich vorläufig zu verbergen und während des Tages, wann, wie er vorher wußte, der Oberhof von allen Bewohnern verlassen werden würde, mit seiner Beute zu entkommen.

Nachdem es heller Morgen geworden war, ging der Hofschulze, zwei große Geldsäcke tragend von dem oberen Teile des Hauses nach der Stube unten neben dem Flure und hinter ihm drein ging der Schwiegersohn. Dort setzten sich beide schweigend, wie gestern bei allen wesentlichen Stücken der Hochzeit, an einen großen Tisch. Jeder von ihnen öffnete einen Sack und zählte aus demselben dreitausend Taler in harten runden Talern auf. Es störte den Hofschulzen nicht, daß mehrere Hausgenossen und auch einige Nachbarn, welche sich schon im Hofe eingefunden hatten, vom Flure aus, oder in der Türe der Stube stehend, diesem Aufzählen zusahen. Vielmehr schien es ihm lieb zu sein, Zeugen bei dieser Handlung zu haben, die seinen Reichtum dartat, wie ein hin und wieder zur Seite geworfener stolzer und schmunzelnder Blick andeutete.[663] Das ganze Geschäft nahm wie es begonnen worden, seinen Fortgang und erreichte auch so seine Endschaft; nämlich beide Hauptpersonen redeten kein Wort miteinander während des Geldzählens. Als sechstausend blanke Taler auf dem Tische lagen und von dem Schwiegersohne sorgfältig nachgesehen worden waren, schrieb dieser stumm die Quittung über die empfangene Mitgift und reichte seinem Schwiegervater den Schein, ohne Dank zu sagen, hin, strich sodann das Geld wieder in die beiden Säcke ein und setzte sie zur vorläufigen Verwahrung in einen Wandschrank, der sich in der Stube befand und von welchem er die Schlüssel zu sich steckte.

Der alte Schmitz hatte das Geschäft unterbrechen wollen und war mit der Äußerung, daß er nach der Stadt zurück wolle, vorher aber seine Sache mit dem Hofschulzen in Ordnung bringen müsse, zu diesem in die Stube getreten. Der Hofschulze verweigerte jedoch heute wie gestern, ohne von seinen Talern aufzusehen, jede Einlassung, bis das ganze Pläsier, wie er sich ausdruckte, zu Ende sein werde, worauf er gern über alles und jedes zu Dienst stehen wolle. Denn zwei Sachen zu gleicher Zeit zu treiben, war nicht sein Ehrgeiz, er brachte immer erst eine vollständig zu ihrer Richtigkeit, ehe und bevor er eine andere angriff, und mit diesem Grundsatze war er zu den guten Umständen gelangt, in denen wir ihn kennengelernt haben. – Der alte Sammler entfernte sich verdrießlich und ging nach einem Stalle, worin er etwas hatte niedersetzen lassen, dessen Besitz jetzt seine Seele drückte. Er sah es unter wehmütigen Gedanken an und wünschte sehnlich das Ende des Pläsiers herbei, welches für ihn kein Pläsier war, weil es die Qual der Unentschiedenheit für ihn verlängerte.

Von der Regel, nur ein Geschäft zu derselben Zeit zu treiben, machte indessen der Hofschulze in betreff der kranken Blesse eine Ausnahme. Er begab sich ungeachtet der noch bevorstehenden Hochzeitvergnügungen zu dem Tiere, sah nach, ob ihm auch die Hausmittel gereicht würden, die er verordnet hatte, schaute es mitleidig an, schüttelte den Kopf, streichelte ihm sanft die Weichen und behandelte es überhaupt viel zärtlicher, als seine Tochter oder seinen Schwiegersohn. Leider schien diese Sorgfalt wenig zu verschlagen, da der Zaunpfahl[664] die Kuh zu hart berührt hatte. Sie stöhnte noch erbärmlicher als gestern. Über den rothaarigen Knecht fühlte er den heftigsten Verdruß, denn er hatte dessen Gewaltsamkeit noch spät in der Nacht vor dem Schlafengehen erfahren. Sogleich hatte er dem Menschen den Dienst aufgesagt. Als er ihn daher jetzt ansichtig wurde, rief er heftig: »Was treibst du dich hier noch umher?«

»Ich wollte Euch nur fragen, Baas, ob es Euch ein Ernst gewesen ist mit dem Aufsagen?« versetzte der Rothaarige.

»Wenn ich aufsage, so heißt das Aufsagen und wenn ich nicht lache, so ist das kein Spaß«, erwiderte der Hofschulze.

»Es ist aber unrecht, daß wenn man den besten Willen hat zur Lustbarkeit und dafür sorgen will, daß alles recht schön wird, man aufgesagt kriegt«, antwortete der Rothaarige.

»Wenn ich einer Kreatur, die in ihrer Unvernunft keinen Begriff davon hat, daß Hochzeit ist, die Rippen im Leibe kaputt schlage, so hilft das nicht absonderlich zur Lustbarkeit«, versetzte der Hofschulze kaltblütig. – »Genug, du bist aus dem Dienste und kannst froh sein, daß ich dir nicht den Schaden vom Lohne abziehe, wie Rechtens wäre.«

Der Rothaarige bat hierauf seinen gewesenen Herrn nur um die Vergünstigung, wenigstens noch ein paar Tage im Hofe bleiben zu dürfen, da es ihm gar zu despektierlich sei, gerade auf einer Hochzeit fortgejagt worden zu sein. Diese Erlaubnis gab ihm der Hofschulze, jedoch unter der Bedingung, daß er sich nicht in den heutigen Zug mische, denn er wolle ihn, sagte er, bei dem Pläsier nicht vor Augen haben. Der Rothaarige setzte sich mit einem giftigen Blicke auf einen Schemel im Flur, nicht weit von der kranken Blässe, deren Qualen ihm durchaus keine Gewissensbisse aufzuregen schienen. Er greinte und sagte halblaut für sich: »Könnte ich dem alten Hunde noch zu guter Letzt einen rechten Possen spielen, so würde mir das eine wahre Herzerquickung sein.« – Der Hofschulze ging mit den Worten: »Es muß alles mit Manier behandelt werden, selbst ein Vieh« – zu seinen Gästen, die sich schon wieder in bedeutender Anzahl zu versammeln angefangen hatten, und den Platz vor dem Hause nach dem Eichenkampe zu trinkend und rauchend erfüllten.[665]

Denn heute war der Tag, an welchem die Neuverheiratete mit uralt hergebrachter Feierlichkeit in ihr künftiges Wohnhaus eingerührt werden mußte. Zu dieser Feierlichkeit gehörte eine Fahne, viel Schießgewehr, abermals ein Schmaus, jedoch diesesmal im Gehöfte des jungen Ehemannes und wieder das Spinnrad, welches bei der Hochzeit seine Dienste geleistet hatte.

Der Hochzeitbitter befestigte an einer Stange, von welcher bunte Bänder herabflatterten, ein großes weißes Leintuch und richtete so die Fahne zu. Gegen dreißig junge Burschen hatten Flinten bei sich, diese luden sie mit grobem Schrot oder auch mit Kugeln, sich in lauter und geräuschiger Art vermessend, daß sie der Fahne tüchtig eins versetzen wollten. Die eine Brautjungfer brachte das Spinnrad getragen und endlich erschien die Braut in ihrem gestrigen Putze, gar sehr verschämt, nichtsdestoweniger aber immer noch mit der Brautkrone geschmückt, obgleich sie von den Anwesenden unter derben Scherzreden als Jungefrau begrüßt wurde. Nun ordnete sich der Zug und setzte sich nach dem Gehöfte des Schwiegersohnes in Bewegung. Der Bursche mit der Fahne marschierte an der Spitze, sodann folgte das Ehepaar, diesem schlossen sich die mit den Flinten an, und darauf schritt der Brautvater einher, den übrigen Hochzeitgästen zuvor.

Von den städtischen Gästen erschien nur der alte Schmitz im Zuge. Denn die übrigen, der Diakonus, der Hauptmann und der Küster waren nach der Stadt zurückgekehrt. Der Küster war kein Freund vom Schießen, am wenigsten machte ihm eine solche Ergötzlichkeit Freude, wenn scharf geladen war. Er pflegte daher an dem zweiten Tage der bäuerlichen Hochzeiten jederzeit eilige und unaufschiebbare Geschäfte vorzuschützen, um sich mit Anstand entfernen zu dürfen. Am dritten Tage kehrte er dann mit seiner Magd in das Hochzeithaus zur Abholung des ihm gebührenden Bündels zurück. Heute hatte er noch einen besonderen Grund gehabt, sich schleunigst fortzubegeben. Denn von Agesel, der sich auch heiter und rüstig anfangs unter den Festgenossen auf dem Platze befunden hatte, war ihm mit einem der unheimlichsten Blicke, wie ihn wenigstens bedünkte, das verhängnisvolle Wort zugeraunt worden:[666] »Ich muß Sie durchaus im Vertrauen sprechen, Herr Amtsbruder!« – Grund genug, seine Schritte stadtwärts zu beflügeln.

Was den Diakonus betrifft, so hatte er vor seiner Abreise das junge Paar, welches er so unerwartet vor dem Altare gefunden, sprechen wollen, um mit ihnen über ihre Zukunft zu beraten, die ihm freilich, nachdem er von der Überraschung jenes Augenblicks zum Bedenken zurückgekommen war, sehr zweifelhaft aussah. Er erstaunte, als er hörte, daß der Jäger abwesend und Lisbeth unpaß sei. Indessen hatte er wirkliche Geschäfte in der Stadt, wie der Küster erdichtete, und deshalb konnte er nicht länger außerhalb verweilen. Er verließ sich darauf, daß die jungen Leute zu ihm kommen würden, und daß dann das Nötige überlegt werden könnte. Manche Sorge machte ihm das liebliche Verhältnis; er sah, da er den Stand des Jägers kannte, nicht ein, wie aus jener Liebe sich ein Bund für das Leben gestalten sollte.

Agesel trennte sich, sobald der Zug den Platz vor dem Hause verließ, von den anderen, denn auch ihn riefen nähere Interessen ab. Er ging nach dem Schulhause, welches zu beziehen er gegründete Aussicht hatte, besichtigte das Gebäude oder vielmehr das Baufällige, welches ein Haus vorstellen wollte, maß den Weidefleck ab und verglich dessen Flächeninhalt mit dem Hackelpfiffelsberger. Diese Untersuchung lieferte ein günstiges Ergebnis. Er hatte hier drei Quadratruten mehr als dort, worauf sich immer noch eine Gans mit sattfressen konnte. Während des Abmessens hing er seinem Plane nach, den er in den Worten zu dem Küster angedeutet hatte.

Als der Zug über die nächsten Umgebungen des Oberhofes hinaus war, wurde es in diesem ganz still, so daß man die Fliege an der Wand gehen hören konnte, denn auch die Knechte und Mägde waren nach der Snaat11 des Schwiegersohnes gelaufen. Nur der rothaarige Knecht saß grollend unten im Flur bei den Kühen. Er war ein wilder tückischer Kerl und seine Gedanken gingen in dieser Einsamkeit von einem Frevel[667] zum anderen. Er blickte das Feuer auf dem Kochherde an und sagte: »Wenn ein Brand davon in das Stroh des Stalles geschleudert würde, so flöge der rote Hahn dem Alten auf das Dach, und es würde dennoch immerhin heißen, ein Funken sei zufällig, da kein Mensch auf das Feuer achtgehabt, in das Stroh gesprungen.« – Nach dem Wandschranke, worin die Mitgift stand, sah er und murmelte: »Ein tüchtiger Beilschlag, und der Deckel spränge auf, und unsereins hätte sechstausend Taler, womit sich weit außer Landes kommen läßt. Da fragt kein Kuckuck nach einem.« – Ihn überlief es heiß, er streckte zuweilen seine Hand nach dem Feuer aus und zuweilen erhob er sich dann wieder vom Schemel, als wollte er nach der Stube gehen, worin sich der Wandschrank befand.

In diesen gefährlichen Gedanken horchte er plötzlich auf, denn oben an der Treppe hörte er Geräusche, als ob jemand sacht über den Gang schleiche nach der Treppe zu. Er stand auf und schlich ebenfalls sacht nach dem Treppenfuße, um zu sehen, wer denn da oben so verstohlen zu gehen genötiget sei. Man konnte nämlich von unten den Raum des Ganges zunächst der Treppe überblicken. Nicht lange währte es, so blickten zwei überraschte Gesichter einander an, von denen eins blitzschnell den Ausdruck des größten Schrecks und Entsetzens annahm. Der Knecht sah nämlich zu dem Spielmann auf, der einen langen mit einem Tuche umwickelten Gegenstand unter dem Arme vorsichtig nach der Treppe geschlichen kam und schon den einen Fuß auf deren erste Stufe gesetzt hatte, als er den Blick hinunterwerfend, den unten ansichtig ward, den er freilich weit vom Hofe bei dem Schießen um die Snaat vermutend gewesen war. Einige Augenblicke standen die beiden, die einander unwillkommene Zeugen wurden, der eine des ausgeführten, der andere des vorgesetzten Frevels, glotzend einander gegenüber, der eine oben, der andere unten. Dann aber sprang der Spielmann zurück, und der Knecht hörte ihn die Treppe nach dem Söller hinauflaufen. – »Der Kerl hat stehlen wollen!« rief der Knecht und stürzte die Treppe hinauf.

In jenem vielversprechenden Fragmente des »Faust«, welches Lessing hinterlassen hat, erklärt der Magus, den Geist der[668] Hölle für den schnellsten unter allen, welcher von sich rühmt, daß er so schnell sei, als der Übergang vom Guten zum Bösen. Aber auch einen Engel gibt es, der diesem Teufel die Spitze bietet, er wirkt die Übergänge vom Bösen zum Guten, oder wenigstens zum minder Schlimmen, und diese sind in der Menschenbrust, selbst in der rohsten, oft nicht langsamer als die Werke jenes Teufels.

Der rothaarige tückische Knecht, welcher noch soeben selbst an Mordbrennerei und Raub gedacht und sich in dem Augenblicke, wo er den Spielmann erblickte, nur geärgert hatte, daß sein Vorhaben durch einen Lauscher vereitelt werde, hegte schon in der zweiten Hälfte des nämlichen Augenblicks keinen anderen Gedanken, als daß der Spitzbube von Spielmann seinen Herrn bestehlen wolle, und daß er, der Knecht, das nicht leiden dürfe, sondern den Dieb festnehmen und dem Hofschulzen überliefern müsse. Er stürzte also die Treppe hinauf, fiel vor übergroßer Eile über einen Kasten, der oben auf dem Gange stand, so, daß er sich vor Schmerz nur langsam aufrichten konnte, ließ aber dennoch von seinem Vorsatze nicht ab,

sondern setzte die Verfolgung fort, wenn auch langsamer, als er sie angefangen hatte.

Oben auf dem Söller kam ihm der Spielmann aus der Ecke, worin sich der Verschlag des Jägers befand, entgegen. Der Knecht, dessen Arme von dem Falle nicht gelitten hatten, packte ihn bei der Schulter, dergestalt, daß der Spielmann wie eine Jacke ohne körperlichen Inhalt hin und her flog, und rief: »Halunke, was hast du gestohlen?«

»Nichts«, versetzte der Spielmann, der ungeachtet aller Angst vor dem baumstarken Knechte den Trotz beibehielt, der solchen Leuten in solchen Lagen eigen zu sein pflegt; »seht Ihr etwas bei mir?« – Wirklich trug der Spielmann nichts mehr unter dem Arme. Der Knecht untersuchte seine Kleidungsstücke, aber auch in denen war nichts zu entdecken. Außer der alten grauen Jacke, den zerrissenen und geflickten Hosen und seinem eigenen armseligen Leibe führte er nichts an und bei sich. Der Knecht ließ die Hände sinken und sah aus wie einer, der nicht weiß, was er tun oder denken soll.[669]

Der Spielmann, dessen Zuversicht wuchs, je unschlüssiger er den Knecht werden sah, sagte keck: »Nun, habe ich gestohlen?« – »Ich weiß nicht«, versetzte der Rothaarige, »wohin du es abgeworfen hast, aber ich will dich prügeln, daß dir die Seele aus dem Leibe geht, damit du mir die Stelle anzeigst.«

»Gut«, rief der Spielmann, der sich nicht einschüchtern ließ, »prügelt mich nur ab, prügelt einen unschuldigen Menschen nur ab, Eurem Herrn zu Gefallen, der Euch aus dem Dienste jagte!« – Er hatte von seinem Versteck das Gespräch zwischen dem Hofschulzen und dem Rothaarigen gehört.

Diese Erinnerung warf den Knecht auf die andere Seite hinüber. »Nein!« rief er mit einem Fluche, »stehlen soll zwar keiner bei ihm, solange ich noch im Hofe bin, denn dafür bin ich sein Knecht, aber zu Gefallen tue ich ihm auch nichts, denn dazu hat er mich zu schlecht behandelt.« – »Nun denn, so laßt mich laufen«, sagte der Spielmann.

»Sprich, was du begangen hast, Kerl, und du sollst laufen«, versetzte der Knecht.

Der Spielmann sah sich um, als fürchte er selbst hier einen Lauscher, dann murmelte er dem Knechte ins Ohr: »Einen Schabernack habe ich dem Hofschulzen antun wollen, und, wie ich hoffe, auch angetan. Sonst habe ich nichts wider ihn vorgenommen, noch vornehmen wollen.«

Der Knecht dachte nach. – »Vor Schabernack brauche ich den Alten nicht zu bewahren, sondern nur vor Stehlen, Brennen und Viehschaden; das ist meine Obliegenheit.« – Dann gab er dem Spielmann einen Streich mit der Hand und rief: »Lauf, du Hund!« – Der Spielmann folgte dieser Weisung und sprang behende die Söllertreppe hinunter. – Der Rothaarige hinkte ihm langsam nach. Unten im Flure sagte er: »Wenn der Baas ein Stück Schabernack hat, so kann es mir ganz recht sein, wofern er nur nicht an Geld oder Gut beschädiget wird. Denn ›hilf dir zuvor selber, ehe du andere arzeneiest‹. Diesen Spruch hat er mir letzte Martini mitgeteilt und danach halte ich mich nun. Ich helfe mir zuallererst selber und meiner Bosheit auf ihn durch den Schabernack, den ihm der blinde Halunke angetan hat.« – Hierauf setzte er sich wieder, wo er gesessen hatte, als ob nichts vorgefallen wäre; entschlossen,[670] um keinen Preis etwas von dem geheimen Besuche des Patriotenkaspars im Oberhofe zu verlautbaren.

11

Die Umgrenzung des zu einem Hof gehörigen Feld-, Wiesen- und Baumgrundes.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 661-671.
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