15. Glück und Verstand.

[82] Glück und Verstand reisten zuhauf. »Wem ich helfe, dem gelingt's,« sagte der Verstand. »Das kommt auf die Probe an,« erwiderte das Glück; und wie sie miteinander zankten, erblickten sie einen Bauerjungen, der mit zwei Kühen den Acker pflügte. »Der Junge gefällt mir!« rief der Verstand; »Was meinst du, Bruder Glück, wollen wir mit ihm den Versuch machen?« Das Glück war es zufrieden, und der Verstand, der immer obenaus ist und stets der erste sein will, fuhr, wie er ging und stand, in den Bauerjungen hinein. Der hatte bis dahin ein Lied vor sich hin gepfiffen, so dumm und so klug, wie die Bauerjungen eben ein Lied pfeifen; als aber der Verstand in ihm steckte, dauerte es gar nicht lange, und er schaute nachdenklich die Furchen entlang. Da war eine so schier und gerade, wie die andere, und wer pflügen kann, weiss, was es heisst, schnurgerade Furchen ziehen. »Junge,« dachte er bei sich, »du bist noch so jung und kannst schon so vortrefflich pflügen? Du bist zu gut zum Bauer!« und flugs spannte er die Kühe aus und kehrte auf den Hof zurück.

»Mutter,« sprach er, »mir ist's über, ein Bauer zu sein, ich will in die Stadt und ein Handwerk lernen.« – Seine Mutter war aber eine Witwe und der Junge ihre einzige Stütze und der Erbe des Hofes, denn das eine Kind hatte sie nur; sie sprach darum zornig: »Wer hat dir das in den Kopf gesetzt! Sogleich kehrst du auf den Acker zurück und kommst mir nicht vor Abend nach Hause.« Der Junge gehorchte und verrichtete sein Tagewerk. Den andern Morgen schien es ihm, als pflüge er noch besser, wie den Tag zuvor, und nachdem er ein paar Furchen gezogen, spannte er wiederum aus und kehrte mit den Rindern nach Hause. »Mutter,« sagte er, »miete nur statt meiner einen Knecht! Ich hab's mir noch einmal überlegt, ich bin zu gut zum Bauer und will in die Stadt und ein Handwerk lernen.« – »Ei, guckt mir einmal den Schlingel an,« schalt die Mutter, »nun will er gar mehr sein, wie sein Vater! Nein, daraus wird nichts!« und damit ergriff sie ihres seligen Mannes Knotenstock und zog ihm ein paar wohl gezielte über den Buckel, dass er allen Hochmut vergass und machte, dass er wieder auf das Feld kam.

Den dritten Morgen kamen ihm beim Pflügen dieselben Gedanken, und weil er Furcht vor seiner Mutter hatte, entschloss er sich kurz, liess Pflug und Rinder im Stich und lief trapp, trapp, was er laufen konnte, und ruhte und rastete nicht eher, als bis er im Walde war. Der Busch war aber sehr lang und sehr breit, und er lief drei ganze Tage darin herum, ehe er sein Ende erreichte und in die Stadt gelangte. Von dem vielen Laufen war er müde und hungrig geworden;[83] denn im Walde giebt es nur Beerenwesen und harte Wurzeln. Geld hatte er nicht in der Tasche, dass er sich etwas kaufen konnte, er setzte sich darum vor einem Hause auf die Bank, hielt den Kopf zwischen den Händen und weinte bitterlich. Da schlug ihm mit einem Male ein Mann, mit einem Schurzfell vor dem Leib, auf die Schulter und fragte: »Was fehlt dir, mein Sohn?« – »Ach, lieber Herr!« antwortete der Junge, »ich bin hier fremd, bin, wie ich gehe und stehe, vom Pfluge gelaufen, denn ich bin zu klug zum Bauer und möchte gern ein Handwerk lernen.« – »Einen klugen Lehrjungen könnte ich gerade brauchen,« sprach der Mann, »kannst du aber auch lesen und schreiben? Denn ich bin ein Goldschmied, und wer ein Goldschmied werden will, muss Lesen und Schreiben aus dem Grunde verstehen.« – »Ich bin nicht in die Schule gegangen,« erwiderte der Junge, »aber zeigt mir, wie es gemacht wird, so weiss ich's sogleich.« – »Wenn du das wahr machst, sollst du bei mir bleiben,« sagte der Goldschmied, und nachdem er ihm in seinem Hause satt zu essen und zu trinken gegeben, that er ihn zu einem verständigen Manne, der ihn unterrichten sollte. Hei, das war eine Freude mitanzusehen, wie der Junge alles begriff, und ehe noch vier Wochen vergangen waren, wusste er just so viel, wie sein Lehrer.

Nun führte ihn der Goldschmied in die Werkstatt und befahl dem Altgesellen, dass er ihn in seine Hut nähme. »Junge,« sprach der Altgeselle, als ihm der Meister den Rücken gekehrt, »hier hast du sechs Dreier, lauf zum Krüger und bring mir ein Quart.« Das that der Junge auch; doch als er mit dem Branntwein zurück gekommen war, sagte der zweite Geselle: »Junge, hier hast du einen Sechser, lauf zum Kaufmann und hol mir Schnupftabak, aber auch ja von dem Sauren;« und so hatte der eine dies, der andere das zu bestellen, und der Junge kam aus dem Laufen gar nicht heraus, und das ging einen Tag, wie den andern. Nach einer Woche kam der Meister wieder einmal in die Werkstatt und fragte: »Wie gefällt dir die Goldschmiedekunst?« – »Schlecht,« antwortete der Junge, »wenn ich hin- und herlaufen wollte, konnte ich auf dem Dorfe bleiben. Lernen will ich, und Gold will ich in den Händen haben, um schöne, glitzernde Dinge daraus zu schmieden!« – Da lachte der Meister, dass er sich den Leib halten musste, und sprach: »Wer wird denn einem Lehrjungen Gold in die Hand geben! Zum Verderben ist es zu teuer.« – »Lasst mich nur das nehmen, was die Gesellen fortgeworfen haben, Meister,« bat der Junge, »dann sollt Ihr schon sehen, was ich kann!« Nun lachten auch die Gesellen allesamt; denn was für Gold konnte er meinen? Und der Meister erlaubte ihm, mit dem, was die andern fortgeworfen hätten, zu thun, was er wolle. Da fegte der Junge das Gemüll in der Werkstatt zusammen, that es in den Tiegel und stellte ihn über das Feuer, und all' die abgefeilten Goldstäubchen, die vorher zertreten im Sande gelegen hatten, schmolzen zusammen, und als er den Tiegel wieder vom Feuer nahm, fand sich ein gut Teil Gold auf dem Boden. Darauf nahm er Hammer und Zange und, was der Werkzeuge,[84] die ein Goldschmied bedarf, noch mehr sind, und arbeitete und arbeitete, bis er ein glänzendes Halsgeschmeide verfertigt hatte. »Junge, was hast du da?« rief der Meister, als er die Arbeit erblickte. »Das habe ich aus dem fortgeworfenen Golde gefertigt,« antwortete der Junge. »Und du redest mir vor, du wärest ein Lehrling!« sprach der Goldschmied zornig, »Du bist ja ein Meister über alle Meister. Warte nur, ich werde dich lehren, andere Leute zum Narren haben!« und ehe der Junge es sich versah, hatte er ihm rechts und links um die Ohren geschlagen, und zu guter letzt warf er ihn gar zum Hause hinaus.

Da stand er auf der Strasse und war in vier Wochen ein gelernter Goldschmied geworden und hatte doch keinen Gesellenbrief. Was sollte jetzt aus ihm werden! Und er ging ein Stückchen die Strasse herauf, dann setzte er sich wieder auf eine Bank vor einem Hause und weinte seine bitterlichen Thränen. Es dauerte gar nicht lange, so kam der Herr des Hauses her aus und fragte ihn: »Junge, was weinst du?« – Da erzählte er ihm, wie er von Hause fortgelaufen wäre, weil er zu klug sei, um den Bauer zu spielen, dass ihn der Goldschmied als Lehrjungen angenommen habe, und wie er nun von ihm auf die Strasse gesetzt sei, weil er ein Goldschmied wäre über alle Goldschmiede. »Höre, Junge,« sprach der Mann, »ich mache Singuhren; wenn dir das Handwerk gefällt, so möchte ich es wohl einmal mit dir versuchen.« Das war der Junge zufrieden, und nachdem ihm die Meisterin Brot, Butter und Käse vorgesetzt hatte und er satt geworden war, führte ihn der Meister in die Werkstatt und übergab ihn dem Altgesellen. Da ging es wieder, wie beim Goldschmied: »Junge, hol das, und, Junge, bring das!« und er kam vor dem vielen Laufen gar nicht zur Ruhe. »Nun, wie gefällt dir das Handwerk?« fragte der Meister, nachdem ein paar Wochen verflossen waren. »Gar nicht,« antwortete der Junge, »um den Laufburschen abzugeben bin ich nicht in die Stadt gekommen; lernen will ich und Spieluhren arbeiten.« – »Meinetwegen,« sprach der Meister, »du sollst deinen Willen haben. Oben auf dem obersten Boden steht in der grossen Kiste eine alte Singuhr, die hat mein Grossvater einmal als Bezahlung gegen eine andere Uhr angenommen, hat aber nichts damit anfangen können. Vater sagte, es sei der Mühe nicht wert, und ich habe sie noch nicht einmal angesehen. Daran magst du dich versuchen!« Und dabei lachte er vor Vergnügen, und die sieben Gesellen in der Werkstatt lachten mit, denn sie wollten dem Meister nicht nachstehen. Der Junge aber kümmerte sich nicht darum, sondern lief auf den Boden und trug die alte Singuhr auf den Hof; dort fegte er zuerst sauber die Spinnengewebe aus, denn was meint ihr, wie die Spinnen in einer alten Uhr hausen, die hundert Jahre auf dem obersten Boden im Kasten gelegen hat; und nachdem das Gehäuse gereinigt war, schaute er nach und holte die Räder heraus. Hier fehlte ein Zapfen und dort ein Zahn, er aber holte Handwerkszeug aus der Werkstatt und fügte das Fehlende so geschickt ein, dass die Uhr, als er sie wieder zusammen gesetzt hatte, so herrlich spielte und sang, dass die Leute auf der Strasse stehen blieben,[85] um dem schönen Singsang zu lauschen. Als der Meister die Arbeit des Jungen besah, wunderte er sich zwar auch über die Massen; doch war er nicht so thöricht, wie der Goldschmied, sondern er machte den Lehrjungen sofort zum Gesellen, stellte ihm einen Brief aus und setzte ihn über die ganze Werkstatt. Alle Arbeit musste er zuvor beschauen, und dann kam sie erst an die andern Gesellen; und er machte seine Sache so gut, dass der Meister sich um nichts mehr zu kümmern brauchte.

Nun hatte der König in der Stadt eine Singuhr, an der hing sein ganzes Herz. Eines schönen Tages machte es jedoch schnurrrrr, und das Räderwerk stand und war auch nicht wieder in Bewegung zu setzen. Da liess der König ausrufen, wer ihm die Singuhr in Ordnung brächte, dem wolle er zur Belohnung geben, was er sich wünsche; wer sich aber an die Arbeit mache und nicht damit fertig würde, solle den Kopf verlieren. Auf die Bedingung hin meldete sich gar niemand; denn alle hätten sich wohl gerne gewünscht, was sie am liebsten haben mochten, aber sie fürchteten samt und sonders, den Kopf zu verlieren. Nur der Meister, bei dem der Junge in Arbeit stand, ging auf das Schloss und sagte, er wolle die Uhr wieder in Ordnung bringen. »Hier ist die Uhr, setz dich hin!« sagte der König. »Nein, meine Augen sind für so feine Arbeit schon zu trübe,« antwortete der Meister, »aber ich habe einen Gesellen, der soll mir helfen.« Das war der König zufrieden, und der Junge wurde geholt. Der sah kaum in das Räderwerk hinein, so wusste er, woran es lag; aber er legte die Uhr wieder auf den Tisch und rührte nicht Hand noch Fuss. »Warum arbeitest du nicht?« fragte der Meister. »Das sollte mir fehlen,« erwiderte der Junge, »ich setze meinen Kopf zum Pfande, und Ihr erntet den Lohn ein, wenn die Arbeit gelingt. Entweder Ihr bringt die Uhr in Ordnung, und ich gehe hinaus, oder ich bringe die Uhr in Ordnung, und Ihr geht hinaus.« – »Nichtsnutziger Schlingel!« rief der Meister und gab dem Jungen einen Schlag an die Ohren; der liess sich das nicht gefallen, und es hätte wohl gar eine grosse Prügelei abgegeben, wenn nicht der König dazu gekommen wäre.

»Herr König,« rief der Meister und war kirschrot im Gesicht, »es geht drunter und drüber in Eurem Reiche.« – »Nein, Herr König,« fiel ihm der Junge ins Wort, »ist's nicht billig, dass der, welcher die Uhr herstellt, auch die Belohnung empfängt?« – »Gewiss ist das recht und billig,« sagte der König verwundert; und als ihm der Junge erzählt hatte, woher der Streit entstanden sei, fragte er den Meister, ob er die Arbeit machen wolle oder nicht. Und als der Meister versicherte, er könne es wohl, aber die Augen seien ihm zu trübe geworden, darum müsse es sein Geselle thun, sprach der König: »Was hat er dann in dem Schlosse zu thun! Marsch fort, oder ich lasse ihn hinausbringen.« Der Meister knirschte vor Wut mit den Zähnen, aber er musste gehorchen, denn der König verstand keinen Spass, und der Junge konnte seine Arbeit beginnen. Es dauerte gar nicht lange, so hatte er alles wieder in Ordnung gebracht, und der[86] König wurde gerufen, dass er die Arbeit beschaue. Als die Uhr sang, rief er: »So, wie früher, geht sie nicht, sondern zehnmal schöner, darum wünsch dir jetzt, was du willst, und wenn es in meiner Macht steht, soll dir der Wunsch gewährt werden.« Antwortete der Junge: »Herr König, mein Vater ist schon lange tot, und ob Mutter noch lebt, weiss ich nicht; wenn ich wünschen könnte, was ich will, wünschte ich, dass Ihr mich an Kindesstatt annehmen möchtet.« – »Das soll geschehen,« sprach der König, »mein einziger Sohn ist in deinem Alter, und da passt ihr zusammen.« Der junge Prinz wurde sogleich herein gerufen, und als er vernahm, was geschehen sei, gab er seinem neuen Bruder freundlich die Hand; dann bekam derselbe königliche Kleider anzuziehen und wurde Prinz Karl genannt, während des Königs rechter Sohn Prinz Friedrich hiess.

Jeden Morgen ritten die Prinzen aus, und da die Stadt sieben Thore hatte, hätten sie alle Tage der Woche ein anderes Thor gehabt; doch jedesmal, wenn sie bis zum sechsten Thor gelangt waren, kehrte Prinz Friedrich um und begann wieder mit dem ersten. Das nahm Prinz Karl Wunder, und er fragte Prinz Friedrich, weshalb er das thäte. Der wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus; als aber sein Bruder nicht nachliess, in ihn zu dringen mit Bitten und Quälen, sprach er endlich: »Nun gut, du sollst es erfahren. Ich habe noch eine Schwester, die hat ihr Lebtage mit keinem Menschen ein Wort gesprochen, so trotzig und hochfahrend ist sie. Da ist mein Vater zornig geworden und hat sie vor dem siebenten Thore in das Wachthäuschen gesperrt, und eine Tafel ist daran geschlagen: ›Wer meine Tochter zum Sprechen bringt, erhält sie zur Frau und wird mein Nachfolger im Reiche; wer es versucht, und es gelingt ihm nicht, wird desselben Tages gehangen.‹ Und damit niemand den König belügen kann, sitzen drei alte ausgediente Feldwebel vor dem Häuschen und schreiben jeden auf, der zu der Prinzessin hineingeht, und verdienen sich damit für ihre alten Tage das Gnadenbrot.« – »Wenn es weiter nichts ist,« antwortete Prinz Karl, »das hättest du mir schon eher sagen können; mich gelüstet's nicht, den Kopf zu verlieren, und die Prinzessin hat vor mir Ruhe;« innerlich dachte er aber anders. Sein ganzes Sinnen und Trachten stand von nun an allein auf die Prinzessin, und er hatte nur deshalb so gesprochen, damit Prinz Friedrich mit ihm durch das siebente Thor ritte.

Das that Prinz Friedrich denn auch, und schon am andern Morgen ritten sie durch das siebente Thor. Die drei alten ausgedienten Feldwebel standen stramm, wie die Puppen, als die beiden Prinzen vorüber kamen; die Prinzessin aber, welche am Fenster war, that, als sähe sie nichts, und dankte auch nicht, als die Prinzen sie grüssten. »Sag mir, mein Bruder,« begann Prinz Karl, nachdem sie eine Weile geritten waren, »was hat denn deine Schwester in der Stube, in der sie gefangen sitzt?« – Antwortete Prinz Friedrich: »Je nun, was soll sie haben? In der Stube stehen ein Bett und zwei Stühle, ein Tisch und ein Schrank, und mit ten an der einen Wand hängt ein grosser, mächtiger[87] Spiegel. Das ist ihr Herrgott. Vor dem steht sie wohl hundert Mal des Tages und schaut hinein.« Nun hatte Prinz Karl genug gehört, und er fragte seinen Bruder nicht weiter. Als sie aber auf dem Rückwege wieder an dem Wachthäuschen vorbei kamen, sprang Prinz Karl geschwind vom Rosse, und ehe Prinz Friedrich wusste, was geschah, hatte er den drei Feldwebeln seinen Namen genannt und war in das Häuschen gelaufen. Poch! poch! poch! klopfte er an, aber niemand rief herein. Da öffnete er die Thüre und trat in das Zimmer. Die Prinzessin stand vor dem Spiegel und beschaute darin ihre Schönheit; Prinz Karl aber drängte sie bei Seite und rief: »Guten Tag, Spiegel!« – Die Prinzessin sah dem fremden Mann verwundert ins Gesicht. »Guten Tag, Spiegel!« rief Prinz Karl zum zweiten Male, und die Prinzessin schaute ihm immer ängstlicher ins Auge. »Guten Tag, Spiegel!« schrie Prinz Karl mit lauter Stimme, dass die Stube dröhnte, »Wenn du mir jetzt keine Antwort giebst, zerschlage ich dich in tausend Stücke!« – »Ach, lieber Herr,« sprach da die Prinzessin und stellte sich vor ihren Herrgottsspiegel, »wie könnt Ihr so unvernünftig sein! Ein Spiegel kann doch nicht reden.« – »Es ist gut,« lachte Prinz Karl und ging zum Wachthäuschen hinaus, schwang sich auf sein Pferd und ritt Prinz Friedrich nach.

Die drei alten ausgedienten Feldwebel hatten wohl gehört, dass der Prinz die Prinzessin zum Sprechen gebracht, aber sie fürchteten, es würde ihr Dienst aus sein und das faule Leben ein Ende haben, wenn die Prinzessin aus dem Wachthäuschen heraus käme. Sie setzten darum eine falsche Meldung auf an den König, darin stand geschrieben: »Prinz Karl ist in das Wachthaus gedrungen, um die Prinzessin zum Reden zu bringen. Es ist ihm aber ergangen, wie den andern allen, und die Prinzessin ist stumm geblieben, wie ein Fisch im Wasser.« Gerade, als der König die Melduug gelesen hatte, trat Prinz Karl vor ihn und verlangte die Prinzessin zur Frau; denn er habe sie zum Reden gebracht. »Belügst du mich, deinen Vater?« rief der alte König zornig; »Hier, das ist die Wahrheit, das haben drei alte ausgediente Feldwebel, geschworene Leute, geschrieben!« und damit zeigte er ihm die Meldung. Da war freilich nichts zu machen, denn es standen drei gegen einen, und Prinz Karl musste sich auf den Armesünder-Karren setzen und wurde zum Galgen gefahren. Prinz Friedrich aber weinte und wollte sich nicht trösten lassen, denn er hielt sich schuld an dem ganzen Unglück.

Als Prinz Karl unten an der Leiter stand, kam das Glück auf den Richtplatz gegangen, aber niemand sah es, und sprach zu dem Verstand in dem Jungen, aber niemand hörte es: »Nun, Bruder Verstand, bis zum Galgen hast du deinen Freund ja gebracht! Viel Freude hat er bis jetzt auch nicht erlebt; aber Schläge hat er genug bekommen von der Mutter, dem Goldschmied und dem Singuhrenmacher.« – »Du hast recht, Bruder Glück,« antwortete der Verstand, »ein Prinz ist er zwar durch mich geworden, aber nun weiss ich mir keinen Rat und keine Hilfe mehr.« Sprach das Glück: »Jetzt werde ich mich[88] seiner annehmen, und, hast du nicht gesehen, während der Junge die Leiter hinaufstieg, fuhr der Verstand aus ihm heraus und das Glück in ihn hinein.« Als Prinz Karl oben angelangt war und der Henker ihm die Schlinge schon um den Hals gelegt hatte, fiel ihm zum guten Glücke ein, dass er noch eine letzte Bitte stellen konnte, die ihm der König nicht abschlagen durfte. »Vater,« sagte er, »ich bestehe auf meinem Recht, ich habe noch eine Bitte.« – »Sie soll dir gewährt werden,« antwortete der König, »nur um das Leben darfst du nicht bitten.« – Sprach Prinz Karl: »So bitte ich, dass ich noch einmal die Prinzessin zum Reden bringen darf, während du mit Prinz Friedrich an der Thüre stehst und horchst.« Da musste der Henker sogleich die Schlinge wieder vom Nacken nehmen, und der König setzte sich mit den beiden Prinzen in den Wagen, und sie fuhren durch das siebente Thor zu dem Wachthäuschen. Prinz Karl that, wie er das erste Mal gethan, er pochte an und ging, als niemand herein sagte, ohne weiteres in die Stube. Dann sprach er wiederum, während der König und Prinz Friedrich an der Thüre standen und horchten: »Guten Tag, Spiegel! Guten Tag, Spiegel! Guten Tag, Spiegel! Und wenn du mir jetzt nicht Antwort giebst, zerschlage ich dich in tausend Stücke!« – Trat die Prinzessin wieder vor ihn hin, dass er ihrem Herrgott nichts anhaben möchte, und sprach; »Lieber Herr, ich habe Euch schon einmal gesagt, Ihr sollt nicht so unvernünftig sein und von einem Spiegel verlangen, dass er redet. Was wollt Ihr überhaupt in meiner Stube?« Erwiderte Prinz Karl: »Liebe Prinzessin, ich will Euch eine Geschichte erzählen, die mir selbst zugestossen ist: Ich bin ein Uhrmacher und ging einmal mit einem Bildhauer und einem Schneider auf Wanderschaft. Eines Nachts kamen wir in einen grossen Wald. Da fürchteten wir uns vor den wilden Tieren und beschlossen, dass einer immer für die andern wachen solle. Wir warfen das Los, und die erste Nummer traf den Bildhauer, die zweite erhielt der Schneider, während mir die dritte Nummer zuteil wurde. Während wir schliefen, wurde aber dem Bildhauer die Zeit lang, und er ergriff einen Block, zog das Messer aus der Tasche und schnitzte daraus ein wunderschönes Frauenbild. Als seine Zeit um war, war auch das Bild fertig, und er lehnte es an den Baum und legte sich schlafen. Der Schneider, der jetzt an der Reihe war, sah das Bild, und es dauerte ihn, dass es nackend war. Flugs schnallte er sein Ränzel auf, holte Nadel und Zwirn und Zeug hervor und nähte dem Bilde ein Kleid und zog es ihm an. Das hatte er eben gethan, da war seine Zeit verstrichen, und ich musste die Wache besorgen.« »Als ich das schöne Frauenbild in dem herrlichen Kleide sah, dachte ich: ›Wie schön wäre es, wenn es sprechen könnte!‹ Mein Werkzeug hatte ich zur Hand, und ehe noch der Morgen anbrach, hatte ich eine Stimme verfertigt. Die setzte ich dem Frauenbild in den Mund, da sprach es, wie ein vernünftiger Mensch.« – »Das ist nicht wahr,« rief die Prinzessin. »Und es ist doch wahr!« antwortete der Prinz, »Der Bildhauer, der das Bild geschnitzt hat, ist dein Vater; der[89] Schneider, der es kleidete, ist deine Mutter, und ich bin der Uhrmacher, ich habe dir die Stimme eingesetzt, dass du wieder sprechen und singen, lachen und weinen kannst, wie ein vernünftiger Mensch.« – »Ja, Prinz Karl hat recht,« riefen der alte König und Prinz Friedrich aus einem Munde, stiessen die Thüre auf und traten in die Stube hinein. Da musste die Prinzessin sogleich mit dem König und den beiden Prinzen in den Wagen steigen, und sie fuhren zu vieren auf das Schloss, und die Hochzeit wurde noch an demselben Abend mit grosser Pracht und Herrlichkeit gefeiert, nachdem sie zuvor zugesehen, wie die drei Erzlügner, die alten ausgedienten Feldwebel, an den höchsten Galgen gehängt wurden und in der freien Luft baumelten.

Nach der Hochzeit machte das Glück wieder, dass es zum Verstande kam. »Bruder,« sagte der Verstand, »nun hab' ich es selbst erfahren: deine Freunde sind besser beraten, wie meine!« dann setzten sie selbander ihre Reise fort, weiss Gott, wem sie jetzt helfen mögen.

Quelle:
Ulrich Jahn: Volksmärchen aus Pommern und Rügen l, Norden/Leipzig 1891, S. 82-90.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
Volksmärchen aus Pommern und Rügen
Volksmärchen Aus Pommern Und Rügen, Part 1 (German Edition)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon