Neuntes Kapitel

[279] Kartoffelkriege mit Weibern – und mit Männern – der Dezemberspaziergang – Zunder der Eifersucht – Erbfolgekrieg um den grillierten Kattun – Zerfallen mit Stiefel – die schmerzhafte Abendmusik


Ich wünschte, ich schweifte gelegentlich ein wenig aus; aber es fehlt mir an Mut.

Denn es gibt heutzutage wenige Leser, die nicht alles verstehen – wenigstens unter den jungen und geadelten –, und diese fodern (ich verarg' es ihnen nicht) von ihren Schoßautoren, sie sollen noch mehr wissen, was eine Unmöglichkeit ist. Durch das englische Maschinenwesen der Enzyklopädien – der enzyklopädischen Wörterbücher – der Konversationslexika – der Auszüge aus dem größern Konversationslexikon – der allgemeinen Wörterbücher aller Wissenschaften von Ersch und Gruber setzt sich ein junger Mann in wenigen Monaten bloß am Tage – die Nächte braucht er nicht einmal – in einen ganzen akademischen Senat voll Fakultäten um, den er allein vorstellt und unter welchem er als die akademische Jugend gewissermaßen selber steht.

Ein ähnliches Wunder als ein solcher junger Mann und Hauptstädter ist mir nie vorgekommen, es müßte denn der Mann sein, den ich in der Baireuther Harmonie gehört, welcher seinerseits wieder eine ganze Académie royale de musique, ein ganzes Orchester darstellte, indem er mit seinem einzigen Körper alle Instrumente trug und spielte. Es blies dieser Panharmonist vor uns Teilharmonisten ein Waldhorn, das er unter dem rechten Arme fest hielt, dieser strich wieder eine Geige, die er unter dem linken hielt, und dieser klopfte wieder zur schicklichsten Zeit eine Trommel, die er auf dem Rücken trug – und oben hatt' er eine Mütze mit Schellen aufgesetzt, die er leicht mit dem Kopfe janitscharenmäßig schüttelte – und an die beiden Fußknorren hatt' er Janitscharen-Bleche angeschnallt, die er damit kräftig widereinander schlug; – und so war der ganze Mann ein langer[279] Klang, vom Wirbel bis zur Sohle, so daß man diesen Gleichnis-Mann gern wieder mit etwas verglichen hätte, mit einem Fürsten, der alle Staats-Instrumente, Staats-Glieder und Repräsentanten selber repräsentiert. – – – Wo soll nun aber vor Hauptstädtern und Lesern, welche einem solchen Allspieler als Allwisser gleichen, ein Mann wie ich, der, wenn es hoch kommt, nur von sieben Künsten Heidelberger Magister und einiger Philosophie Doktor ist, rechten Mut hernehmen, in ihrer Gegenwart künstlich und glücklich auszuschweifen? – Fortgang in meiner Erzählung ist hier weit sicherer.

Den Advokat Siebenkäs treffen wir denn unter lauter Hoffnungen, aber mit tauben Blüten wieder an. Er hatte gehofft, er werde nach dem Königsschusse wenigstens so lang gute Tage erleben, bis das Schußgeld aufgezehret sei, wenigstens 14; aber das Trauerschwarz, das jetzo die Reiseuniform ist, sollte auch die seinige auf seiner irdischen Nachtreise bleiben, auf dieser voyage pittoresque für Poeten. Die Menschen nicht, aber die Hamster und Eichhörnchen wissen gerade das Loch ihrer Wohnung zu füllen, das gegen die künftige Wetterseite aufsteht; Firmian dachte, sei das Loch in seinem Beutel geflickt, so fehl' ihm weiter nichts – ach es ging ihm jetzt etwas Bessers ab als Geld, – Liebe. Seine gute Lenette trat immer weiter von seinem Herzen weg und er von ihrem.

Ihr Verhehlen des von Rosa zurückgelieferten Straußes setzte in seiner Brust, wie jeder fremde Körper in jedem Gefäße des Leibes, Stein um sich an. Das war aber noch wenig.

Sondern sie fegte und wischte am Morgen, er mochte pfeifen, wie er wollte –

Sie fertigte alle Landtagabschiede und andere Dekrete ans Laufmädchen noch immer in einigen Duplikaten und »vidimierten Kopien« aus, er mochte protestieren, wie er wollte –

Sie befragte ihn um jede Sache noch einigemal, er mochte immerhin vorher schreien wie ein Marktschreier oder hinterher fluchen wie ein Kundmann des letzten –

Sie sagte noch immerfort: es hat vier Viertel auf 4 Uhr geschlagen – Sie gab ihm noch immer, wenn er den mühsamsten[280] Beweis geführt, daß Augsburg nicht in Zypern liege, die gründliche Antwort: es liegt aber doch auch nicht in Romanien, nicht in der Bulgarei, nicht im Fürstentum Jauer, noch bei Vaduz, noch bei Husten, zwei sehr unbedeutenden Flecken – Er konnte sie nie dahinbringen, ihm offen beizufallen, wenn er ganz unbedingt verfocht und aufschrie: es liegt beim Teufel in Schwaben. Sie räumte bloß ein, es liege gewissermaßen zwischen Franken, Bayern, Schweiz etc.; und nur bei der Buchbinderin gestand sie die schwäbische Lage.

Solche Lasten und Überfrachten indessen konnten noch ziemlich von einer Seele getragen werden, die sich mit den Mustern großer Dulder stärkte, mit dem Muster eines Lykurgs, der sich geduldig von Alkander das Auge, oder eines Epiktets, der sich von seinem Herrn das Bein verhunzen ließ – und ich habe auch aller dieser Rostflecken Lenettens schon in vorigen Kapiteln gedacht. Aber ich habe ganz neue Fehler zu berichten und stell' es parteilosen Ehemännern zum Spruche anheim, ob solche auch unter die Mängel gehören, die ein Ehegenoß ertragen kann und soll.

Zuallererst: Lenette wusch sich die Hände des Tags wohl vierzigmal – sie mochte anfassen, was sie wollte, so mußte sie sich mit dieser hl. Wiedertaufe versehen; wie ein Jude wurde sie durch jede Nachbarschaft verunreinigt, und den eingekerkerten Rabbi Akiba, der einmal im größten Wassermangel und Durst das Wasser lieber verwusch als vertrank, hätte sie mehr nachgeahmt als bewundert.

»Sie soll reinlich sein (sagte Siebenkäs) und reinlicher als ich selber – aber Maße muß gehalten werden. – Warum trocknet sie sich denn nicht mit dem Handtuch ab, wenn ein fremder Atem darüber geflogen? Warum säubert sie ihre Lippen mit keiner Seifenkugel, wenn eine Mücke sich – und mehr dazu – auf solche gesetzt? – Hat sie nicht unsere Stube zu einem englischen Kriegschiffe gemacht, das täglich innen und außen überwaschen wird, und hab' ich nicht dem Fegen so friedlich zugesehen als irgendeiner auf dem Verdeck?« Zog eine breite irländische Wolke oder eine donnernde Wasserhose über ihre und seine Tage: so wußte sie den Mann und[281] seinen Mut wie eine holländische Festung ganz unter Wasser zu setzen und gab allen Tränen ein weites Bett. Warf hingegen einmal die Glücksonne einen Dezembersonnenschein, nicht breiter als ein Fenster, in ihre Stube: so wußte Lenette hundert Dinge zu tun und zu sehen, um nur schönere nicht zu bemerken. Firmian hatte sich besonders vorgenommen, vorzüglich diese paar Tage, wo er einen Gulden hatte, recht auszuspelzen oder abzurahmen und das zweite Janusgesicht, das über Vergangenheit und Zukunft blicken oder weinen wollte, dicht zu verhängen; – aber Lenette zerschlitzte den Schleier und wies auf alles. Ihr Mann versicherte mehr als einmal: »Traute, passe nur, bis wir wieder blutarm und hundsübel dran sind: mit Freuden will ich dann mit dir ächzen und lechzen!« Wenig verfing. – Nur einmal gab sie ihm anständig zur Antwort: »Wie lange währts, so ist doch wieder kein Pfennig im Haus.« Aber darauf wußt' er noch verständiger zu versetzen: »Sonach nicht eher willst du einen heitern stillen Tag recht genießen, als bis man dir Stein und Bein schwören kann, daß kein elender, düsterer, wolkiger nachkommt? Dann koste ja keinen! Welcher Kaiser und König, und hätt' er Thronen auf dem Kopf und Kronen unter dem Steiß, kann nur auf einen Post- oder Landtag lang versichert sein, daß beide nichts Nebliges bringen? Und doch genießt er rein seinen hellen Tag in Sanssouci oder Bellevue oder sonst, ohne weiter zu fragen, und freuet sich des Lebens.« (Sie schüttelte den Kopf.) – »Ich kann dir das nämliche auch gedruckt und griechisch beweisen«, sagt' er und trug in das aufgeschlagne Neue Testament auf Geratewohl vorlesend die Stelle ein: »Verschiebst du die innige Feier einer glücklichen Zeit so lange, bis eine andere kommt, wo lauter Hoffnungen in ungetrübter Reihe durch Jahre vor dir hinliegen: so ist auf unserer ewig wankenden glatten Kugel keine einzige innige Freude gedenkbar; denn nach zehn Tagen oder Jahren erscheint gewiß ein Schmerz; und so kannst du dich an keinem Maientage erlaben, und flatterten alle Blüten und Nachtigallen auf dich nieder, weil ganz gewiß der Winter dich mit seinen Flocken und Nächten bedeckt. Genießest du aber doch deine warme Jugend ungescheuet vor der im Hintergrund wartenden[282] Eisgrube des Alters, in welcher du durch immer wachsende Kälte noch einige Zeit aufbewahret wirst: so halte das frohe Heute für eine lange Jugend und das trübe Übermorgen für ein kurzes Alter.« – »Das Griechische oder Lateinische«, versetzte sie, »nimmt sich schon geistlicher aus, und auf der Kanzel wird die Sache oft gepredigt, ich geh' auch jedesmal recht getröstet nach Haus, bis das Geld uns wieder ausgeht.«

Noch schwerer hatt' ers, sie auf die rechten Freudensprünge zu bringen, mittags am Eßtische. Rauchte nämlich statt ihres täglichen Häcksels ein besonderer ägyptischer Fleischtopf, ein seltner Braten, den die Grafen von Wratislaw ohne Schande hätten liefern und die von Waldstein88 mit Ehren hätten vorschneiden können, rauchte ein solcher Schmaus über das Tischtuch: so konnte Siebenkäs gewiß hoffen, daß seine Frau einige hundert Dinge mehr vor dem Essen wegzuarbeiten habe als sonst. – Der Mann sitzt dort und ist willens anzuspießen – blickt umher, gedämpft anfangs, dann grimmig – wird doch seiner Meister auf einige Minuten lang – denket inzwischen neben dem Braten bei so guter Muße seinem Elende nach – tut endlich den ersten Donnerschlag aus seinem Gewitter und schreiet: »Das Donner und Wetter! ich sitze schon ein Säkulum da, und es friert alles ein – Frau, Frau!«

Es war bei Lenetten (und so bei andern Weibern) nicht Bosheit – noch Unverstand – noch störrische Gleichgültigkeit gegen die Sache oder gegen den Mann – sondern das Gegenteil stand durchaus nicht in ihrer Gewalt; und dies erklärt es sattsam.

Inzwischen wird mein Freund Siebenkäs, der diese Darstellung noch früher in die Hand bekommt als selber der Setzer, mirs nicht verargen, daß ich auch seinen Frühstückfehler – hab' ich ihn ja doch aus seinem eignen Munde – der Welt entdecke. Lag er nämlich am Morgen im Gitterbette mit zugeschloßnen Augen ausgestreckt, so fiel er darin auf Einfälle und Einkleidungen für sein Buch, auf die er stehend und sitzend den ganzen Tag nie gekommen wäre; und in der Tat sind mir mehre Gelehrte aus[283] der Geschichte bekannt – z.B. Cartesius – Abt Galiani – Basedow – sogar ich, den ich nicht rechne –, welche, zu der Wanzenart der Rückenschwimmer (Notonectae) gehörig, nur liegend am weitesten kamen, und für welche die Bettlade die beste Braupfanne der geistreichsten unerhörtesten Gedanken war. Ich selber könnte mich desfalls auf manches berufen, was ich geschrieben, wenn ich aufgestanden war. Wer die Sache gut erklären will, der führe hauptsächlich die Morgenkraft des Gehirns an, das nach den äußern und innern Ferien um so leichter und stärker dem Lenken des Geistes sich bequemt, und füge noch die Freiheit sowohl der Gedanken als der Gehirnbewegungen hinzu, welchen der Tag noch nicht seine vielerlei Richtungen aufgedrungen, und endlich noch die Macht der Erstgeburt, welche der erste Gedanke am Morgen, ähnlich den ersten Jugendeindrücken, ausübt. – Solchen Erklärungen zufolge konnte nun dem Advokaten, wenn er so im warmen Treibbeete der Kissen wuchs und die besten Blüten und Früchte trug, nichts Verdrüßlicheres zu Ohren kommen als Lenettens Ruf in der Stube: »komm herein, der Kaffee ist fertig«; gewöhnlich gebar er in der Eile, obgleich in steter Horchangst vor einem zweiten Marschbefehl, noch einen oder ein paar glückliche lebhafte Gedanken in seinem Kindbette nach. Da Lenette aber seine Respekt- oder Respitminuten, die er sich zum Aufstehen nahm, vorauswußte, so rief sie schon, wenn der Kaffee erst kochte, in die Kammer hinein: »Steh auf, er wird kalt.« Der satirische Rückenschwimmer wurde wieder seines Orts dieses Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen gewahr und blieb ganz ruhig und vergnügt voll Anstrengung zwischen den Federn und brütete fort, wenn sie erst das erstemal gerufen hatte, und antwortete bloß: »den Augenblick!« sich seines gesetzmäßigen Doppel-Usos von Frist bedienend.

Dies nötigte wieder die Frau von ihrer Seite noch weiter zurückzugehen und schon, wenn der Kaffee kalt am Feuer stand, zu rufen: »Komm, er wird kalt.« Auf diese Weise aber war bei einem solchen wechselseitigen Verfrühen und Verspäten, das täglich bedenklicher wuchs, nirgends Einhalt und Rettung abzusehen, sondern vielmehr eine solche Steigerung zu befahren, daß[284] Lenette ihn um einen ganzen Tag voraus zu früh zum Kaffee rief, wiewohl beide am Ende wieder auf die rechten Sprünge zurückgekommen wären; so wie die jetzigen Abendessen versprechen, sich allmählich in zu frühe Frühstücke zu verkehren, und die Frühstücke in zu bürgerliche und frühe Mittagessen. – Leider konnte Siebenkäs sich nicht an den Notanker anhalten, daß er etwa den Kaffee hätte mahlen hören und dann nach einer leichten Berechnung zum Siedepunkte aufgestanden wäre; denn aus Mangel an Kaffeetrommel und – mühle wurde – so wie vom ganzen Hause nur gemahlner gekauft. Freilich Trommel und Mühle hätten sich durch Lenette ersetzen lassen, wäre sie zu bewegen gewesen, keine Minute früher zum Kaffee zu rufen, als bis er auf dem Tische kochte und dampfte; aber sie war nicht zu bewegen. –

Kleinere Zänkereien vor der Ehe sind große in ihr, so wie die Nordwinde, die im Sommer warm sind, im Winter kalt wehen; der Zephyrwind aus ehelichen Lungen gleicht dem Zephyr im Homer, von dessen schneidender Kälte der Dichter so viel singt. Von nun an legte sich Firmian darauf, neue Risse, Federn, Asche, Wolken im hellen Diamant ihres Herzens wahrzunehmen – – Du Armer, auf diese Weise muß bald ein Stein vom brüchigen Altar deiner Liebe nach dem andern abfallen, und deine Opferflamme muß wanken und schwinden.

Er entdeckte jetzo, daß seine Lenette bei weitem nicht so gelehrt sei wie die Dlles. Burmann und Reiske – kein Buch machte ihr Langweile, aber auch keines Freude, und sie konnte das Predigtbuch so oft lesen als Gelehrte den Homer und Kant – alle ihre Profanskribenten zogen sich auf ein Ehepaar ein, auf die unsterbliche Verfasserin ihres Kochbuchs und auf ihren Mann, den sie aber nie las. Sie zollete seinen Aufsätzen die größte Bewunderung, tat aber keinen Blick hinein. Drei vernünftige Worte mit der Buchbinderin waren ihr köstlicher als alle gedruckte des Buchbinders und des Buchmachers. Ein Gelehrter, der das ganze Jahr neue Schlüsse und neue Dinte macht, begreift es nicht, wie ein Mensch leben könne, der kein Buch oder keine Feder im Hause hat und keine Dinte, sondern bloß die gelbe geborgte des Dorfschulmeisters. – Er nahm oft eine außerordentliche Professur[285] an und bestieg den Lehrstuhl und wollte sie in einige astronomische Vorkenntnisse einweihen; aber entweder hatte sie keine Zirbeldrüse als Rittersitz für die Seele und deren Gedanken, oder ihre Gehirnkammern waren schon bis an die Häute mit Spitzen, Hauben, Hemden und Kochtöpfen und Bratpfannen vollgestellet, vollgekeilet und gesättigt – kurz, er war nicht imstande, ihr einen Stern in den Kopf zu bringen, der größer war als ein Zwirn-Stern. Bei der Pneumatologie (Geisterlehre) hingegen hatt' er gerade die entgegengesetzte Not; in dieser Wissenschaft, wo ihm die Rechnung des unendlich Kleinen so gut zupasse gekommen wäre als in der Sternkunde die des unendlich Großen, dehnte und renkte Lenette Engel und Seelen und alles aus und warf die feinsten Geister in den Streckteich ihrer Phantasie – Engel, von denen die Scholastiker ganze Gesellschaften zu einem Haushall auf eine neue Nadelspitze invitieren, ja die sie paarweise gerade in einen Ort89 einfädeln können, diese wuchsen ihr unter den Händen so, daß sie jeden in eine besondere Wiege legen mußte, und der Teufel schwoll und lief ihr auf, bis er so groß war wie ihr Mann.

Er kundschaftete auch in ihrem Herzen einen fatalen Eisenflecken oder eine Pockenschramme und Warze aus: er konnte sie nie in einen lyrischen Enthusiasmus der Liebe versetzen, worin sie Himmel und Erde und alles vergessen hätte – sie konnte die Stadtuhr zählen unter seinen Küssen und nach dem überkochenden Fleischtopf hinhorchen und hinlaufen mit allen großen Tränen in den Augen, die er durch eine schöne Geschichte oder Predigt aus dem zerfließenden Herzen gedrückt – sie sang betend die in den andern Stuben schmetternden Sonntaglieder nach, und mitten in die Verse flocht sie die prosaische Frage ein: »Was wärm' ich abends auf?« – und er konnte es nicht aus dem Kopfe bringen, daß sie einmal, im gerührtesten Zuhören auf seine Kabinettpredigt über Tod und Ewigkeit, ihn denkend, aber unten anblickte und endlich sagte: »Zieh morgen den linken Strumpf nicht an, ich muß ihn erst stopfen.«[286]

Der Verfasser dieser Historie beteuert, daß er oft halb von Sinnen kam über solche weibliche Zwischenakte, vor denen keiner Brief und Siegel hat, der mit diesen geschmückten Paradiesvögeln in den Äther steigt und sich neben ihnen auf und nieder wiegt, und der droben in der Luft die Eier seiner Phantasien auf dem Rücken dieser Vögel90 auszusitzen gedenkt. – Wie durch Zauberei grünet oft plötzlich das geflügelte Weibchen tief unten in einer Erdscholle. – Ich gebe zu, daß dies nichts weiter ist als ein Vorzug mehr, weil sie dadurch den Hühnern gleichen, deren Augen so gut vom Universitätoptikus geschliffen sind, daß sie den fernsten Hühnergeier im Himmel und das nächste Malzkorn auf dem Miste bemerken. Es ist zwar zu wünschen, daß der Verfasser dieser Geschichte, falls er sich in die Ehe begibt, eine Frau bekomme, vor der er über die nötigsten Grundsätze und dictata der Geisterlehre und Sternkunde lesen kann, und die ihm in seinem höchsten Feuer nicht seine Strümpfe vorwirft; er wird aber auch zufrieden sein, wenn ihm nur eine zufället, die kleinere Vorzüge hat, sonst aber doch imstande ist, mitzufliegen, so weit es geht – in deren aufgeschlossenes Auge und Herz die blühende Erde und der glänzende Himmel nicht infinitesimalteilchenweise, sondern in erhabnen Massen dringen – für die das All etwas Höheres ist als eine Kinderstube und ein Tanzsaal – und die mit einem Gefühle, das weich und fein zugleich, und mit einem Herzen, das fromm und groß auf einmal ist, sogar den immer mehr bessert und heiligt, der sie geheiratet. – – Das ists und nicht mehr, worauf der Verfasser dieser Geschichte seine Wünsche beschränkt. So wie der Liebe Firmians die Blüte, wenn auch nicht das Laub, abfiel: so stand Lenettens ihre als eine ausgebreitete überständige Rose da, deren Schmuck ein Stoß auseinanderstreuet. Die ewigen Disputiersätze des Mannes ermüdeten endlich ihr Herz. Sie gehörte ferner unter die Weiber, deren schönste Blüten taub und unfruchtbar bleiben, wenn keine Kinder genießend um sie schwärmen, wie die Blüte des Weins keine Trauben ansetzt, wenn nicht Bienen sie durchstreifen. Sie glich diesen Weibern[287] auch darin, daß sie zur Spiralfeder einer Wirtschaft-Maschine, zur Schauspiel-Directrice eines großen Haushaltdrama geboren war. Wie aber die Haupt- und Staatsaktionen und die Theaterkasse seiner Wirtschaft aussahen, das wissen wir leider alle von Hamburg bis Ofen. Kinder hatten beide, gleich Phönixen und Riesen, auch nicht, und beide Säulen standen abgesondert da, durch keine Fruchtschnüre aneinander gewunden. Firmian hatte schon in seiner Phantasie die scherzhaften Proberollen eines ernsthaften Kindvaters und Gevatterbitters durchgemacht – aber er kam nicht zum Auftreten.

Den meisten Abbruch tat ihm in Lenettens Herzen jede Unähnlichkeit mit dem Pelzstiefel. Der Rat hatte etwas so Langweiliges, so Bedächtliches, Ernsthaftes, Zurückhaltendes, Aufgesteiftes, so Bauschendes, so Schwerfälliges wie diese – drei Zeilen; das gefiel unserer gebornen Haushälterin. Siebenkäs hingegen war den ganzen Tag ein Springhase – sie sagte ihm oft: »Die Leute müssen denken, du bist nicht recht gescheut«, und er versetzte: »Bin ichs denn?« – Er verhing sein schönes Herz mit der grotesken komischen Larve und verbarg seine Höhe auf dem niedergetretenen Sokkus – und machte das kurze Spiel seines Lebens zu einem Mokierspiel und komischen Heldengedicht. Grotesken Handlungen lief er aus höhern Gründen als aus eiteln nach. Es kitzelte ihn erstlich das Gefühl einer von allen Verhältnissen entfesselten freien Seele – und zweitens das satirische, daß er die menschliche Torheit mehr travestiere als nachahme; er hatte unter dem Handeln das doppelte Bewußtsein des komischen Schauspielers und des Zuschauers. Ein handelnder Humorist ist bloß ein satirischer Improvisatore. Dies begreift jeder Leser – und keine Leserin. Ich wollte oft einer Frau, die den weißen Sonnenstrahl der Weisheit hinter dem Prisma des Humors zersplittert, gefleckt und gefärbt erblickte, ein bunt geschliffenes Glas in die Hände geben, das diese scheckige bunte Reihe wieder weiß brennt – es war aber nichts. Das feine weibliche Gefühl des Schicklichen ritzet und schindet sich gleichsam an allem Eckigen und Ungeglätteten; diese an bürgerliche Verhältnisse angestängelte Seelen fassen keine, die sich den Verhältnissen entgegenstellen.[288] Daher gibts in den Erblanden der Weiber – an den Höfen und in ihrem Reiche der Schatten, in Frankreich, selten Humoristen, weder von Leder, noch von der Feder.

Lenette mußte sich über ihren pfeifenden, singenden, tanzenden Gemahl ereifern, der nicht einmal vor Klienten eine Amtmiene zog, der leider – man erzählt' es ihr für gewiß – oft auf dem Rabenstein im Kreise herumging, von dessen Verstand recht gescheute Leute bedenklich sprachen, dem man, klagte sie, nichts anmerkte, daß er in einer Reichsstadt sei, und der sich nur vor einer einzigen Person in der Welt schämte und scheuete – vor sich. Kamen nicht oft Kammerjungfern mit Hemden, die zu nähen waren, aus den vornehmsten Häusern in seines und sahen ihn mir nichts dir nichts an seinem ein- und ausgespielten Klaviere stehen, das noch alle Tasten und fast ebenso viele Saiten als Tasten hatte? Und hatt' er nicht eine Elle im Maule, auf deren herabgelassener Fallbrücke die Töne vom Sangboden zu ihm hinauf, zwischen das Fallgatter der Zähne hindurch und endlich durch die Eustachische Röhre über das Trommelfell hinweg bis zur Seele einstiegen? Die Elle zwischen seinen Zähnen hatt' er darum als einen Storchschnabel an seinem, um mit dem Schnabel das unaufhörliche Pianissimo seines Klaviers oben in einem Fortissimo hinaufzubringen. – Indes ist wahr, daß der Humor im Widerschein der Erzählung weichere Farben annimmt als in der grellen Wirklichkeit.

Der Boden, worauf die zwei guten Menschen standen, ging unter so vielen Erschütterungen in zwei immer entferntere Inseln auseinander; die Zeit führte wieder einen Erdstoß herbei.

Der Heimlicher erschien nämlich mit seiner Exzeptionhandlung, worin er weiter nichts verlangte als Recht und Billigkeit, nämlich die Erbschaft; es müßte und könnte denn Siebenkäs erweisen, daß er – er sei, nämlich der Mündel, dessen Väterliches der Heimlicher bisher in seinen väterlichen Händen und Beuteln gehalten. Dieser juristische Höllenfluß versetzte unserem Firmian – der über die vorigen drei Fristgesuche so leicht weggesprungen war wie der gekrönte Löwe im gotischen Wappen über drei Flüsse – den Atem und trat ihm eiskalt bis ans Herz. Die Wunden,[289] die die Maschinen des Schicksals in uns schneiden, fallen bald zu; aber eine, die uns das rostige stumpfe Marterinstrument eines ungerechten Menschen reißet, fängt zu eitern an und schließet sich spät. Dieser Schnitt in entblößte, von so vielen rauhen Griffen und scharfen Zungen abgeschälte Nerven brannte unsern Liebling sehr; und doch hatt' er den Schnitt gewiß vorher gesehen und seiner Seele »gare – Kopf weg!« zugerufen. Aber ach! in jedem Schmerz ist etwas Neues. Er hatte sogar schon juristische Vorkehrungen voraus getroffen. Er hatte sich nämlich schon vor einigen Wochen aus Leipzig, wo er studiert hatte, den Beweis kommen lassen, daß er sonst Leibgeber geheißen und mithin Blaisens Mündel sei. Ein dasiger, noch nicht immatrikulierter Notarius, Namens Giegold, sein alter Stubenbursch und literarischer Waffenbruder, hatte ihm den Gefallen erwiesen, alle die Personen, die um seine Leibgeberschaft wußten – besonders einen rostigen, madigen Magister legens, der oft bei der Einfahrt der vormundschaftlichen Registerschiffe war, ferner den Briefträger oder Lotsen, der sie in den Hafen wies, und den Hauswirt und einige andere recht gut unterrichtete Leute, die alle das Juramentum credulitatis (den Eid der Selberüberzeugung) schwören wollten – diese hatte der junge Giegold sämtlich verhört und dann dem Armenadvokat das Ganggebirge ihres Zeugenrotuls zugefertigt. Das Postporto dafür zu entrichten, war Siebenkäsen leicht, als er König wurde in der Vogelbeize.

Mit dem dicken Zeugenstock beantwortete und bestritt er seinen Vormund und Dieb.

Als die Blaisische Weigerung ankam: glaubte die furchtsame Lenette sich und den Prozeß verloren; die dürre Dürftigkeit umfaßte nun, in ihren Augen, sie beide mit einem Gestrick von Schmarotzerefeu, und sie hatte keine Aussicht, als zu verdorren und umzufallen. Ihr erstes war, über Meyern zu zanken; denn da er ihr selber neulich berichtet hatte, er habe seinem künftigen Schwiegervater die drei Fristgesuche abgenötigt, um sie zu schonen: so konnte sie die Blaisische Exzeptionhandlung für den ersten Dornenableger von Rosas rachsüchtiger Seele halten, weil er in Siebenkäsens Wohnung erstlich Festungstrafe und Säcken,[290] welches er alles halb Lenetten beimaß, erduldet, und zweitens so viel verloren hatte. Er hatte bisher nur den Unwillen des Mannes, nicht der Frau vorausgesetzt; aber das Vogelschießen hatte seine süße Eitelkeit widerlegt und erbittert. Da indessen der Venner ihrem Zorne nicht zuhören konnte: so mußte sie ihn gegen ihren Gatten kehren, dem sie alles schuldgab, weil er seinen Namen Leibgeber so sündlich verschenkt hatte. Wer geheiratet hat, der wird mir gern den Beweis – denn er schläft bei ihm – erlassen, daß es gar nichts half, womit sich der Gatte verantwortete und was er vorbrachte von Blaisens Bosheit, der als der größte Ischariot und Kornjude im irdischen Jerusalem der Erde ihn gleichwohl, auch wenn er noch Leibgeber hieße, ausgeraubt und tausend Holzwege des Rechtens zur Plünderung des Mündels würde ausgefunden haben. Es griff nicht ein. Endlich entfuhr es ihm: »Du bist so ungerecht, als ich sein würde, wenn ich deinem Betragen gegen den Venner im geringsten die Folge daraus, die Blaisische Schrift, aufbürden wollte.« Nichts erbittert Weiber mehr als eine heruntersetzende Vergleichung: denn sie nehmen keine Unterscheidung an. Lenettens Ohren verlängerten sich, wie bei der Fama, zu lauter Zungen; der Mann wurde zugleich überschrieen und überhört.

Er mußte heimlich zum Pelzstiefel abschicken und ihn befragen lassen, wo er so lange sitze, und warum er ihr Haus so vergesse. Aber Stiefel war nicht einmal in seinem eignen, sondern auf Spaziergängen an einem so prächtigen Tage.

»Lenette«, sagte Siebenkäs plötzlich, der häufig lieber mit dem Springstabe eines Einfalls über ein Sumpfmeer setzte, als aus ihm mühsam watende lange Stelzen von Schlüssen zog, und der wohl auch die über Rosa herausgefahrene unschuldige, aber von Lenetten mißverstandene Äußerung ganz aufheben wollte, »Lenette, höre du aber, was wir diesen Nachmittag machen! Einen starken Kaffee und Spaziergang; heute ist zwar kein Sonntag in der Stadt, aber doch in jedem Falle Mariä Empfängnis, die jeder Katholik in Kuhschnappel feiert; und das Wetter ist doch beim Himmel gar zu hold. Wir sitzen dann oben in der ungeheizten Honoratiorenstube im Schießhaus, weils draußen zu warm[291] ist, und schauen hinunter und sehen die sämtlichen Irrgläubigen der Stadt im größten Putze auf- und abspazieren, und vielleicht unsern Lutheraner Stiefel auch dazu.«

Besonders müßt' ich mich täuschen, oder Lenette war sehr selig überrascht; denn Kaffee – das Taufwasser und der Altarwein der Weiber schon am Morgen – wird vollends nachmittags Liebetrank und Haderwasser zugleich, obwohl letztes nur gegen Abwesende; aber welches schöne treibende Wasser auf alle Mühlräder der Ideen mußte ein wirklicher Nachmittagkaffee an einem bloßen Werkeltage für eine Frau wie die arme Lenette sein, welche ihn selten anders getrunken als nach einer Nachmittagpredigt, weil er schon vor der Kontinentalsperre zu teuer war.

Weiber in wahrhafter Freude brauchen wenig Zeit, ihren schwarzen Seidenhut aufzusetzen und ihren breiten Kirchenfächer zu nehmen und gegen alle ihre Gewohnheit sogleich reisefertig für den Schießhausgang angezogen dazustehen, indes sie sogar unter dem Ankleiden noch den Kaffee gekocht, um ihn fertig samt der Milch in die Honoratiorenstube mitzunehmen.

Beide Eheleute rückten um zwei Uhr ausgeheitert aus und hatten alles Warme in der Tasche, was später aufzuwärmen war.

Wie mit einem Abendglanze waren schon so früh am Tage alle westlichen und südlichen Berge von der gesenkten Dezembersonne übergossen und die im Himmel umhergelagerten Wolkengletscher warfen auf die ganze Gegend freudige Lichter und überall war ein schönes Glänzen der Welt, und manches dunkle enge Leben wurde gelichtet.

Schon von weitem zeigte Siebenkäs Lenetten die Vogelstange als den Alpenstock oder die Ruderstange, womit er neulich über die nächste Not hinweggekommen. Im Schützengebäude führte er sie in den Schießstand – sein Konklave oder Frankfurter Römer der Krönung –, wo er sich zu einem Vogelkaiser hin auf geschossen und aus der Frankfurter Judengasse der Gläubiger heraus, indem er bei seiner Thronbesteigung wenigstens einen Schuldner losgelassen, sich selber. Oben in der weiten Honoratiorenstube[292] konnten beide sich recht ausbreiten, er sich an einen Tisch zum Schreiben vor das rechte Fenster setzen, und sie sich an ein anderes zum Nähen ans linke.

Wie der Kaffee das Dezemberfest in beiden erwärmte, läßt sich nicht beschreiben, aber nachfühlen.

Lenette zog einen Strumpf des Advokaten nach dem andern an, nämlich an den linken Arm, weil der rechte die Stopfnadel führte, und saß mit dem unten oft offnen Strumpfe wenigstens einarmig einer jetzigen Dame ähnlich da, welche der lange dänische Handschuh mit Fingerklappen aufschmückt. Doch zog sie den Armstrumpf nicht so hoch empor, daß ihn Spaziergängerinnen auf der höher liegenden Kunststraße sehn konnten. Aber unaufhörlich nickte sie ihre »untertänigsten Mägde und gehorsamsten Dienerinnen« zum offnen Fenster hinaus. Mehre der vornehmsten Ketzerinnen sah sie unten ihre eignen künstlichen Haubenbauten durch die Spaziergänge tragen, um Mariä Empfängnis feierlich zu begehen; und mehr als eine grüßte selber zuerst verbindlich zu ihrer Dachdeckerin herauf.

Nach der reichsmäßigen Parität des Reichsmarktfleckens gingen an dem katholischen Feste auch Protestanten von Stand spazieren, und ich steige hier von dem Landschreiber Börstel über den Frühprediger Reuel bis zum Obersanitätrat Oelhafen hinauf.

Und doch war der Armenadvokat vielleicht so selig als selber seine Frau. Zugleich beschrieb er seine Teufels Papiere und besah nicht die Hohen, sondern die Höhen des Orts.

Schon bei dem Eintritte in das Honoratiorenzimmer empfing ihn eine dagebliebene vergeßne lackierte, noch nicht abgeleckte Kindertrompete erfreuend, nicht so sehr durch ihren Quäk-Klang als durch ihren Farbengeruch, der ihn in diesem Christmonattage ordentlich in die dunklen Entzückungen des Christfestes zurück hauchte. Und so kam denn eine Freude zur andern. Er konnte von seinen Satiren aufstehen und Lenetten mit dem Schreibfinger die großen Krähennester in den nackten Bäumen und die unbelaubten Bänkchen und Tischchen in den Gartenlauben und die unsichtbaren Gäste zeigen, die allda an Sommerabenden ihre Sitze der Seligen gehabt, und die sich der Sache[293] noch heute erinnern und schon dem Wiederhinsetzen entgegensehen. Auch war es ihm ein Leichtes, Lenetten auf die Felder hinzuweisen, wo überall heute in so später Jahrzeit Salat von freiwilligen Gärtnerinnen für ihn geholt werde, nämlich Ackersalat oder Rapunzeln, die er abends essen konnte.

Nun saß er vollends an seinem Fenster noch den rötlichen Abendbergen gegenüber, auf welche die Sonne immer größer zusank und hinter denen die Länder lagen, wo sein Leibgeber wandelte und das Leben abspielte. »Wie schön ist es, Frau«, sagte er, »daß mich von Leibgeber keine breite platte Ebene mit bloßen Hügel-Verkröpfungen scheidet, sondern eine tüchtige hohe Bergmauer, hinter der er mir wie hinter einem Sprachgitter steht.« Ihr kam es freilich halb so vor, als freue ihr Mann sich der Scheidewand, da sie selber an Leibgeber wenig Behagen und an ihm nur den Kipper und Wipper ihres Mannes gefunden, der diesen noch eckiger zuschnitt, als er schon war; indes in solchen Dunkelfällen schwieg sie gern, um nicht zu fragen. Aber er hatte freilich umgekehrt gemeint, von geliebten Herzen sehe man sich am liebsten durch die heiligen Berge geschieden, weil wir nur hinter ihnen wie hinter höhern Gartenmauern das Blütendickicht unseres Edens suchen und schauen, hingegen am Rande der längsten Tenne von Plattland nichts Höheres erwarten als eine umgekrümmte längere. Dies gilt sogar für Völker; die Lüneburger Heide oder die preußischen Marken werden sogar dem Italiener nicht den Blick nach Welschland richten; aber der Märker wird in Italien die Apenninen anschauen und sich nach den deutschen Geliebten hinter ihnen sehnen.

Von der sonnigen Gebirgscheide zweier getrennten Geister floß freilich mitten unter dem satirischen Arbeiten dem Armenadvokaten manches in die Augen, was aussah wie eine Träne; aber er rückte bloß ein wenig seitwärts, damit ihn Lenette nicht darüber befragte; denn er wußte und mied sein altes Auffahren über eine Frage, was ihm fehle, daß er weine. War er heute denn nicht die leibhafte Zärte lebendig und drückte vor der Frau das Komische nur durch die ernsthaftesten Mitteltinten aus, weil er sich selber über den frischen Wachstum ihrer von ihm gesäeten[294] Freude ergötzte? – Sie erriet zwar dieses weiche Schonen nicht; aber so wie er zufrieden war, wenn niemand als er wußte – sie aber nicht –, daß er die feinsten Ausfälle auf sie gemacht, so war ers auch bei den feinsten Verbindlichkeiten.

Endlich verließen sie warm ausgefüllt die weite Stube, als die Sonne sie ganz mit Purpurfarben überkleidet hatte; im Heraustreten aus dem Schießhause zeigte er Lenetten noch den flüssigen Goldblick auf den langen Glasdächern zweier Gewächshäuser, und der schon vom Gebirge entzwei geteilten Sonne hing er sich selber an, um mit ihr zu dem Freunde in der Ferne niederzugehen. Ach wie liebt sichs in die Ferne, sei es die des Raums oder der Zukunft oder Vergangenheit, und sei es vollends in die Doppel-Ferne über der Erde! – Und so hätte an sich der Abend sehr trefflich schließen können; aber etwas kam dazwischen.


Es hatte nämlich ein oder der andere böse Geist von Verstand den Heimlicher Blaise genommen und ihn so unter den freien Himmel als Spaziergänger hinausgestellt, daß ihm der Advokat in der Schuß- und Grußweite gerade an einem Feste der Empfängnis nur schöner Seelen aufstoßen mußte. Als der Vormund ihn vollständig gegrüßt – obwohl mit einem Lächeln, das zum Glück nie auf einem Kinderangesichte erscheinen kann –, so antwortete Siebenkäs höflich, obwohl mit bloßem Zerren und Rücken des Hutes, ohne ihn jedoch abzuheben. Lenette suchte sogleich das Erniedrigen des Hutes einzubringen durch ihr eigenes verdoppeltes, hielt aber, sobald als sie sich umgesehen, dem Gatten eine kleine Gardinen- d.h. Gartenbretterwandpredigt, daß er den Vormund vorsätzlich immer heimtückischer mache. »Wahrlich, ich konnte nicht anders, Liebe«, sagte er, »ich meint' es nicht böse, am wenigsten heute.«

Der Umstand ist freilich der, daß Siebenkäs schon vor einiger Zeit seiner Frau geklagt, sein Hut leide als ein feiner Filz schon lange durch das unablässige Abziehen in dem kleinstädtischen Marktfleckchen, und daß er keinen anderen Hut-Schirm und Panzer sehe als einen grünen steifen wachstaftnen Hutüberzug, in welchen er ihn zu stecken denke, um ihn, in diesem Stechhelm und[295] Fallhut eingepackt, ohne das geringste Abgreifen täglich zu derjenigen Höflichkeit zu verwenden, welche die Menschen einander im Freien schuldig sind. Der erste Gang darnach, den er mit seinem aufgesetzten Doppelhute oder Huthut tat, war zu einem Gewürzkrämer, bei welchem er den feinen Unterziehhut herausweidete und für sechs Pfund Kaffee versetzte, welcher seine vier Gehirnkammern besser durchheizte als der Hasenfilz. Mit dem Koadjutorhute auf dem Kopfe allein kehrte er ruhig und unentziffert nach Hause; – und trug nun das leere Futteral durch die krümmsten Gassen, mit heimlicher Freude, gewissermaßen vor niemand den wahren Hut abzuziehen – oder chapeau bas zu gehen – oder sich künftig noch mehre Einfälle über den Genuß seines Hutzuckers auszusinnen.

Freilich wann er grade vergessen hatte – wie es wohl heute am meisten zu entschuldigen war –, das Hutfutter mit dem nötigen künstlichen Sparrwerke auszusteifen: dann brachte er das Futter zum Grüßen zu schwer und quer herunter und konnt' es bloß äußerst höflich berühren, wie einer der vornehmsten Offiziere, mußte aber so wider Willen den Charakter eines Grobians behaupten.

– Und grade heute mußt' er denselben behaupten und konnte auf keine Weise sein Kuvert des Kopfes abnehmen, dieses Liebebriefes an alles, was spazieren ging.

Aber dabei sollte der Spaziergang nicht verbleiben, sondern einer der obgedachten bösen Geister von Verstand verschob die Bühnenwände so hastig von neuem, daß wir wirklich etwas Geändertes erblicken müssen. Vor beiden Gatten spazierte nämlich ein Schneidermeister katholischer Konfession voraus, nett angezogen, um wie jeder seiner Kon- und Profession die Empfängnis zu feiern. Zum Unglück hatte der Schneider im engen Steige die Rockschöße – es sei aus Scheu des Kotes oder aus Lust der Feier – dermaßen in die Höhe gehoben, daß das Anfang- oder Steißbein oder eingeflickte Rückenmark seiner Weste von unten auf deutlich zu sehen war, nämlich der Hintergrund der Weste, den man bekanntlich, wie den der Gemälde, mit weniger Leinwandfarben ausführt als den nähern glanzvollen Vordergrund[296] des Vorderleibs. »Ei Meister«, rief heftig Lenette, »wie kommt Er denn hinten zu meinem Zitz?«

In der Tat hatte der Schneider von einem augsburgischen grünen Zitze, aus welchem sie sich bei ihm sogleich nach ihrem Königin werden ein artiges Leibchen oder Mieder machen lassen, so viel als Probe für sich beiseite gelegt und behalten, als er nach Maßgabe unentgeltlicher Weinproben als nötig und christlich erachten konnte. Dieses wenige von Probe hatte notdürftig zu einem sehr matten Hintergrunde seiner glanzgrünen Weste zugelangt, für welche er eine so dunkle Kehrseite nur in der Hoffnung gewählt und genommen, daß sie als das Untere der Karte nicht gesehen werde. – Da aber jetzt der Meister ruhig, als ging' es ihn gar nicht an, mit Lenettens nachgerufenem Rückendekret weiter spazierte: wurde in ihr das Flämmchen zur Flamme, und sie schrie nach – Siebenkäs mochte winken und lispeln, wie er wollte –: »Es ist mein eigner Zitz aus Augsburg, hört Er, Meister Mauser? und Er hat mir ihn gestohlen, Er!« – Hier erst wandte der zünftige Zitzräuber sich kaltblütig um und sagte: »Das beweise Sie mir doch – aber bei der Lade will ich Sie schon zitzen, wenn noch hohe Obrigkeit in Kuhschnappel regiert.«

Da entbrannte sie zur Lohe – Bitten und Befehle des Advokaten waren ihr nur Luft. – »Er Rips-Raps, meine Sache will ich haben, du Spitzbube!« rief sie. Auf diese Nachrede hob der Meister bloß die Rockschöße mit beiden Händen ungemein hoch über die indossierte Weste empor und versetzte, ein wenig sich bückend: »Da!« und schritt langsam, immer in der nämlichen Brennweite, vor ihr her, um ihre Wärme länger zu genießen.

Am meisten war nur der arme Siebenkäs an einem so reichen Feste, wo er mit allen juristischen und theologischen Exorzismen den Zankteufel nicht ausjagen konnte, zu bejammern, als zum Glücke sein Schutzengel plötzlich aus einem Seitenhohlwege auf stieg, der Pelzstiefel auf seinem Spaziergange. Weg war für Lenette der Schneider – der Zitz von einer Viertelelle lang – der Zankapfel und der Zankteufel – und wie das Abendblau und Abendrot stand ihr Augenblau und Wangenrot ruhig und kühl vor ihm. Zehn Ellen Zitz und halb so viel Schneider dazu, die sie[297] behalten und eingeflickt, waren ihr in dieser Minute leichte Federn und keines Wortes und Kreuzers wert. So daß Siebenkäs auf der Stelle sah, daß Stiefel sich als der wahre tragbare Ölberg zu ihr bewegte, besteckt mit lauter Ölzweigen des Friedens – wiewohl für Zankteufel von anderer Seite her aus deren Oliven leicht ein Öl zu keltern war, das in kein eheliches Kriegfeuer, zu welchem eben Stiefel mit dem Löscheimer bestellt worden, gegossen werden durfte. War nun Lenette schon im Freien ein weicher weißer Schmetterling und Buttervogel, der still über den blühenden Steigen des Pelzstiefels schwebte und flatterte: so wurde sie gar in der eignen Stube, in welche der Rat sie begleitete, eine griechische Psyche, und ich muß es, so parteiisch ich auch für Lenette bin, allerdings in dieses Protokoll aufnehmen – sonst wird mir alles andere nicht geglaubt –, daß sie leider an jenem Abende nichts zu sein schien als eine geflügelte, mit den durchsichtigen Schwingen vom klebrigen Körper losgemachte Seele, die mit dem Schulrate – als sie den Körper noch umhatte – vorher in Liebebriefwechsel gestanden, die aber jetzo mit waagrechten Flügeln um ihn schwebe, die ihn mit dem flatternden Gefieder anwehe, die endlich, des Schwebens müde, einer beleibten Sitzstange von Körper zusinke, und die – es ist weiter kein anderer weiblicher bei der Hand – in Lenettens ihren mit angeschmiegten Schwingen niederfalle. So schien Lenette zu sein. Warum war sie aber heute so? – Groß war hierüber Stiefels Unwissenheit und Freude, klein beides in Firmian. Eh' ichs sage, will ich dich bedauern, armer Mann, und dich, arme Frau! Denn warum sollen denn immer den glatten Strom eueres (und unsers) Lebens entweder Schmerzen oder Sünden brechen, und warum soll er erst wie der Dnjepr-Strom nach dreizehn Wasserfällen im schwarzen Meer der Gruft einsinken? – Weswegen aber gerade heute Lenette ihr volles Herz für den Rat beinahe ohne das Klostergitter der Brust vorzeigte, das war, weil sie heute ihr – Elend fühlte, ihre Armut: Stiefel war voll gediegner Schätze, Firmian nur voll vererzter (d.h. Talente). Ich weiß es gewiß, sie hätte ihren Siebenkäs, den sie vor der Ehe so kalt liebte wie eine Gattin, in ihr so lieb gewonnen wie eine Braut, hätt' er etwas – zu brocken und zu[298] beißen gehabt. Hundertmal bildet eine Braut sich ein, sie habe ihren Verlobten lieb, da doch erst in der Ehe aus diesem Scherze – aus guten metallischen und physiologischen Gründen – Ernst wird. Lenette wäre dem Advokaten in einer vollen Stube und Küche – voll Einkünfte und zwölf Herkulischer Hausarbeiten treu genug geblieben, und hätte sich ein ganzes gelehrtes Kränzchen von Pelzstiefeln – denn sie hätte stündlich kalt gedacht und gesagt: »ich habe schon« – um sie herumgesetzt; aber so, in einer solchen leeren Stube und Küche, wurden die Herzkammern einer Frau voll, mit einem Worte, es kommt nichts Gutes dabei heraus. Denn eine weibliche Seele ist natürlicherweise ein schönes, auf Zimmer, Tischplatten, Kleider, Präsentierteller und auf die ganze Wirtschaft aufgetragnes Freskogemälde, und mithin werden alle Risse und Sprünge der Wirtschaft zu ihren. Eine Frau hat viel Tugend, aber nicht viele Tugenden, sie bedarf einen engen Umkreis und eine bürgerliche Form, ohne deren Blumenstab diese reinen weißen Blumen in den Schmutz des Beetes kriechen. Ein Mann kann ein Weltbürger sein und, wenn er nichts mehr in seine Arme zu nehmen hat, seine Brust an den ganzen Erdball drücken, ob er gleich nicht viel mehr davon umarmen kann, als ein Grabhügel beträgt; aber eine Weltbürgerin ist eine Riesin, die durch die Erde zieht, ohne etwas zu haben als Zuschauer, und ohne etwas zu sein als eine Rolle.

Ich hätte den ganzen Abend viel weitläufiger vormalen sollen, als ich tat; denn an diesem fingen die Räder des vis-à vis-Wagen der Ehe nach so vielen Reibungen an zu rauchen, und das Feuer der Eifersucht drohte sie zu ergreifen. Mit der Eifersucht ists wie mit den Kinderpocken der Maria Theresia, welche die Fürstin unversehrt durch zwanzig Siechkobel voll Blatternpatienten durchließen, bis sie ihr unter der ungarischen und deutschen Krone anflogen. Siebenkäs hatte die kuhschnappelische (vom Vogel) schon einige Wochen auf dem Kopf.

Seit diesem Abend kam Stiefel, der sich immer lieber in die immer höher steigende Sonne Lenettens setzte, immer öfter und sah sich für den Friedenrichter an, nicht für den Friedenstörer.

Es liegt mir nun ob, den letzten und wichtigsten Tag dieses[299] Jahrs, den 31. Dezember, mit seinem ganzen Hinter- und Vorgrund und allem Beiwerk den Deutschen auf mein Papier recht ausführlich hinzumalen.

Schon vor dem 31. Dezember waren die hl. Weihnachttage da, die vergoldet werden mußten und die sein silbernes Zeitalter nach dem Königschusse vererzten und verholzten. Das Geld ging auf. Aber noch mehr: der arme Firmian hatte sich sowohl krank gekümmert als krank gelacht. Ein Mensch, der immer mit den Oberflügeln der Phantasie und mit den Unterflügeln der Laune über alle Prellgarne und Fanggruben des Lebens weggezogen ist, dieser schlägt, wenn er einmal an die reifen Spitzen der abgeblühten Disteln angespießet wird, über deren Himmelblau und Honiggefäße er sonst geschwebet, blutig und hungrig und epileptisch um sich; ein Froher verfalbet unter dem ersten Sonnenstiche des Grams. Zum wachsenden Herzpolypen der Angst setze man noch seinen schriftstellerischen Taumel, weil er die Auswahl aus den Papieren des Teufels recht bald zu Ende haben wollte, um sein Leben und seinen Prozeß vom Honorar zu führen. Er saß fast ganze Nächte und Sessel durch und ritt auf seiner satirischen Schnitzbank. Dadurch schrieb er sich ein Übel an den Hals, das der gegenwärtige Verfasser wahrscheinlich auf keine andre Art geholt als eben durch unmäßige Freigebigkeit gegen die gelehrte Welt. Es befiel nämlich ihn, wie mich noch, eine schnelle Pause des Atemzugs und Herzschlags, darauf ein ödes Entfliegen alles Lebengeistes und dann ein stoßender Aufschuß des Blutes in das Gehirn; und zwar am meisten vor seinem literarischen Spinn- und Spulrad91.

– Gleichwohl bietet uns beiden Autoren dafür kein Mensch einen Heller Schmerzengeld an. Es scheint, daß Schriftsteller[300] nicht lebendig, sondern abgeformt zu ihrer Nachwelt kommen sollen, wie man die zarten Forellen nur gesotten verschickt; man steckt uns nicht eher den Lorbeerreis, wie den wilden Sauen die Zitrone, in den Mund, als bis man uns gepürscht aufträgt. – Es würde mir und jedem Kollegen wohltun, wenn ein Leser, wenn wir dessen Herz und Herzohren bewegen, nur so viel sagte: »Diese süße Bewegung des meinigen ging nicht ohne hypochondrisches Herzklopfen der ihrigen ab.« Mancher Kopf wird von uns ausgelichtet und erleuchtet, der niemals bedenkt: »Das leisten beide wohl, aber Schmerzen der ihrigen, Cephalalgie, Cephaläa, halbseitige und der Nagel sind der Lohn dafür.« Ja er sollte mich in solchen Satiren wie dieser unterbrechen und rühmen: »So viele Schmerzen mir seine Satire jetzo macht, so gibt sie ihm doch noch größere; denn meine sind glücklicherweise nur geistig.« – Gesundheit des Körpers läuft nur gleichgerichtet mit Gesundheit der Seele; aber sie beugt ab von Gelehrsamkeit, von großer Phantasie' großem Tiefsinn, welches alles so wenig zur geistigen Gesundheit gehöret als Beleibtheit, Läuferfüße, Fechterarme zur leiblichen. Ich wünschte oft, alle Seelen würden so auf ihre Leiber oder Flaschen verfüllet wie der Pyrmonter auf seine. Man lässet erst seinen besten Geist verrauchen, weil er sonst die Flaschen zertreibt; aber es scheint, daß nur bei den Seelen des Kardinalkollegiums (wenn dem Gorani zu glauben), vieler Domkapitularen u.a. diese Vorsicht gebraucht worden, daß man den außerordentlichen Geist derselben, der ihre Leiber zersprengt hätte, vorher verdampfen lassen, eh' man sie, auf Körper gezogen, nach der Erde verschickte: jetzo halten sich die Flaschen 70, 80 Jahre ganz gut. – –

Mit kranker Seele also, mit siechem Herzen, ohne Geld trat Siebenkäs den letzten Tag des Jahres an. Der Tag selber hatte sein schönstes Sommerkleid, nämlich ein berlinerblaues, angezogen und sah so himmelblau wie der Krischna oder wie Grahams neue Sekte oder wie die Juden in Persien aus – er hatte den Ballonofen der Sonne heizen lassen, und auf der feinkandierten Erde war der Schnee, wie auf gewissen künstlich bereiften Schaugerichten, sogleich ins Wintergrün verlaufen, sobald die Kugel[301] nur vor den Ofen getragen wurde. Das Jahr schien gleichsam mit Wärme und mit einer Heiterkeit voll freudiger Tropfen sich von der Zeit zu trennen. Firmian wäre gern hinausgelaufen und hätte sich auf dem feuchten Grün gesonnet; aber er mußte erst den Professor Lang in Baireuth beurteilen.

Er machte Rezensionen, wie andre Gebete, nur in der Not; es war das Wassertragen jenes Atheners, um nachher der Lieblingwissenschaft ohne Hunger obzuliegen. Aber seinen satirischen Bienenstachel steckt' er bei Rezensionen in die Scheide; bloß aus seinem weichen Wachs- und aus dem Honigmagen nahm er die milden Überzüge seiner Urteile. »Kleine Schriftsteller«, sagt' er, »sind immer besser, und große schlechter als ihre Werke. Warum soll ich moralische Fehler, z.B. Eitelkeit, dem Genie vergeben und dem Dunse nicht? Höchstens jenem nicht. – Unverschuldete Armut und Häßlichkeit verdienen keinen Spott; aber verschuldete ebensowenig, obgleich Cicero wider mich ist. Denn ein moralischer Fehler (und also seine Strafe) kann doch nicht durch dieselbe zufällige physische Folge, die bald kommt, bald außenbleibt, größer werden! Ist ein Verschwender, der zufällig arm wird, einer größern Strafe wert als der, ders nicht wird? Höchstens umgekehrt.« Wendet man dieses auf die schlechten Schriftsteller an, denen eine undurchdringliche Eigenliebe ihren Unwert verdeckt und an deren unschuldigen Herzen der Kritiker den Zorn über den schuldigen Kopf auslässet: so darf man zwar noch bitter über die – Gattung spotten, aber das Einzelwesen werde nur sanft belehrt. Ich glaube, es wäre die Gold- und Tiegelprobe eines moralisch in sich abgeründeten Gelehrten, wenn man ihm ein schlechtes, berühmtes Buch zu rezensieren auftrüge.

– Ich will mich vom Dr. Merkel ewig rezensieren lassen, wenn ich in diesem Kapitel noch einmal ausschweife. – Firmian arbeitete ein wenig eilig an der Rezension des Langischen Programms: Praemissa historiae Superintendentium generalium Baruthi non specialium, continuatione XX: er mußte heute noch einige Ortstaler haben, und er wollte auch ein wenig an dem brütenden, mütterlichen Tage spazieren gehen. Lenette hatte schon gestern am Donnerstage – das neue Jahr fiel auf den Sonnabend[302] – vorläufige Feste der Reinigung gefeiert (denn sie wusch jetzt täglich weiter voraus); heute aber hielt sie vollends die Ährenlese der Möbeln – sie gab der Stube Abführmittel gegen alle Unreinigkeiten ein – sie sah den index expurgandorum nach – sie trieb, was nur hölzerne Beine hatte, in die Schwemme und kam mit Fleckkugeln nach – kurz sie paddelte und brudelte bei dieser levitischen Reinigung der Stube so recht einmal in ihrem naßwarmen Element, und Siebenkäs saß aufrecht im Feg-Feuer und gab schon seinen Brandgeruch von sich.

Er war heute schon an sich toller als sonst: erstlich weil er sich vorgesetzt hatte, nachmittags den grillierten Kattunrock durchaus – und schrieen ganze Nonnenklöster darwider – in Versatz zu schaffen, und weil er mithin voraussah, daß er sich noch außerordentlich würde ereifern müssen; und diesen Vorsatz des Versatzes fassete er heute gerade, weil er – und dies ist zugleich die zweite Ursache, warum er toller war – sich ärgerte, daß die guten Tage wieder verlebt und daß ihre Sphärenmusik durch Lenettens Trauer-Miserere verdorben worden. »Frau«, sagt' er, »ich rezensiere eben fürs Geld.« – Sie schabte fort. »Den Professor Lang hab' ich vor mir, und zwar das 7te Kapitel, worin er vom 6ten Baireuther Generalsuperintendent Stockfleth handelt.« – Sie wollte in einigen Minuten nachlassen, aber nur in dieser nicht; Weiber tun alles gern später, daher kommen sie sogar später auf die Welt als Knaben92. »Das Programm«, fuhr er noch einmal mit künstlicher Kälte fort, »hätte der Götterbote schon vor einem halben Jahre beurteilen sollen: der Bote muß nicht wie die Allg. deutsche Bibliothek und der Papst erst nach 100 Jahren heilig sprechen.« – Wär' er nur imstande gewesen, sich noch eine Minute in der künstlichen Kälte zu erhalten: so hätte er Lenettens Aussummen erlebt. Aber er konnte nicht. »So soll doch«, fuhr er auf und sprang mit Hinwerfen der Feder in die Höhe, »lieber der Teufel dich und mich holen und den Götterboten! – Ich weiß nicht«, fuhr er gefasset und gelähmt fort und setzte sich entnervt, als wäre er mit lauter Schröpfköpfen umsetzt, nieder, »was ich übersetze, und schreib' ich hin Stockfleth oder Lang. Es ist[303] dumm, daß ein Advokat nicht so taub93 sein soll wie ein Richter; als Tauber wär' ich torturfrei – weißt du, wieviel nach den Rechten zu einem Tumulte Leute gehören? – Entweder zehn oder du allein in deiner musikalischen Wasch-Akademie.« Ihm war weniger darum zu tun, billig zu sein, als den spanischen Gastwirten zu gleichen, die den Gästen allezeit das Geschrei, das sie gemacht, mit in Rechnung setzen. Sie hatte ihren Willen gehabt, also war sie still in Worten und Werken.

Er vollendete vormittags das kritische Urteil und schickte es dem Vorsteher Stiefel; dieser schrieb zurück, abends händige er ihm selber die Sportuln dafür ein; denn er haschte jetzt jeden Anlaß zu einem Besuche auf. Unter dem Essen sagte Firmian, in dessen Kopf der schwüle stinkende Nebel einer übeln Laune nicht fallen wollte: »Ich fass' es nicht, wie du so wenig Reinigkeit und Ordnung liebst. Es wäre doch besser, du übertriebest es in der Reinlichkeit als im Gegenteil. Die Leute sagen: es ist nur schade, daß ein so ordentlicher Mann, wie der Armenadvokat ist, eine so unordentliche Frau hat.« Dieser Ironie setzte sie allemal, ob sie gleich wußte, sie sei eine, gute förmliche Wiederlegungen entgegen. Er brachte sie nie dahin, seinen Spaß, anstatt zu widerlegen, ordentlich zu schmecken oder gar die menschliche Gesellschaft an seiner Seite auszulachen. So lässet eine Frau ihre Meinung, sobald sie auch der Mann annimmt, fahren; sogar in der Kirche singen die Weiber, um mit den Männern in nichts eintönig zu sein, das Lied um eine Oktave höher als diese.

Nachmittags rückte die große Stunde heran, worin der Ostrazismus oder die Land- und Hausverweisung des grillierten Kattuns endlich vorfallen sollte als die letzte, aber größte Tat des Jahres 1785. Er hatte dieser Losung zum Zank, dieser feindlichen roten Timurs- und Muhammeds-Fahne, dieser Ziskas-Haut, die sie immer zusammenhetzte, jetzo recht von Herzen satt; er wollte lieber, der Kattun wär' ihm gestohlen, um nur von dem langweiligen, abgeschabten Gedanken an den Lumpen loszukommen. Er übereilte sich nicht, sondern unterstützte seine Petition mit aller Beredsamkeit, die ein Parlamentredner zu Hause[304] hat; er ließ raten, welches der größte Gefallen gegen ihn sei, womit sie das alte Jahr beschließen könne – er sagte, es wohne neben ihm unter einem Dache ein Erbfeind und Widerchrist, ein Lindwurm, ein vom bösen Feind in seinen Weizen geworfnes Unkraut, das sie ausreuten könne, wenn sie wolle. Er zog endlich mit helldunklem Jammer den grillierten Kattun aus der Schublade: »Das ist«, sagt' er, »der Stoßvogel, der mir nachsetzt, das Steckgarn, das mir der Teufel aufstellt, sein Schafkleid, mein Marterkittel, mein Casems-Pantoffel – Teuerste, tue mir nur das zu Gefallen und verpfänd es! – Antworte mir noch nicht«, sagt' er, sanft die Hand auf ihre Lippen deckend, » – überlege vorher, was doch eine dumme Gemeinde tat, deren einziger Hufschmied im Dorfe gehangen werden sollte. Sie schlug lieber einige unschuldige Schneidermeister für den Galgen vor, die eher zu entraten waren. Und du, als eine klügere Person, solltest ja die bloße Näharbeit der Meister, da wir den Trauerkattun bei unsern Lebzeiten nicht brauchen, lieber hergeben als metallene Möbeln, aus denen wir täglich speisen! – Jetzt sage aber, was du denkst, Gute?« –

»Ich habe es schon lange gemerkt«, versetzte sie, »daß du mich um meinen Trauerrock zu bringen suchst. Ich geb' ihn aber nicht her. Wenn ich nun zu dir sagte: versetz deine Uhr, Firmian! Es wär' ebenso.« – Vielleicht gewöhnen sich die Männer darum an, gebieterisch ohne Gründe zu befehlen, weil diese wenig verfangen und sie gerade die Widerspenstigkeit, statt zu brechen, nur waffnen. – »Beim Henker!« sagt' er, »nun hab' ichs genug. Ich bin kein Truthahn und Auerochs, der sich ewig über den farbigen Lappen erbosen will. Es wird heute versetzt, so wahr ich Siebenkäs heiße.« –

»Du heißest ja auch Leibgeber«, sagte sie. »Es soll mich der Teufel holen, wenn der Kattun da bleibt«, sagt' er. Jetzo fing sie an zu weinen und über das bittere Geschick zu wimmern, das ihr nichts mehr lasse, auch ihren Anzug nicht einmal. Gedankenlose Tränen fallen oft so ins siedende männliche Herz wie andere Wassertropfen in geschmolzenes wallendes Kupfer: die flüssige Masse springt krachend auseinander. »Himmlischer, guter, sanfter[305] Teufel«, sagt' er, »fahr herein und brich mir den Hals! Gott erbarme sich über eine solche Frau! – Nun so behalt deinen Kattun und dein Hungertuch. Aber des Henkers bin ich – ich gebe mein Ehrenwort –, wenn ich nicht das alte Hirschgeweih aus meines Vaters Nachlaß noch heute wie ein gestrafter Wilddieb auf den Kopf stülpe und zum Verkaufe am lichten hellen Tag durch den ganzen Flecken trage, so lächerlich es allen Kuhschnapplern erscheinen mag, und ich will bloß sagen, du hast mirs aufgesetzt. Das tu' ich, zum Teufel!«

Knirschend ging er ans Fenster und sah ohne Augen auf die Gasse. Ein Dorfleichenbegängnis marschierte mit Stöcken unten vorbei. Die Leichenbahre war eine Achsel, und auf ihr wankte ein schiefer Kindersarg.

Dieser Anblick ist überhaupt schon rührend, wenn man über einen kleinen verborgnen Menschen nachsinnt, der aus dem Fötusschlummer in den Todesschlaf, aus dem Amnioshäutchen dieser Welt in das Bahrtuch, das Amnioshäutchen der andern, übergeht – dessen Augen vor der glänzenden Erde zufallen, ohne die Eltern gesehen zu haben, die ihm mit feuchten nachblicken der geliebt wurde, ohne zu lieben – dessen kleine Zunge verweset ohne gesprochen, wie sein Angesicht, ohne je gelächelt zu haben auf unserem widersinnigen Rund. Diese abgeschnittnen Laubknospen der Erde werden schon irgendeinen Stamm finden, auf welchen sie das große Schicksal impft; diese Blumen, die wie einige sich schon in den Morgenstunden zum Schlafe zuschließen, werden schon eine Morgensonne antreffen, die sie wieder öffnet. – Als Firmian dies kalte überhüllte Kind vorüber gehen sah – in dieser Stunde, wo er über das Trauerkleid, das ihn betrauern sollte, stritt – jetzo neben dem letzten Tropfen des abrinnenden Jahrs, wo ihm sein mit flüchtigen Ohnmachten vertrautes Herz die Vollendung eines neuen absprach – jetzo unter so vielen Schmerzen: so hörte er gleichsam den Todesfluß überdeckt unter seinen Füßen murmeln, wie die Sineser den Boden ihrer Gärten mit brausenden Strömen unterhöhlen, und die dünne Eisrinde, die ihn hielt, schien bald mit ihm in die winterlichen Wellen hinabzubrechen. Er sagte unaussprechlich gerührt zu Lenetten:[306] »Vielleicht hast du am Ende recht, daß du den Trauerrock behältst, und es ahnet dich mein Untergehen. Tu, was du magst – ich will mir den letzten Dezember nicht weiter verbittern, da ich nicht weiß, ob er nicht in einem andern Sinne für mich der letzte ist, und ob ich in einem Jahre dem armen Säugling nicht näher bin als dir. Ich geh' jetzo spazieren.« –

Sie schwieg betroffen. Er entzog sich eilig einer endlichen Antwort. Seine Abwesenheit mußte seine beste Oratorie sein. Alle Menschen sind besser als ihre Aufwallungen – als ihre schlimmen nämlich, denn alle sind auch schlechter als ihre edeln –, und räumt man jenen eine Stunde zum Auseinanderfallen ein: so hat man etwas Bessers als seine Sache gewonnen, seinen Gegner. Übrigens hinterließ er Lenetten noch ein starkes Nachdenken über sein Ehrenwort und über das Hirschgeweih.

Ich hab' es schon einmal geschrieben: daß der Winter nackt ohne den Lailach und das Westerhemd von Schnee auf der Erde lag, neben der trocknen dürren Mumie des vorigen Sommers. Firmian sah mit einem unbefriedigten Gefühl über die ausgekleideten Gefilde hinweg, über welche noch die Wiegendecke des Schnees und der Milchflor des Reifs geworfen werden mußte, und an die Bäche hinunter, die noch gelähmt und sprachlos werden sollten. Helle, warme letzte Dezembertage weichen uns zu einer Schwermut auf, in der vier oder fünf bittere Tropfen mehr sind als in der Schwermut des Nachsommers; bis um 12 Uhr in der Nacht und bis zum 31ten des 12ten Monats macht uns das winterliche und nächtliche Bild des Vergehens enge, aber schon um I Uhr nach Mitternacht und am 1. Januar wehen lebendige Morgenwinde das Gewölke über die Seele hinüber, und wir schauen nach dem dunkeln, reinen Morgenblau, dem Aufsteigen des Morgen- und Frühlingsternes entgegen. An einem solchen Dezembertage beklemmt uns die falbe stockende Welt von starren blutlosen Gewächsen um uns und die unter sie niedergefallnen, mit Erde bedeckten Insektenkabinette und das Sparrwerk bloßer, runzliger, verdorrter Bäume – die Dezembersonne, die am Mittag so tief hereinhängt als die Juniussonne abends, breitet, wie angezündeter Spiritus, einen gelben Totenschein über die welken,[307] bleichen Auen aus, und überall schlafen und ziehen, wie an einem Abende der Natur und des Jahrs, lange riesenhafte Schatten, gleichsam als nachgebliebene Trümmer und Aschenhaufen der ebenso langen Nächte. Hingegen der leuchtende Schnee überzieht nur, wie ein um einige Schuh hoher weißer Nebel, den blühenden Boden unter uns, der blaue Vorgrund des Frühlings, der reine dunkle Himmel, liegt über uns weit hinein, und die weiße Erde scheint uns ein weißer Mond zu sein, dessen blanke Eisfelder, sobald wir näher antreten, in dunkle wallende Blumenfelder zerfließen.

Weh wurde dem traurigen Firmian auf der gelben Brandstätte der Natur ums Herz. Die täglich wiederkommende Stockung seines Herz- und Pulsschlages schien ihm jenes Stillestehen und Verstummen des Gewitterstürmers in der Brust zu sein, das ein nahes Ausdonnern und Zerrinnen der Gewitterwolke des Lebens ansagt. Er schrieb das Stottern seines Uhrwerks einem zwischen die Räder gefallenen Pflock, einem Herzpolypen zu; und seinen Schwindel dem Anzuge des Schlagflusses. Heute war der 365te Akt des Jahrs, und sein Vorhang war im Niederfallen; was konnt' ihm dies anders zuführen als düstere Vergleichungen mit seinem eignen Epiloge, mit dem Wintersolstitium seines abgekürzten verschatteten Lebens? – Das weinende Bild seiner Lenette stellte sich jetzo vor seine vergebende, wegziehende Seele; und er dachte: »Sie hat wohl nicht recht; ich will ihr aber nachgeben, weil wir doch nicht lange mehr beisammenwohnen. Ich gönn' ihrs gern, daß meine Arme vermodernd von ihr fallen, und daß ihr Freund sie in seine nimmt.«

Er stieg auf das Blut- und Trauergerüste, auf dem sein Freund Heinrich seine Umarmungen geendigt hatte. Von dieser Höhe eilten seine Blicke, sooft sein Herz zu schwer wurde, dem Wege Leibgebers bis an die Berge nach; aber heute wurden sie feuchter so als sonst, weil er nicht den Frühling wiederzusehen hoffte. Diese Höhe war der Hügel, auf den der Kaiser Hadrian den Juden jährlich zweimal zu steigen erlaubte, damit sie hinüber nach den Trümmern der heiligen Stadt blicken und das beweinen könnten, was sie nicht betreten durften94. Die Sonne schloß das alte Jahr[308] mit Schatten ab, und als nun abends die Sterne auftraten, die im Frühling sonst den Morgen schmücken: so brach das Schicksal die schönsten Lianen-Zweige voll Blüte von seinem Geiste weg, und helles Wasser quoll aus ihnen: »Ich erlebe und sehe nichts mehr vom künftigen Frühling«, dacht' er, »als sein Blau, das an ihm, wie in der Schmelzmalerei, unter allen Farben zuerst fertig wird.« Sein zur Liebe erzognes Herz ruhte ohnehin immer von Satiren, von trocknen Geschäften und zuweilen von der Kälte Lenettens an der ewigen, warmen und umfangenden Göttin aus, an der Natur. Hier in das freie, enthüllte, blühende All, unter den großen Himmel, trug er gern seine Seufzer und seinen Kummer, und er machte in diesen Garten, wie sonst die Juden in kleine, alle seine Gräber. – Und wenn uns die Menschen verlassen und verwunden: so breitet ja auch immer der Himmel, die Erde und der kleine blühende Baum seine Arme aus und nimmt den Verletzten darein auf, und die Blumen drücken sich an unsern wunden Busen an, und die Quellen mischen sich in unsere Tränen, und die Lüfte fließen kühlend in unsere Seufzer – das Weltmeer von Bethesda erschüttert und beseelet ein hoher Engel, und wir tauchen uns mit allen tausend Stichen in seine heißen Quellen ein und steigen zugeheilet und mit abgespannten Krämpfen aus dem Lebenwasser wieder heraus.

Firmian ging mit einem Herzen voll Versöhnung und mit Augen, die er im Dunkeln nicht mehr trocknete, langsam nach Hause; er sagte sich jetzt alles, womit er seine Lenette entschuldigen konnte – er suchte sich auf ihre Seite zu ziehen durch den Gedanken, daß sie nicht, wie er, den Minervens-Helm, den Fallschirm und Fallhut des Denkens, Philosophierens und der Autorschaft gegen die Stöße und Steine des Lebens nehmen könne – er setzte sich noch einmal vor (er hatt' es sich schon 30 Male vorgesetzt), so verbindlich gegen sie zu sein, wie man es gegen eine Fremde ist95– ja er legte über sein Ich schon das Fliegennetz oder[309] das Panzerhemd der Geduld, im Falle der grillierte Kattun wirklich unversetzt zu Hause läge. – So machts der Mensch, so drücket er, um nur in den Mittagschlaf der Seelenruhe zu kommen, mit zwei Händen die Ohren zu – so wirft unsere Seele in der Leidenschaft allezeit, wie Spiegel- oder Wasserflächen, den Sonnenschein der Wahrheit nur mit einem blitzenden Punkte zurück, indes die Fläche um die widerscheinenden Stellen sich nur desto tiefer einschattet.

Wie ging alles anders! Gravitätisch und mit einem Kirchenvisitation-Gesicht voll Inspektionpredigten trat ihm der Pelzstiefel entgegen; Lenette richtete ihre geschwollnen Augäpfel kaum gegen die Windseite seines Eintritts. Stiefel hielt das Mienen-Gestrick seines Gesichtes fest, damit es nicht vor Firmians freundlich aufgelöstem zerführe, und hob an: »Herr Armenadvokat, ich wollt' eigentlich das Geld für die Langische Rezension abtragen. Aber die Freundschaft heischet von mir etwas Wichtigeres: Sie zu ermahnen, daß Sie sich gegen Ihre arme Frau hier betragen wie ein wahrer Christ gegen eine Christin.« »Oder noch besser«, sagt' er; »aber wovon ist denn die Rede, Frau?« Sie schwieg verlegen. Sie hatte von dem Rat in dem Kattun-Prozeß Rat und Hülfe begehrt, weniger, um beides zu bekommen, als um den Prozeß zu erzählen. Sie hatte nämlich, als sie der Rat im bittersten Gusse ihrer Augen überfallen, eben vorher den grillierten stachlichten Raupenbalg wirklich in Versatz gesandt, weil sie nach dem Ehrenschwure ihres Mannes vorauswußte – da sie sein Worthalten sowie seine Kälte gegen das Scheinen kannte, die gerade in der Not am grimmigsten wurde –, daß er ohne Bedenken das lächerliche Gehörn auf seinem Kopfe feiltragen werde durch den ganzen Ort. Sie hätte vielleicht vor dem Seelsorger geweint und geschwiegen, hätte sie ihren Willen und ihren Rock gehabt; da sie aber beides aufgeopfert hatte, so[310] begehrte sie einen Ersatz, eine Rache. Sie hatt' ihm anfangs nur Beschwerden in unbenannten Zahlen vorgerechnet; als er aber weiter andrang, sprang ihr überfülltes Herz auf, und alle Leiden strömten heraus. Stiefel gab, zuwider den Rechtsregeln und manchen Universitäten, immer dem Kläger Recht, weil dieser eher – sprach: die meisten Menschen halten die Unparteilichkeit ihres Herzens für die Unparteilichkeit ihres Kopfes. Stiefel schwur, er wolle ihrem Manne sagen, was zu sagen wäre, und der Kattun kehre noch heute zurück.

Dieser Beichtiger klingelte vor dem Armenadvokaten mit seinem Bind- und Löseschlüsselbund und erzählte dem Gatten die allgemeine Beichte der Frau und dann den Versatz des Rocks. Wenn man von einer Person zwei verschiedene Handlungen zu berichten hat, eine ärgerliche und eine willkommene: so kommt die Hauptwirkung darauf an, welche man zuerst stellt; die zuerst erzählte grundiert das Gemüt, und die zuletzt nachgemalte wird nur Nebenfigur und zum Schattenwurf. Firmian hätte schon auf der Gasse hinter Lenettens Versatz gelangen sollen, und erst oben hinter die Plauderei. So aber saß der Henker darin. »Wie – (das waren, wenn nicht seine Gedanken, doch seine Gefühle) wie, meinen Nebenbuhler macht sie zu ihrem Vertrauten und zu meinem Richter – ich bring' ihr eine versöhnte Seele wieder, und in diese macht sie einen neuen Riß – und so ärgert sie mich noch den letzten Tag mit dem verhenkerten Geplauder?« Mit letztem meinten nämlich seine Gefühle etwas, was der Leser nicht versteht; denn ich hab' ihm noch nicht erzählt, daß Lenette die Unart hatte, übel erzogen zu sein, und daß sie daher gemeine Leute ihres Geschlechtes, z.B. die Buchbinderin, zu Einnehmern ihrer geheimen Gedanken und zu elektrischen Ausladern ihrer kleinen Gewitter machte; indes sie zugleich ihrem Mann verdachte, daß er Bediente, Mägde, Plebejer, zwar nicht in seine Mysterien einließ, aber doch in ihre eignen begleitete.

Stiefel las jetzo – nach der Sitte aller Leute ohne Welt, die alles lehren und nichts voraussetzen – von seinem Kanzelpult eine lange theologische Traurede über die Liebe christlicher Ehegatten ab und bestand zuletzt auf der Zurückberufung des Kattuns,[311] gleichsam seines Neckers. Firmian wurde durch die Rede erbittert; und das bloß, weil seine Frau ohnehin dachte, er habe keine Religion oder nicht so viel davon wie Stiefel. »Es ist mir (sagt' er) aus der französischen Geschichte erinnerlich, daß der erste Prinz vom Geblüt, Gaston, seinem Bruder einige unbedeutende Kriegunruhen gemacht, und daß er im Friedeninstrumente darauf in einem besondern Artikel sich erboten, den Kardinal Richelieu zu lieben. Allerdings sollte dieser Artikel, daß Eheleute einander lieben wollen, einen ganzen geheimen Separatartikel in den Ehepakten ausmachen, da die Liebe zwar, wie Adam, anfangs ewig und unsterblich ist, aber nachher doch sterblich wird nach dem Schlangenbetrug. Was aber den Kattun anlangt, so wollen wir alle Gott danken, daß der Zankapfel aus dem Hause geworfen ist.« Stiefel, um der geliebten Lenette zu opfern und zu räuchern, drang auf den Rückmarsch des Rocks um so leichter, weil ihm Firmians bisherige sanfte Willfährigkeit zu kleinen Opfern und Diensten den Wahn seiner übermannenden Oberherrschaft in den Kopf gesetzet hatte. Der bewegte Ehemann sagte: »Wir wollen abbrechen.« – »Nein«, sagte Stiefel, »nachher! Jetzo vor allen Dingen foder' ich, daß die Frau wieder zu ihrem Kleide komme.« – »Hr. Rat, daraus wird nichts.« – »Ich schieße Ihnen (sagte Stiefel in heißester Erbosung über einen solchen frappierenden Ungehorsam) so viel Geld vor, als Sie, brauchen.« Nun war es dem Advokaten noch weniger möglich, zurückzutreten: er schüttelte 80 mal. »Sie oder ich sind ganz bestürzt (sagte Stiefel); ich will Ihnen die Gründe noch einmal vorhalten.« – »Sonst waren«, versetzte Firmian, »die Advokaten so glücklich, Hauskapläne96 zu haben; es war aber keiner zu bekehren – und darum werden sie nicht mehr angepredigt.«

Lenette weinte stärker – Stiefel schrie deshalb stärker – er mußte, in der ersten Verlegenheit über eine mißlungene Erwartung, seine Foderung schroffer aufstellen, und der andre gegen sie stärker andringen. – Stiefel war ein Pedant, und niemand als so einer hat eine offnere, blindere Eitelkeit, gleichsam einen[312] unaufhörlichen Wind, der aus allen 32 Ecken fortweht (denn ein Pedant kramt sogar den Körper aus). Stiefel mußte, wie ein guter Schauspieldichter, seinen Charakter durchführen und sagen: »Entweder – oder, Hr. Armenadvokat! Entweder das Trauerkleid kömmt zurück – oder ich bleibe weg – aut, aut. Meine Besuche können zwar von keinem Belange sein; aber ich setz' auch einen geringen Preis darauf, bloß Ihrer Frau Gemahlin wegen.« Firmian, doppelt erzürnt – erstlich über die herrschsüchtige Unhöflichkeit eines solchen eiteln Wechselfalles, und zweitens über den kleinen Marktpreis, wofür der Rat ihre Zusammenkünfte losschlug – mußte sagen: »Nunmehr kann niemand mehr Ihren Entschluß bestimmen als Sie, aber nicht ich – Es wird Ihnen sehr leicht, Hr. Rat, sich von uns zu trennen, und Sie könnten anders – aber mir wird es schwer, und ich kann nicht anders.« – Stiefel, dem so unvermutet und so nahe vor seiner Geliebten der wächserne Lorbeerkranz vom Kopf herabgeschmolzen wurde, konnte weiter nichts tun als scheiden; aber mit drei fressenden, scharfen Gefühlen – daß sein Ehrgeiz litt – seine Freundin weinte – sein Freund rebellierte und trotzte....

Und als der Schulrat seinen ewigen Abschied nahm; stand in seiner Freundin Augen ein entsetzlicher Schmerz, den ich, ob ihn gleich die Hand der Vergangenheit bedeckt hat, noch starren sehe; und sie konnte den fliehenden Freund nicht die Treppe mit hinabbegleiten wie sonst, sondern ging mit dem überfüllten, brechenden Herzen allein in die unerleuchtete Stube zurück.

Firmians Herz legte die Härte, obwohl nicht die Kälte ab, da er seine verfolgte Frau in starrem, trocknem Gram über den Einsturz aller ihrer kleinen Plane und Freuden erblickte, und er tat ihr mit keinem einzigen Vorwurfe mehr weh: »Du siehst«, sagt' er bloß, »ich bin nicht schuld, daß der Rat nicht mehr wiederkommt – er hätte freilich nichts erfahren sollen – nun ists vorbei.« Sie antwortete nicht. Der Hornissenstachel, der eine dreifache Wunde sticht, oder der wie von einem rachsüchtigen Italiener in sie geworfne Dolch steckte noch in der Wunde fest, die daher nicht bluten konnte. Du Arme! du hast dich um recht viel gebracht! – Aber Firmian bereute doch nichts; er, der mildeste,[313] nachgiebigste Mann unter der Sonne, spreizte gegen jeden Zwang, zumal gegen einen auf Kosten seiner Ehre, das ganze weiche Gefieder brausend auf. Geschenke nahm er an, aber nur von seinem Leibgeber oder von andern in der wärmsten Stunde des Seelenvereins, und er und sein Freund waren darüber einstimmig, in der Freundschaft gelte nicht nur ein roter Heller einem Goldstücke gleich, sondern auch ein Goldstück einem Heller, und das größte Geschenk müßte man so willig empfangen, als sei es das kleinste; daher rechnete ers unter die unerkannten Seligkeiten der Kinder, daß sie unbeschämt sich können beschenken lassen.

In geistiger Erstarrung setzte er sich in den Großvaterstuhl und deckte die Hand auf die Augen und – von der Zukunft flog jetzo der Nebel auf und entblößte darin ein langes dürres Land voll Brandstätten, voll verdorrter Gebüsche und voll Tiergerippe im Sand. Er sah, die Kluft oder der Erdfall, der sein Herz von ihrem abreiße, werde immer weiter klaffen; er sah es so deutlich und so trostlos, seine alte schöne Liebe komme nie wieder, Lenette lege ihren Eigensinn, ihre Launen, ihre Gewohnheiten nie ab – die engen Schranken ihres Herzens und Kopfes blieben immer fest – sie lern' ihn so wenig verstehen als liebgewinnen – auf der andern Seite nehme nun ihre Abneigung gegen ihn mit dem Außenbleiben seines Freundes zu – und mit beiden die Liebe gegen diesen, dessen Reichtum, dessen Ernst und Religiosität und Zuneigung das schneidende Band der Ehe mit einem vielfachern und weichern Bindwerk entzweirissen – er sah trübe in lange schweigende Tage voll versteckter Seufzer, voll stummer feindlicher Anklagen hinaus.

Lenette arbeitete still in der Kammer, denn das wundgerissene Herz floh Worte und Blicke als kalte grimmige Winde. Es war schon sehr finster – sie brachte kein Licht. Auf einmal fing unten im Hause eine wandernde Sängerin mit einer Harfe und ihr kleines Kind mit einer Flöte an zu spielen. Da war unserem Freunde, als wenn das von Blut geschwollene, gespannte Herz tausend Schnitte bekäme, um sanft zusammenzufallen. Wie Nachtigallen am liebsten vor einem Echo schlagen, so spricht unser Herz am lautesten vor Tönen. O als der gleichsam dreifach besaitete Ton[314] ihm seine alten fast unkenntlichen Hoffnungen vorüberführte – als er tief zu dem schon hoch vom Strom der Jahre überdeckten Arkadien hinuntersah und sich drunten mit seinen jungen frischen Wünschen erblickte, unter seinen lang verlornen Freunden, mit seinen freudigen Augen, die sich voll Zuversicht im Kreise umschaueten, und mit seinem wachsenden Herzen, das gleichsam seine Liebe und seine Treue für ein künftiges warmes sparte und nährte – und als er jetzo in einen Mißton hineinrief: »und ein solches hab' ich nicht gefunden, und alles ist hin« – und als die grausamen Töne wie eine dunkle Kammer die regen beweglichen Bilder blühender Lenze, blumiger Länder und liebender Zirkel vorüberführten vor diesem Einsamen, der nichts hatte, heute nicht eine Seele in diesem Lande, die ihn liebte: so fiel sein fest stehender Geist darnieder und legte sich auf die Erde, wie zergangen, zur Ruhe, und jetzt tat ihm nichts mehr wohl, als was ihn schmerzte. Plötzlich verschwand die Nachtwandlung des Getöns, und die Pause griff, wie eine stille Nachtleiche, härter ins Herz. In dieser melodischen Stille ging er in die Kammer und sagte zu Lenetten: »Trag ihnen das wenige hinunter!« Aber die zwei letzten Worte konnt' er nur stotternd sagen, weil er im Widerschein, den das Zunderbrennen aus einem Hause gegenüber gab, ihr ganzes glühendes Angesicht voll laufender, ungetrockneter Tränen sah; denn bei seinem Eintritte hatte sie sich im Abwischen der Fensterscheiben, die von ihrem warmen Atem angelaufen waren, begriffen gestellt. Sie ließ das Geld auf dem Fenster. Er sagte noch sanfter: »Lenette, du mußt es wohl gleich bringen; eh' sie gehen.« Sie nahm es – – ihre verweinten Augen glitten im Umwenden vor seinen verweinten vorüber – sie ging, aber beide wurden darüber fast trocken, so geschieden waren ihre Seelen schon. Sie litten in jener schrecklichen Lage, wo nicht einmal die Stunde einer gegenseitigen Rührung mehr versöhnt und wärmt. Seine ganze Brust schwoll von quellender Liebe, aber ihrer gehörte seine nicht mehr an – ihn drückte in derselben Minute der Wunsch und das Unvermögen, sie zu lieben, die Einsicht ihrer Mängel und die Gewißheit ihrer Kälte. – Er setzte sich in den eingemauerten Fenstersitz und lehnte den Kopf auf und rührte[315] zufällig ihr nachgebliebenes Schnupftuch an, das feucht und kalt von Tränen war. Die Gekränkte hatte sich nach dem langen Drucke eines ganzen Tages recht mit dieser milden Ergießung erquickt, wie man nach starken Quetschwunden die Ader öffnen lässet. Bei dem Antasten des Tuchs lief es eiskalt über seinen Rücken, wie ein Gewissenbiß; aber sogleich darauf brühendheiß, da er dachte, sie habe nur über den Verlust einer ganz andern Person geweint als der seinen. Nun fing, aber ohne die Harfe, der Gesang und die Flöte wieder an, und beide walleten in einem langsamen Liede ineinander, dessen Strophen immer schlossen: »Hin ist hin, tot ist tot.« Ihn umfaßte der Schmerz, wie der Mantelfisch, mit seiner dunkeln erstickenden Hülle. Er drückte Lenettens nasses Schnupftuch hart an seine Augäpfel und vernahm nur dunkel: »Hin ist hin, tot ist tot.« Da floß plötzlich sein ganzes Innere aufgelöset bei dem Gedanken auseinander, daß sein stockendes Herz ihm vielleicht kein neues Jahr mehr außer dem morgendlichen zu erleben gönne – und er dachte sich scheidend, und das kalte Tuch lag mit doppelten Tränen kühlend am heißen Angesicht – und die Töne zählten wie Glocken alle Punkte der Zeit, und man vernahm das Vergehen der Zeit – und er sah sich in der stillen Höhle schlafend, wie in der Schlangengrotte, und statt der Schlangen leckten nur die Würmer die heißen, scharfen Gifte des Lebens ab97.

Die Musik war vorüber. Er hörte Lenetten in der Stube gehen und Licht anzünden. Er ging hinaus und reichte ihr das Schnupftuch hin. Aber sein innerer Mensch war so verblutet und zerdrückt, daß er irgendeinen äußern, wer es nur sei, umarmen wollte; er mußte, wenn auch nicht seine jetzige, doch seine vorige, wenn auch nicht seine liebende, doch seine leidende Lenette an diese darbende Brust andrücken. Gleichwohl vermochte und verlangte er nicht ein Wort der Liebe zu sagen. Er legte langsam und ungebückt die Arme um sie und schloß sie an sein Herz; aber sie warf den Kopf kalt und voreilig vor einem unangebotene[316] Kusse zurück. – Das schmerzte ihn sehr, und er sagte: »bin ich denn glücklicher wie du?« – und legte sein gebücktes Angesicht auf ihr weggebogenes Haupt und preßte sie wieder an sich und entließ sie dann – – Und als die vergebliche Umarmung vorüber war, rief sein ganzes Herz: »Hin ist hin, tot ist tot.«

Die stumme Stube, in der die Musik und die Worte aufgehöret hatten, glich einem unglücklichen Dorfe, aus dem der harte Feind alle Glocken mitgenommen, und worin es still ist den ganzen Tag und die ganze Nacht und stumm im Turm, als wäre die Zeit vorbei.

Als sich Firmian niederlegte, dacht' er: ein Schlaf beschließet das alte Jahr wie ein letztes, und beginnt das neue wie ein Leben, und ich schlummere einer bangen, ungestalten, tiefbehangnen Zukunft entgegen. So schläft der Mensch an der Pforte der versperrten Träume ein, aber er weiß nicht voraus, obgleich seine Träume nur einige Minuten und Schritte von der Pforte abliegen, welche, wenn sie aufgeht, hinter ihr warten, ob ihn auflauernde, funkelnde Raubtiere oder sitzende, lächelnde, spielende Kinder in der kleinen sinnlosen Nacht umringen, und ob ihn der fest geformte Dunst erwürge oder umarme.

88

Jene versehen bei der Krone Böheim das Erzküchenmeister-, diese das Erbvorschneideramt.

89

Die Scholastiker glauben, zwei Engel haben Platz an einer und derselben Stelle. Occam. 1. qu. quaest. 4 u.a.

90

Man fabelte, das Männchen des Paradiesvogels brüte, bloß im Äther hangend, die Eier auf dem Rücken des Weibchens aus.

91

Besonders an kalten hellen Winter-Morgen und – Abenden. Seit mehr als zwanzig Jahren heg' ich – Siebenkäs desfalls – diese Krankheit, die eben jetzo am 24ten kalten Dezember bei ihrem Malen mir wieder sitzt, in mir. Sie ist nichts als eine Lähmung der Lungen-Nerven – besonders des umherschweifenden Nerven (nerv. vag.) – und kann mit der Zeit (denn man sieht, daß ihr zwanzig Jahre noch nicht hinreichen) jenen Lungenschlagfluß erwirken, den Leveillé in Paris und neulich Hohnbaum als eine neue Gattung aufstellen, und welchen man wohl, nach Ähnlichkeit des Millars-Husten, den Siebenkäsischen oder J. Pauls-Schlagfluß nennen könnte.

92

Buffon über die Erzeugung.

93

L. I. §. 3. D. de postulando.

94

Nach Justin; s. Bastholms Jüdische Geschichte, aus dem Dänischen. 1785.

95

Der Ehemann sollte mehr den Liebhaber, und dieser mehr jenen spielen. Es ist nicht zu beschreiben, welchen mildernden Einfluß kleine Höflichkeiten und unschuldige Schmeicheleien gerade auf die Personen haben, die sonst keine erwarten und erlangen, auf Gattinnen, Schwestern, Verwandte; sogar wenn sie Höflichkeit für das halten, was sie ist. Diese erweichende Pomade für unsere rauhen zersprungenen Lippen sollten wir den ganzen Tag auflegen, wenn wir nur drei Worte reden; und eine ähnliche Handpomade sollten wir im Handeln haben. Ich halte, hoff' ich, meinen Vorsatz, keiner Frau zu schmeicheln, und sogar meiner eignen nicht; aber 4 1/2 Monate nach der Trauung fang' ich an, ihr zu schmeicheln, und fahre fort mein lebelang.

96

S. Klübers Anmerkung zu de la Curne de Sainte-Palaye, über das Ritterwesen.

97

In die Schlangengrotte bei Civita Vecchia brachte man sonst halb vermoderte Kranken, denen, während sie in einem aus Opium gemachten Schlafe da ruhten, Schlangen die Wundenmaterie ableckten. Labats Reis. VI. p. 81.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 279-317.
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