Fortsetzung und Beendigung des sechsten Kapitels

[200] Der grillierte Kattun – neue Pfandstücke – christliche Vernachlässigung des Judenstudiums – der aus den Wolken gereichte Helfarm aus Leder – die Versteigerung


Im siebenten Kapitel wird das Schwenk- und Andreasschießen gehalten: das jetzige füllet der winterliche dornige Zwischenraum bis dahin oder das Wolfmonat mit seinem Wolfhunger. Siebenkäs würde sich damals geärgert haben, wenn ihm jemand vorausgesaget hätte, mit welchem Mitleiden sein Aktivhandelflor von mir werde beschrieben und mithin von Millionen Menschen aller Zeiten werde gelesen werden; er verlangte kein Mitleiden und sagte: »Wenn ich lustig bleibe: warum seid ihr denn mitleidig?« Die Möbeln, die er neulich gleichsam wie der Tod berühret oder mit dem Waldhammer seiner Hand angeplätzet hatte, wurden nach und nach ausgeholzet und abgetrieben. Der geblümte Spiegel in der Kammer, der sich zum Glück selber in keinem sah, wurde zuerst von der Toten- oder Abendglocke im Bahrtuch einer Schürze aus dem Hause geläutet. Eh' er ihn in die Reihe dieses Totentanzes zog, schlug er Lenetten einen Stellvertreter vor, das Trauerkleid von grilliertem Kattun, um sie daran zu gewöhnen. Es war das censeo Carthaginem delendam (ich stimme für die Zerstörung Karthagos), das der alte Kato alle Tage auf dem Rathaus nach jeder Rede sagte.

Darauf wurde der alte Sessel – anstatt daß der Armstuhl Shakespeares lotweise wie Safran abgesetzt wird oder nach Karats – im ganzen losgeschlagen, und der Feuerbock (ein Dachstuhl fürs Brennholz) zog als Begleiter mit. Siebenkäs war so vernünftig, daß er vorher sagte: censeo Carthaginem delendam d.h. täten wir nicht gescheuter, wenn wir den grillierten Kattun versetzten?

Sie konnten kaum zwei Tage vom Bock und vom Sessel leben.

Jetzt wurde die alchemische Verwandlung der Metalle an dem Scherbecken und dem Kammertopfe versucht, und Tafelgüter und Tafelgelder daraus gemacht. Freilich sagte er vorher: censeo.[200]

– Es ist der Mühe kaum wert, daß ich bemerke, wie wenig ein Handelzweig Früchte abwarf, der mehr ein Holz- als ein Fruchtast war.

Die magere Porzellankuh oder Butterbüchse wäre nach dem Verkaufe kaum über einen Tag lang ihre nährende Milchkuh geworden, wenn sie nicht sieben Potentaten (nämlich deren elendeste Kupferstiche) begleitet hätten als Dareingabe, wofür die Hökerin einige Schmelzbutter beischoß. Censeo, sagte er daher. Viele müssen sich noch erinnern aus meiner Erzählung, daß er neulich, da er die Todesanzeigen unter die Möbeln austeilte, die Tellertücher, welche so nahe am grillierten Rocke lagen, nicht auffallend berücksichtigte; jetzt aber wurd' er auch diesen ein Leichhuhn und Galgenpater und reutete sie bis auf wenige aus. Als sie fort waren, merkt' er kurz vor Martins-Tag beiläufig an, daß die Tellertücherpresse noch vorhanden, es aber nicht abzusehen sei, was sie anfangen und pressen wolle. »Wenn es sich gerade so träfe«, fuhr er heiterer fort, »so könnte die Presse allerdings so lange Urlaub erhalten, bis wir uns selber aus der Glanz-, Öl- und Tellertücherpresse des Schicksals glatt herausgehoben hätten und die umkehrenden Tellertücher einknüpfen könnten ins Knopfloch.« – Anfangs war er sogar willens gewesen, die Leichenprozession umzuwenden und die Presse als Vortänzerin und Vorlauf den Tellertüchern vorauszuschicken; er hätte dann mit der Prozession zugleich den Syllogismus bloß so umgekehrt: »Ich sehe nicht ab, was wir mit den Tüchern anstellen und wie wir sie glatt erhalten, bevor die Presse wieder im Hause ist.«

Ich bin es fest und steif überzeugt, daß hier die meisten, wie Lenette, über meinen Handelkonsul Siebenkäs und über seinen hanseatischen Bund mit allen Leuten, die etwas an sich handelten, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mit ihr sagen werden: »Der leichtsinnige Mensch! So muß er zum Bettler werden: die herrlichen Möbeln!!« – Firmian antwortete ihr allemal: »Ich soll demnach herknien und heulen und vor Trauer wie ein Jude den Rock zerreißen, der schon zerrissen ist, und die Haar ausraufen, da sie der Gram oft in einer Nacht ausrupft? – Ists denn nicht an deinem Heulen genug, bist du nicht meine verordnete[201] praefica und Klagefrau? – Weib, ich schwöre aber dir und so teuer als wenn ich auf Schweinborsten61 stände: will es Gott haben, der mich so lustig geschaffen, will ers haben, daß ich mit achttausend Löchern im Rocke und ohne Sohlen an Strümpfen und Stiefeln in der Stadt herumziehe, soll ich immer mehr verarmen (hier wurden seine Augen wider Willen feucht und seine Stimme ungewiß): so soll mich der Teufel holen und mit der Quaste seines Schwanzes totpeitschen, wenn ich nicht dazu lache und singe – und wer mich bejammern will, dem sag' ich ins Gesicht, er ist ein Narr. Beim Himmel! Die Apostel und Diogenes und Epiktet und Sokrates hatten selten einen ganzen Rock am Leibe, ein Hemd gar nicht – und unsereiner soll sich in diesem kleinstädtischen Jahrhundert nur ein graues Haar darüber wachsen lassen?«-

Recht, mein Firmian! – Verachte das enge Schlauch-Herz der großen Kleidermotten um dich und der menschlichen Bohrkäfer in den Möbeln. – Und ihr, armen Teufel, die ihr mich eben leset – ihr möget nun auf Akademien oder auf Schreibstuben oder gar in Pfarrwohnungen sitzen – die ihr vielleicht keinen ganzen, wenigstens keinen schwarzen Hut aufzusetzen habt, richtet euch an der großen griechischen und römischen Zeit, worin ein edler Mensch, wie das Bildnis des Herkules, unbeschämt ohne Tempel und ohne Kleider war, über die weibische Nachbarschaft euerer Tage auf und verhütet es nur, daß euer Geist nicht mit euerer Lage verarme, und dann hebet stolz euer Haupt in den Himmel, den ein ängstlicher Nordschein Überzieht, dessen ewige Sterne aber durch das nahe blutige dünne Gewitter brechen!

– Es waren nur noch einige Wochen auf das Andreasschießen hin, auf das Lenette alle ihre Wünsche vertröstete und anwies, gleichwohl kam ein Tag, woran sie etwas Schlimmers wurde als traurig – trostlos.

Der Martinitag wars; an diesem sollte den aus Lenettens Salzburg Ausgewanderten, den Tellertüchern, auch die Presse als ihre Oberin nachgehen; aber niemand im ganzen Reichsflecken wollte[202] die Presse annehmen. Nur ein Jude blieb der einzige Anker der Hoffnung, weil in dessen Noahkasten von Kaufladen sich alle Tiere und Waren hineinretteten. Zum Unglück aber suchte ihn die Tellertücherpresse grade an einem jüdischen Feiertage auf, den er strenger hielt als jedes Wort. Morgen wollt' er sehen.

– Ist es aber nicht – man erlaube mir ein wichtiges Wort zu seiner Zeit – eine äußerst gefährliche Nachlässigkeit der Regierungen, daß die jüdischen Fest- und Fasttage und ihre andern gottesdienstlichen Zeiten jetzo, wo die Juden in deutschen Staaten gleichsam die Generalpächter und Metallkönige der Christen sind, nicht öffentlich und allgemein zum Vorteile so vieler bekannt und verkündigt werden, welche bei ihnen borgen oder sonst handeln wollen? Wer anders leidet dabei als gerade die angesehensten Klassen, Personen von Geburt, von Range, vom Stabe, welche an Festen von Haman, von Ostern, von Tempeleroberung, von Gesetzes-Freude ihre Papiere bringen und Gelder suchen, aber keine dafür haben können? Sollten nicht in allen Kalendern – wie glücklicherweise längst in den berlinischen und bayerischen – die jüdischen Feste bezeichnet werden, sogar bis auf Stunde ihrer Dauer, oder in Zeitungen oder durch Ausrufer verkündigt und in Schulen eingeprägt? Unsere Festkalender braucht freilich der Jude nicht, da wir ihm zu Gefallen gern jeden Sonntag verschieben und aussetzen, und wär' es der erste im Jahr, das Fest der jüdischen Beschneidung, und er wird deshalb auch künftig, wenn die jüdische Universalmonarchie wirklich eintritt, seinem Judenkalender keinen Christenkalender anhängen, wie wir jetzo dem christlichen den jüdischen; aber die Notwendigkeit, den Christen schon in Schulen die jüdischen Festzeiten und ihre religiösen Gebräuche mehr einzuschärfen, wird erst künftig recht einleuchten, wenn die Juden endlich Deutschland zu ihrem Gelobten Lande erhoben und uns den Kreuz- und Rückzug in das asiatische zu einem Heiligen Grabe und einem heiligen Schädelberge übrig gelassen haben.

Gleichwohl sollten wir nicht (wünsch' ich, um diese Abschweifung mit einer zu schließen) künftig, wenn wir die christlichen Zähler jüdischer Nenner werden, als neue Kreuzzügler das[203] Palästina wieder suchen, nach welchem die Juden selber wenig fragen und jagen. Gewiß werden sie künftig gegen uns weit mehr Geist der Duldung beweisen, als wir sonst leider gegen sie gezeigt; eben ihr Handelgeist, den man ihnen bisher so sehr verdacht und aufgerückt, wird sich zu einem Schutzgeiste für uns arme Christen aufstellen und sich unserer annehmen, da wir ihnen zum Abkaufen und Verspeisen der weggeworfenen unpräparierten Hinterviertel des Viehs (sie dürfen ohne Ausäderung ja bloß die Vorderteile genießen) so unentbehrlich sind. Wer anders als Christen kann ihnen das Vieh, das sie am Schabbes62 nicht zur Arbeit erniedrigen dürfen, vertreten und die nötigen Spann- und Hand-Dienste leisten, und wem wollen sie, gleich den alten Republikanern, Arbeit und Handwerke übertragen als uns, gleichsam ihren edlern Heloten und Sklaven, für welche sie daher gewiß mehr Schonung haben werden als für ihre bisherigen untreuen Wechselschuldner? – –

Ich kehre zu unserm Armenadvokaten zurück und berichte weiter, daß er morgens am Martinitage kein Kauf-Geld erhalten konnte und folglich auch keine Martinsgans dafür. Lenettens Jammer über die entflogene Gans ihrer Konfession muß man selber fühlen. Die Weiber – welche weniger nach Essen und Trinken fragen als die besten aszetischen Philosophen63, ja mehr nach diesen selber als nach jenen – sind gleichwohl nicht zu bändigen, wenn ihnen gerade gewisse chronologische Lebenmittel entgehen; ihr Hang zu bürgerlichen Festlichkeiten macht, daß sie lieber Festlieder und Evangelien entraten als zu Weihnachten die Stollen – zu Ostern die Käskuchen – am Martinitag die Gans; ihr Magen fodert, wie ein katholischer Altar, an jedem hl. Fest[204] einen andern Fest-Überzug. Daher ist dieses kanonische Gebäck ihr zweites Abendmahl, das sie, wie das erste, nicht des Gaumens halber nehmen, sondern »der Ordnung wegen«. – Siebenkäs fand im Antonin und Epiktet kein Mittel und keine Ersatzmänner der Gans, womit er die wimmernde Lenette hätte stillen können, die immer sagte: »Wir sind doch auch Christen und gehören zur lutherischen Gemeinde: und heute haben alle Lutheraner Gänse auf dem Tisch; so wars bei meinen sel. Eltern. – Aber du glaubst an nichts.« – Aber der Unglaubige schlich noch am späten Judenfeiertage zum Juden, welcher einen artigen Gänsestall mit dünnen und mit fetten Lebern als einen Poststall für auswärtige Glaubengenossen hielt. Er zog bei ihm eine hebräische Duodezbibel aus der Tasche und legte sie auf den Tisch mit den Worten: er find' an ihm mit Freuden einen wackern Gesetzstudierenden; einem solchen aber geb' er am liebsten seine Bibel ganz, ohne einen Heller zu verlangen; er selber könne sie als eine unpunktierte (ohne Selblauter) ohnehin nicht gut lesen, zumal da es ihm auch mit einer punktierten nicht gelinge. »Aber meine Serviettenpresse«, setzte er hinzu und brachte sie unter dem Schanzlooper hervor, »möcht' ich gern hier ablegen, da sie mich beschweren würde. Ich wünschte nämlich gern aus Ursachen einen Ganser aus Ihrem Stalle mitzunehmen – er kann immer zaundürr sein –; Sie mögen ihn meinetwegen an einem so heiligen Tage für ein Almosen nehmen, das Sie mir geben. Hol' ich die Presse wieder ab: so können wir ja immer noch weiter aus der Sache sprechen.«

So bracht' er denn wirklich, um die freien Religionübungen seiner Frau nicht zu hindern, den Kontrovers-Ganser ein, der zur Polemik und zu den Unterscheidlehren zu gehören schien; und den Tag darauf aßen die zwei Doktoranden Martinisten Lutheristen den Schmalkaldischen Artikel – wie denn oft durch die schmalkaldischen Warenartikel von Eisen die theologischen verfochten wurden – gar nach; und das Kapitolium des lutherischen Lehrbekenntnisses war, wie mich dünkt, leicht durch dieses Tier (das man über einem Autodafee gebraten) errettet worden.

Aber an eben diesem Morgen kam der Perückenmacher herauf,[205] den er allemal mit dem größten Vergnügen sah – heute aber nicht, denn gestern, am Martinitag, war der Quatemberschoß der Hausmiete bekanntlich gefällig gewesen. Der Friseur präsentierte sich gleichsam als einen stummen Wechsel auf Sicht; aber er foderte höflich nichts, sondern meldete bloß: den Montag vor Andreas sei öffentliche Versteigerung von vielen Sachen, und wenn er etwan etwas dazu zusammensuchen wolle: so woll' er als beständiger vom Groß- und Kleinen-Rat bestallter Verauktionierung-Proklamator es ihm hiemit gemeldet haben.

Er war kaum die Treppe wieder hinab, so gab Lenette die größten, aber leisesten Zeichen des Kummers von sich, »daß er sie gemahnt habe, und daß nun alle Leute im Hause ihr unordentliches Haushalten wüßten, weil er von Möbeln geredet«. Es war unbegreiflich, wie nur die Frau hoffen konnte, daß bisher niemand es gemerkt habe, da Arme die Armut am er sten erraten. Indes hatte sich doch auch Firmian geschämt, zum Friseur zu sagen, er habe sich bisher das Bestallungschreiben eines Auktionators seiner eignen Möbeln zugefertigt. Hier fühlte er, daß er vor einer Person und vor Armen mehr über seine Dürftigkeit erröte als vor einer ganzen Stadt und vor Reichen – und er fuhr zornig auf über die verdammten Wind-Versetzungen der menschlichen Eitelkeit in die edelsten Teile. –

Sogar dem Leser kann der mit lauter Distelköpfen eingefaßte Weg zum Andreastage nicht länger vorkommen als meinem Helden, der noch dazu die Distelköpfe insgesamt anfassen und ausreißen mußte; sein Garten des Lebens glich immer mehr einem guten englischen, worin nur stachlichte und leere, aber keine Obstbäume gelitten werden.

Jeden Abend, wenn er das Schloß am Gitterbette aufdrückte, sagt' er äußerst vergnügt zu seiner Lenette: »Jetzt sind nur noch 20 (oder 9, oder 18, oder 17) Tage hinauf das Schwenkschießen.« Aber nun hatte der Haarkräusler und Versteigerungausrufer Lenetten – obgleich die Abende lang und dunkel und vortrefflich für arme Pfandherren waren und den verschämten nackten Jammer der armen Leute zudeckten – gänzlich verderbt; sie schämte sich vor den Leuten im Hause. Firmian, der sich über die Unerschöpflichkeit[206] seines Kopfes und seines Hauses zugleich verwunderte und der immer zu sich sagte: »Ich bin doch neugierig darauf, was mir heute wieder beifallen wird, und wie ich mich aus dieser Affäre ziehe«- Firmian hatte einige Tage nach dem Martini-Essen wieder zwei gute Möbeln im Vorschlag, einen langen Stechheber und ein breites großes Schaukelpferd (von seiner Kindheit). »Wir haben weder ein Faß noch ein Kind«, sagte er dazu; aber die Frau bat ihn um Gottes willen: »Das Schaukelpferd (sagte sie, als es in den Pfandstall gezogen werden sollte) und der Stechheber stechen zu weit aus der Schürze und aus dem Korbe heraus, und im Mondschein kanns jeder sehen – tu mir um Gottes willen die Schande nicht an!«

Und doch mußte etwas fort; Firmian sagte in einer sonderbaren, schneidenden und gerührten Laune: »Sein muß es – das Schicksal trommelt wie Prizel64 unten auf der Trommel, und der Hafer springt in die Höhe – wir müssen aber einmal vom Trommelfelle fressen.«

»Alles«, sagte sie erschöpft, »nur nichts Bauschendes – laß mich selber suchen.« Sie suchte, zog die oberste Schublade der Kommode und hob einen Strauß von italienischen Blumen empor und sagte: »lieber das da!« und weinte nicht und lächelte nicht. Er hatt' es oft gesehen, aber da er ihrs selber am vorigen Neujahr- und Verlobungtage als seiner Verlobten geschenkt hatte, und da es so romantisch schön war – eine weiße Rose, zwei rote Rosenknospen und ein Einfaßgewächse von Vergißmeinnicht setzten den bunten Nachschatten einer abgewelkten Flora zusammen –, so hatten sich alle Fibern seines empfindlichen Herzens vor der Entäußerung dieses bunten Schaugerichts aus einer reichern frohern Zeit gesträubt. Dieses verzichtende, duldsame Hingehen des Nachflors an ihrer Brust erschütterte die seinige, als wenn tausend große Seufzer sich darin drängten. – »Lenette! (sagt' er, unendlich erweicht) es sind ja die Blumen bei unserer Verlobung.« –[207]

»Aber wer wird sie viel kennen? (sagte sie froh und kalt). Und sie sind doch nicht so groß wie andere Sachen.«

»Hast du es denn vergessen«, stammelte er, »wie ich dir damals die Bedeutung des Straußes erklärte?«

»Ei, die Vergißmeinnicht (sagte sie noch kälter und über ihr Gedächtnis erfreuet) wollen sagen, daß ich dein nicht vergesse und du mein nicht – die Knospen bedeuten Freude – nein, die Knospen bedeuten die Freude, die noch nicht ganz da ist – und die weiße Rose – das weiß ich wahrhaftig selber nicht mehr.«....

»Schmerz bedeutet sie (sagte er hingerissen), Unschuld und Gram und ein bleiches weißes Angesicht bedeutet sie.« Er fiel ihr weinend um den Hals und rief es beinahe: »Du Gute! du Gute! ich kann ja nichts dafür – ich wollte dir gerne alles geben, aber ich habe nichts.«....

Er hörte plötzlich auf, denn sie hatte unter der Umarmung das Schubfach in die Kommode zurückgedrückt und sah ihn mit hellen sanften Augen an, in denen keine einzige Träne war. Sie fuhr im Tone der vorigen Bitte und mit einer größern Hoffnung fort: »Nicht wahr, ich behalte den Heber und das Pferd? – Und für den Strauß bekommen wir auch mehr.« – Er sagte in einem fort und in immer weichern Tönen: »Lenette! – beste Lenette!«

»Warum denn nicht?« fragte sie immer sanfter; denn sie verstand ihn nicht. »Lieber den Rock vom Leibe versetzt!« antwortet' er. Aber da sie jetzo besorgte, er ziel' auf ihr grilliertes Trauerkleid, und da sie eben darum in Rührung kam – und da sie auf einmal die wärmsten Predigten gegen alles Verpfänden großer Möbeln hielt – und da er so klar ersah, ihre vorige Kälte sei keine künstliche: so wußt' er leider alles, so wußt' er das Herbste, was kein Philosoph mit seinen süßen Tropfen mildern und versetzen kann – – nämlich:

entweder sie lieb' ihn nicht mehr, oder sie hab' ihn nie geliebt. Nun waren die Flechsen seinen Armen entzweigeschnitten, die sonst das Unglück wegstemmten; er konnte in der Entkräftung des (geistigen) Faulfiebers nichts sagen als das: »Mache, was du willt; mir gilts nun gleich.« – Darüber ging sie froh und eilig hinaus zur alten Sabel, kam aber sogleich wieder zurück. Dies[208] war ihm lieb, er konnte, seit drei Augenblicken viel tiefer vom Schmerze angefressen, noch das Bittere mit den ruhigen Worten nachholen: »Lege doch dein Myrtenkränzchen mit zum Blumenstrauß: so fällt er etwas mehr ins Geld und Gewicht, da das Kränzchen wirklich so schön gearbeitet ist als meine welschen Blumen nimmermehr.«

»Mein Brautkränzchen?« rief Lenette, zornig errötend, und zwei harte Tränen entschossen ihr, »nein, das geb ich absolut nicht her, ich nehm' es in den Sarg mit, wie meine selige Mutter. – Hast du es nicht selber an meinem Ehrentage in die Hand genommen, da ichs unter dem Frisieren heruntergetan und auf den Tisch gelegt, und hast selber gesagt, es sei dir so wichtig (ich habe die Worte genau gemerkt), ja lieber als die Trauung? Nein, ich bin und bleibe deine Frau und halte das Kränzchen wie mein Leben fest.«

Jetzt bewegte sich sein Herz ganz anders und sehr nach dem ihrigen zu; er versteckte es aber hinter die Frage, warum sie so bald wiedergekommen. Die alte Sabel – hörte er nun – war nämlich bei dem Buchbinder gesessen; bei diesem wieder der Venner von Meyern, der gewohnt war, vom Pferde abzusteigen und teils beim Buchbinder nachzusehen, welche Neuigkeiten die Damen da binden ließen und wie bunt broschieren, teils beim Schuhflicker das Bein mit dem Reitstiefel auf die Werkstatt zu stellen und eine Stulpe fester nähen zu lassen und nach allerlei zu fragen. Die Welt – was doch nichts anders heißen kann als so viele fleißige Zungendrescherinnen, als Kuhschnappel für seine tauben Ähren aufzuweisen hat – kann allerdings aus allem mutmaßen wollen, der Venner sei ein wirklicher Heinrich der Vogelsteller für mehr als eine Frau im Hause, welches letzte wieder für ihn eine weibliche Volière sei; aber ich verlange Beweise. Lenette ließ sich hingegen auf keine ein, sondern ergriff ohne weiteres eine fromme Flucht vor dem Vogelsteller Rosa.

Mit keiner sonderlichen Schamröte über die Wandelbarkeit des Menschenherzens erzähl' ich weiter, daß jetzo Firmians zusammengedrückte Brusthöhle um viele Zolle weiter wurde und geräumig für ein bedeutendes Vergnügen, bloß weil Lenette ihr[209] Hochzeitkränzchen so fest gehalten und bei dem Venner so kurz ausgehalten; – »sie ist doch treu, wenn nicht warm, oder am Ende wohl gar warm«, sagte er sich. Er ließ ihr daher mit Freude ihren Willen und seinen dazu, das Kränzchen in Haus und Herz zu behalten. Darauf ließ er ihr, wenn auch weniger freudig, ohne weitern Strauß über den Strauß, den andern Willen, der nicht ihr Gefühl versehrte, sondern nur seines; die kleine Gedächtnis-Staude wurde bei einer höflichen Frau, die den Titel Taxatrizin führte, unter dem Schwure verpfändet, sie mit dem ersten Taler, der am Andreastage von der Vogelstange falle, einzulösen. – –

Das Blutgeld des seidenen Gebüsches wurde so zerstückt, daß man es in den kotigen Weg bis zum Sonntage vor dem Schwenkschießen gleichsam als Steinchen zum Auftreten werfen konnte. Dieser Sonntag (27. Nov. 1785) war vor dem Montag, auf welchen die Versteigerung anberaumet war – den Mittwoch steht er (hofft' er) und wir alle (hoff' ich) an der Vogelstange gewiß.

Freilich am Sonntage mußt' er durch einen von mehren Gewittern angelaufnen Strom hindurch; wir wollen alle nach; aber ich sage voraus, in der Mitte ists tief.

Der Magen seines innern Menschen zeigte einen unglaublichen Ekel und eine umgekehrte peristaltische Bewegung gegen alles Verpfänden seit der Blumenaffäre. Die Sache war: er konnte die Frau auf nichts mehr verweisen – anfangs verwies er sie auf die Vogelstange – dann, als Mörser und Sessel die Festung ohne Sang und Klang geräumet hatten, Dinge, die nicht als Schützen Preise um den Vogel hingen, da verwies er sie auf öffentliche Versteigerungen, worin er alles um halbes Geld zu erstehen sich getraue – zuletzt verwies er zwar immer auf jene, aber nicht um Passiv-, sondern um Aktivhandel darin zu treiben und ihnen Fabrikate nicht sowohl abzunehmen als zuzuführen, worin Spanien hinter ihm bleibt.

Oft wird der Sieger über große Beleidigungen von der kleinsten übermannt; ebenso ists mit unsern Schmerzen: die harte feste Brust, auf welche eine qualenvolle Vergangenheit vergeblich drückte, bricht oft, wie ein lang überspültes Eis, unter dem leichtesten Fußtritt des Schicksals ein. Er hatte bisher sich ganz gut[210] aufrecht gehalten und seine Landfracht ungebückt getragen und froher als viele. Er hatte bisher den Henker nach allem gefragt. Hatt' er sich nicht (um nur einiges anzuführen) im Anzuge über den deutschen Kaiser gesetzt, der (sagt' er) an seinem Ehrentage in Frankfurt nichts anzuziehen habe als einen entsetzlich-alten, von Karl abgelegten Kaiserrock, nicht viel besser als Rabelais' alter, indes seiner um viele Jahrhunderte jünger sei als der kaiserliche? Hatt' er nicht seiner Frau, da sie trübe seinen perennierenden überständigen Kleiderflor überschauete, zugemutet, sich vorzustellen, er diene mit tausend andern Ansbachern in der neuen Welt und das Schiff, das ihnen neue Monturen zuzufahren habe, werde gekapert, so daß die ganze Mannschaft nichts anzuziehen behielte, als was sie hatte ablegen wollen? – Und er fußte seit langem auf etwas Besseres – offenbar auf echte Apathie – als auf sein einziges Stiefelpaar, das sich durch zweimaliges Vorschuhen wie ein Taschenperspektiv oder eine Posaune zusammengeschoben hatte zu guten Halbstiefeln, so wie die lange Kultur auch die deutschen Körper um vieles abkürzte und aus diesem Langgewehr Kurzgewehr machte.

Aber am Sonntag, wovon ich sprechen will, machte ihn ein einziger kleiner Raub- und Unglückvogel, der über die öde Sarawüste seiner Lage flog, viel zu scheu. Er selber hätte eher das Gegenteil erwartet: denn da er bisher die Sitte hatte, sich gegen alle dunkle Trauerszenen voraus zu rüsten durch Probekomödien, ich meine, da er alle künftige Aktenstücke, die der Heimlicher von Blaise gegen ihn liefern konnte, im voraus durchlas und so die künftige Last als eine gegenwärtige spielend auflud, um nachher das Spiel umzukehren: so nahm es ihn sehr wunder, daß das gewisseste vorausgesehene Übel, sobald es aus der Zukunft nahe an uns herantritt, in der Nähe längere Dornen habe als in der Ferne. Als nämlich am Sonntage in den luftleeren Raum seiner Brust noch der Amtbote der Erbschaftkammer mit dem lang erwarteten dritten Fristgesuche des Heimlichers kam und mit dem dritten Ja-Dekret darauf: so wurde es seiner Seele bei diesem neuen Zug des Stiefels aus der öden Luftglocke übel und engbrüstig. – –[211]

– Ich habe im Schwalle meiner offiziellen Berichte das zweite Fristgesuch absichtlich unerwähnt gelassen, weil ich wohl hoffen durfte, daß jeder Leser, der nur ein halbes Schiffpfund Akten oder nur eine einzige Liquidation (Rechnung) von Rechtsfreunden in Händen gehabt, es ohnehin voraussetzen werde, daß nach dem ersten Fristgesuche notwendig das zweite erscheine. Eine Schande ist es für unsere Justiz, daß ein redlicher, rechtlicher Beistand so viele Gründe, ich möchte sagen Lügen, aufsetzen muß, eh' er die kleinste Notfrist erficht; er muß sagen, seine Kinder und seine Frau seien todkrank, er habe Fatalien und 1000 Arbeiten und Reisen und Krankheiten; indes es hinreichen sollte, wenn er beibrächte, daß die Verfertigung der unzähligen Fristgesuche, mit denen er überhäuft sei, ihm wenig Zeit zu andern Schriften belasse. Man sollte einsehen, daß die Fristgesuche offenbar wie andere Gesuche auf die Verlängerung des Prozesses hinarbeiten, wie alle Räder der Uhr bloß zur Hemmung des Hauptrades ineinandergreifen. Ein langsamer Pulsschlag verkündigt nicht nur in Menschen, sondern auch in Rechtshändeln ein langes Leben. Ich denke, ein Advokat, der Gewissen hat, nötigt gern, solang er kann, nicht sowohl dem Prozesse seines Klienten – diesen schlöss' er sogleich, könnt' er sonst – als dem seines Gegners ein ausgedehntes Leben auf, um den Gegner teils heimzusuchen, teils abzuschrecken, oder um ihm ein günstiges Urtel, wofür niemand stehen kann, von Jahr zu Jahr zu entrücken, so wie in Gullivers Reisen Leute mit einem schwarzen Stirn-Klecks zur Qual ein unaufhörliches Leben erhalten. Der gegenseitige Sachwalter denkt nun wieder der gegnerischen Seite dieselbe Kriegs-Verlängerung zu – und so wickeln beide Patronen beide Klienten in ein langes Akten-Zuggarn ein, und jeder meint es gut. Überhaupt sind Rechtsfreunde die Leute nicht, denen die Rechte so gleichgültig sind wie das Recht, und sie wollen dagegen lieber handeln als schreiben; wie Simonides auf die königliche Frage, was Gott sei, sich einen Tag Bedenkzeit ausbat – dann wieder einen – und wieder einen – und immer einen, weil kein Leben diese große Frage erschöpft: so hält der Jurist nach jeder Frage, was ist Rechtens, von Zeit zu Zeit um[212] Fristen an – er kann die Frage nie auflösen – ja er würde, wenns die Richter und die Klienten wollten, seine ganze Lebenzeit mit der schriftlichen Beantwortung einer solchen Rechtsfrage zusetzen. Advokaten machen aus einer solchen Denkart, so gemein ist ihnen solche, nicht viel. –

– Ich komme zurück. Siebenkäs sank beinahe unter dem weltlichen eisernen Arm und dessen sechs langen Dieb- und Schreibfingern darnieder. Die Dünste auf seiner Lebenbahn zogen sich in Morgennebel zusammen – diese in Abendwolken – diese in Regenschauer. »Es geht manchem armen Teufel zu hart«, sagt' er. Hätt' er eine lustige Frau gehabt, er hätt' es nicht gesagt; aber eine Kreuzschlepperin voll Jeremiaden, eine elegische Dichterin voll Hiobiaden war selber ein zweites Kreuz.

Er durchsann nun alles: er hatte kaum so viel, um den künftigen Kalender zu kaufen – oder einen Bund Hamburger Federn (denn seine Satiren erschöpften weniger seine Kräfte als die Flederwische Lenettens, so daß er manchmal den geröteten Pfeifenansatz des Pelzstiefels zu einem Schreibkiel verschneiden wollte) – er wollte gern Teller in Nährmittel (es waren aber keine da) verwandeln und den Galliern nachschlagen, die ein rundes Stück Brot anfangs zum Teller, dann zum Nachessen verbrauchten, oder gar den Hunnen, die ihren Sattel von Fleisch, den sie gar ritten, nachher verspeiseten – seine Halbstiefeln mußten für das bevorstehende Schwenkschießen zum drittenmal vorgeschuhet und abbrevieret werden, und es war nichts dazu da als der Artist Fecht – er hatte an jenem großen Tage überhaupt nichts anzuziehen, nichts einzustecken und weder im Beutel etwas, noch im Kugelsack, noch im Pulverhorn...

Ein Mensch treibe nur absichtlich seine Angst aufs höchste: so fället der Trost plötzlich, wie ein warmer Regentropfen, vom Himmel in sein Herz. – Siebenkäs katechisierte sich jetzt schärfer, was ihn denn eigentlich peinige: nichts als die Furcht, auf dem Schießgraben ohne Geld, ohne Pulver und Blei und ohne die dritte Abbreviatur der Stiefeln zu erscheinen. »Weiter nichts?« antwortet' er. »Was will mich denn zwingen, überhaupt zu erscheinen? – Ich bin ja der Affe«, setzt' er hinzu, »der jammert, daß[213] er die mit Reis gefüllte Pfote nicht aus der enghalsigen Flasche ohne Korkzieher bringen kann – ich darf ja nur mein Schützenlos und meine Büchse verkaufen, ich darf ja nur die Pfote aufmachen und leer herausziehen.«

Er beschloß, am Auktiontage die Büchse zu holen und sie dem Proklamator und Friseur in die Versteigerung mitzugeben.

Er stieg, wundgedrückt vom Tage, ins Bette, auf dessen unbestürmten Ankerplatz er sich den ganzen Tag vertröstete: »Das Gute hat doch die Nacht an sich«, sagt' er, indem er darin sitzend die Federn gleich verbreitete, »daß sie den Menschen lichtfrei, holzfrei, kostfrei, zechfrei, kleiderfrei hält, nur ein Bette muß einer haben – ein Armer ist doch so lange glücklich, als er liegt, und zum Glücke steht er nur die Hälfte seines Lebens.« Die Ohnmachten der Seele oder des Frohsinns gleichen denen des Körpers, die nach Zimmermann65 aufhören, wenn der Kranke eine waagrechte Lage annimmt. –

Wär' am Bett ein Bettzopf gewesen: so hätt' ich diesen die Ankerwinde genannt, womit er sich am Montag langsam vom Ruheplatz in die Höhe drehte. Er stieg darauf zum Dachstuhl hinauf, wo in einer alten vernagelten langen Feldkiste seine Büchse gegen Mißbrauch verschlossen lag. Sie war ein kostbares Erbstück von seinem Vater, der Pikeur und Büchsenspanner bei einem großen Reichsfürsten gewesen. Er hob mit dem Baumheber, d.i. mit einem Eisenkloben, das Brett samt den Wurzeln d.h. Nägeln auf; – und das erste, was voran lag, war ein lederner Arm, der ihm ordentlich durch die Seele fuhr. Denn der Arm hatt' ihn sonst häufig ausgeprügelt.

Es wird mich nicht zu weit verschlagen, wenn ich nur ein einziges Wort darüber verliere. Diesen Parade-Arm hatte nämlich am Leibe, wie im Felde eines Wappens, Siebenkäsens Vater seit der Zeit geführet, daß er seinen wahren angebornen Arm in Kriegdiensten des gedachten großen Reichsfürsten zugesetzt hatte, der ihn sogleich zu einiger Belohnung als Büchsenspanner bei der Obrist-Jägermeisterei anstellte. Den adjungierten Arm trug der Büchsenspanner an einem Haken der linken Achsel,[214] mehr wie einen Rockelor-Ärmel oder verlängerten Hand- und Armschuh zur Zierde, als etwan wie einen Maulchristen von Parade-Arm. Bei der Erziehung aber tat ihm der lederne Arm die Dienste einer Schulbuchhandlung und Bibelanstalt und war der Kollaborator des fleischernen. Gemeine Fehler, z.B. wenn unser Firmian falsch multiplizierte – oder auf dem Hühnerhunde ritt oder Schießpulver aus Näscherei leckte – oder eine Tabakpfeife zerbrach, solche strafte der Büchsenspanner gelinde, nämlich bloß mit dem Stock, der überhaupt in guten Schulen an den Kinderrücken als Saftröhre und Stechheber aufläuft und solche mit wissenschaftlichem Nährsafte tränkt, oder der die Deichsel bleibt, woran ganze vorgespannte Winterschulen lustig ziehen. Aber zwei andere Fehler sucht' er ernsthafter heim. Wenn nämlich ein Kind unter dem Essen lachte, oder wenn es in den langen Tisch- und Abendgebeten stockte oder irrte: so amputierte er schnell mit dem angebornen Arm den erworbnen und schlug mit dieser Krieggurgel – sein eigner Ausdruck – seine lieben Kleinen entsetzlich. Firmian erinnerte sich noch recht gut, als wär' es ihm gestern begegnet, daß einmal er und seine Schwestern eine ganze halbe Stunde unter dem Essen von diesem Streitflegel alternierend gedroschen wurden, weil das eine zu lachen anfing, indem um das andere ernste dieser lange Muskel flatterte. Noch heute erbitterte das Leder sein Herz. Ich sehe recht gut den Nutzen ein, wenn Eltern und Lehrer es versuchen, mit dem organisierten Arm den leeren auszuhenken und vermittelst dieser Vereinigung und diesem Konkordat zwischen weltlichem und geistlichem Arm einen Zögling zu schlagen; aber nur muß es allezeit geschehen; über nichts ergrimmen Kinder mehr als über neue Marterinstrumente oder über einen neuen Spielraum der alten. Ein an Rückenstrafen und Lineale gewöhntes Kind darf nicht mit Ohrfeigen und nackten bloßen Händen angegriffen werden; ein an diese verwöhntes leidet wieder Lineale nicht. Der Verfasser dieser Blumenstücke wurde einmal in seinen frühern Jahren mit einem Pantoffel geworfen. – Die Narbe von diesem Wurfe bricht noch jetzt in seiner Seele auf, indes er ordentlicher Prügel sich nur schwach erinnert. –[215]

Siebenkäs zog den Zucht-Arm heraus und die Büchse dazu; aber welch ein Fund lag darunter! – Jetzo war ihm geholfen. Wenigstens konnt' er doch zu Andreas mitschießen in kürzern Stiefeln – und überhaupt konnte er doch einige Tage essen, was er wollte. – Was freilich ihn und mich bei der ganzen Sache am meisten erstaunen läßt (erklären lässet sichs aber immer), war bloß, daß er nicht eher daran gedacht hatte, da doch sein Vater ein Jäger war; wiewohl ich auf der andern Seite gern gestehe, daß dieser Tag nicht besser auserlesen sein konnte, weil in ihn gerade die Versteigerung fiel.

Der Knebelspieß – der Pferdeschwanz – der Vorlaß – das Fuchseisen – der Stoßdegen – die Hausapotheke und die Maske mit einem Halse, lauter Dinge, die er bisher in der Feldkiste nicht gesucht hatte, konnten ja den Augenblick hinabgetragen und aufs Rathaus geschoben werden, damit der frisierende Sachse sie losschlüge. –

Und das geschah auch. Er war nach langen Unglückfällen warm-durchfreuet über einen Zufall. Er zog der ganzen zur Versteigerung abgegangenen Kiste – bloß die lederne Schlag-Ader und die Büchse blieb zurück – selber nach, um zu hören, was man droben biete.

Er stellte sich zunächst an den hektischen Hausherrn hinter die Versteigertafel mit seinen zu langen Halbstiefeln. Das ganze gleichsam in einer Feuergefahr oder Plünderung zusammengeworfne Möbeln-Heergeräte, meistens verkauft von Verarmenden, meistens gekauft von Armen, machte seine Begriffe von Minute zu Minute immer kleiner von diesem zusammengesetzten Schöpf- und Pumpenwerk und überhaupt von der Maschinerie, welche den Springbrunnen einiger kleiner Lebenstrahlen im Springen und Glänzen erhält, und er selber, der Maschinenmeister, wurde immer männlicher. Es ärgerte ihn, daß sein Geist gestern ein unechter Edelstein gewesen, den ein Tropfen Scheidewasser verdunkelt und der Farbe beraubt; denn ein echter glänzet fort. – Nichts macht humoristischer und gegen die Ehre der Stände kälter, als wenn man die des seinigen vertauschen muß mit der Ehre der Person oder des Werts, und wenn man überhaupt[216] sein Inneres immer mit Philosophie gleichsam wie ein Diogenesfaß gegen äußere Verletzungen überziehen, oder wenn man, in einer schönern Metapher, wie die Perlenmuschel, die Löcher, welche Würmer in unsere Perlenmutter bohren, mit Perlen der Maximen vollschwitzen muß. – Inzwischen sind Perlen besser als eine unversehrte Perlenmutter; ein Gedanke, den ich mit Golddinte schreiben sollte.

Ich stelle so viele Philosophie mit gutem Grund voraus, weil ich den Leser dahin bringen will, daß er nicht zu viel Lärm über das erhebt, was der Armenadvokat jetzo – machen will, genau betrachtet einen unschuldigen Spaß, nämlich den, daß er – da ohnehin die gepuderte Lunge des Proklamators lieber keucht als schreiet – diesem Hammerherrn den Glockenhammer der Versteigerung abnimmt und alles selber versteigert. Er tats in der Tat nur eine halbe Stunde lang und noch dazu bei seiner eignen Ware; ja er hätte sich hier bedacht, das Hammerwerk zu pachten, hätt' es nicht seiner Seele so unbeschreiblich wohlgetan, den Pferdeschwanz, den Knebelspieß, den Vorlaß etc. in die Höhe zu heben und hämmernd auszurufen: »Vier Groschen auf den Pferdeschwanz zum erstenmal – fünf Kreuzer auf den Vorlaß zum zweitenmal – einen halben Ortstaler auf das Fuchseisen zum erstenmal – zwei Gulden auf den Stoßdegen zum dritten- und letztenmal.« Er tat, was ein Auktionator soll, er lobte die Ware; er blätterte vor den anwesenden Jägern (der Adler auf der Vogelstange hatte, wie Aas, entfernte hergelocket) den Pferdeschwanz auf, strich ihn nach dem Haar und wider das Haar und versicherte, er getrauete sich, mit den Schlingen davon die Dohnenschnait durch den Schwarzwald durchzuführen. Den Vorlaß setzt' er in sein Licht, er zeigte der Gesellschaft den hölzernen Schnabel, die Schwingen, die Fänge und den Überzug mit dem Federspiel und wünschte, es wär' ein Falke da, um das Luder auf den Vorlaß zu legen und ihn zu locken.

Die Rechnungen in seinem Haushaltkalender, die ich darüber wegen meines elenden Gedächtnisses zweimal nachgesehen, setzen die Summe, die er von den vielen gegenwärtigen Jägern erhob, auf 7 fl. frk. ohne die Groschen. Und dabei ist die Hausapotheke[217] und die langhälsige Maske nicht einmal gerechnet; denn diese mochte kein Mensch. – Zu Hause ließ er den ganzen Kronschatz und Tilgungfonds in den breiten Gold-Tornister Lenettens laufen, wobei er sie und sich vor den Gefahren eines großen Reichtums warnte und beiden die Exempel von übermütigen Begüterten vorhielt, so am Ende fallieren mußten.

– Im siebenten Kapitel, das ich sogleich anfangen werde, kann ich nach so viel tausend Hausplagen das gelehrte Deutschland endlich in den Schießgraben versetzen und ihm meinen Helden vorführen als ein löbliches Schützenmitglied, das Kugeln und Büchsen hat und das anständig – gekleidet weniger als – gestiefelt ist: denn jetzt werden Kugeln gegossen, Büchsen gescheuert, und Stiefeln ziehen Schuhe an. Fecht näht die dreiviertels Stiefeln auf seinem Knie zu halben um und besohlet sie mit dem – ledernen Arm, über den bisher Redens genug war. In meinen Tagen, wo man sogar Badinen (Stöckchen) von Leder trägt, als wären die welken Arme daraus, hätt' aus dem Jägerarm ein Stock in einem bessern Sinne gemacht werden können, wie man noch die Nashornfelle in Spazierstöcke zerschneidet.

61

Auf einer Schweinehaut mußte sonst der Jude mit nackten Füßen stehen und schwören.

62

Das Vieh darf am Schabbes gar nichts tragen; sogar die Läppchen der Unterscheidung werden den Hühnern abgenommen, so muß der Jude nur Unjuden melken lassen; nicht einmal Tau oder Staub darf er von sich ab kehren. Der Jude, oder altes und neues Judentum. B. 2. S. 481 etc.

63

Es ist Pflicht zweiter, verbesserter Auflagen, hier die Eßlust der Damen an Hoftafeln auszunehmen. Lange Sitzung, lange Weile, lange Gewohnheit und Tischgefälligkeit legen ihnen so viel in den Mund, als etwa der kantische Magen eines magern Philosophen vertrüge, aber kein Kurialmagen. Indes gehören eben Unverdaulichkeiten unter die Honneurs, welche Hofdamen zu machen haben.

64

Man muß gelesen haben, daß Prizelius Bataillenpferde an die trommelnde Schlacht so gewöhnt, daß er ihren Hafer auf die Trommel schüttet und auf deren zweitem Felle unten trommelt, während sie vom ersten das hüpfende Futter fressen.

65

Von der Erfahrung B. 1. p. 444.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 200-218.
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