10. Summula

[108] Mittags-Abenteuer


Gewöhnlich fand der Doktor in allen Wirtshäusern bessere Aufnahme als in denen, wo er schon einmal gewesen war. Nirgends[108] traf er aber auf eine so verzogne Empfangs-Physiognomie als bei der verwittibten, nett gekleideten Wirtin in St. Wolfgang, bei der er jetzt zum zwölften Male ausstieg. Das zweitemal, wo sie in der Halbtrauer um ihre eheliche Hälfte und in der halben Feiertags-Hoffnung auf eine neue ihrem medizinischen Gaste mit Klagen über Halsschmerzen sich genähert, hatte dieser freundlich sie in seiner Amtsprache gebeten: sie möge nur erst den Unterkiefer niederlassen, er wolle ihr in den Rachen sehen. Sie ging wütig-erhitzt und mit vergrößerten Halsschmerzen davon und sagte: »Sein Rachen mag selber einer sein; denn kein Mensch im Hause frißt Ungeziefer als Er.« Sie bezog sich auf sein erstes Dagewesensein. Er hatte nämlich, zufolge allgemein-bestätigter Erfahrungen und Beispiele, z.B. de la Landes und sogar der Demoiselle Schurmann – welche nur naturhistorischen Laien Neuigkeiten sein können –, im ganzen Wirtshause (dem Kellner schlich er deshalb in den Keller nach) umhergestöbert und – gewittert, um fette runde Spinnen zu erjagen, die für ihn (wie für das oben gedachte Paar) Landaustern und lebendige Bouillon-Kugeln waren, die er frisch aß. Ja er hatte sogar – um den allgemeinen Ekel des Wirtshauses, wo möglich, zurechtzuweisen – vor den Augen der Wirtin und der Aufwärter reife Kanker auf Semmelschnitte gestrichen und sie aufgegessen, indem er Stein und Bein dabei schwur – um mehr anzuködern –, sie schmeckten wie Haselnüsse.

Gleichwohl hatte er dadurch weit mehr den Abscheu als den Appetit in Betreff der Spinnen und Seiner-Selbst vermehrt, und zwar in solchem Grade, daß er selber der ganzen Wirtschaft als eine Kreuz-Spinne vorkam, und sie sich als seine Fliegen. Als er daher später einmal versuchte, dem Kellner nachzugehen, um unten aus den Kellerlöchern seine mensa ambulatoria, sein Kanarienfutter zu ziehen: so blickte ihn der Pursche mit fremdem, wie geliehenem Grimme an und sagte: »Fress' Er sich wo anders dick als im Keller!« –

Nichts bekümmerte ihn aber weniger als sauere Gesichter; der gesunde Sauerstoff, der den größeren Bestandteil seines in Worte gebrachten Atems ausmachte, hatte ihn daran gewöhnt.

Die Wirtin gab sich alle Mühe, unter dem frohen Gastmahle[109] ihn von Theoda und Nieß recht zu unterscheiden zu seinem Nachteile; er nahm die Unterscheidung sehr wohl auf und zeigte große Lust, nämlich Eßlust; und ließ, um weniger der Wirtin als seinen Leuten etwas zu schenken, diesen nichts geben als seine Tafelreste. Die Wirtin ließ er zusehen, wie er mit derselben Butter zugleich seine Brotscheiben und seine Stiefel-Glatzen bestrich, und wie er den Zuckerüberschuß zu sich steckte, unter dem Vorwande, er hole aus guten Gründen den Zucker erst hinter dem Kaffee nach im Wagen.

Dennoch schlug ihm eine feine Krieglist, von deren Beobachtung er durch Verhaßtwerden abzuziehen suchte, ganz fehl. Er hatte nämlich unter einer Winkeltreppe ein schätzbares Katzennest entdeckt, aus welchem er etwan einen oder zwei Nestlinge auszuheben gedachte, um sie abends im Nachtlager, wo er so wenig für die Wissenschaft zu tun wußte, aufzuschneiden, nachdem er vorher ihnen in der Tasche aus Mitleiden, zum Abwenden aller Kerkerfieber, die Köpfe einigemal um den Hals gedreht hätte. Es muß aber wohl von seinem eilften Besuche, wo die Wirtin gerade nach seiner Entfernung auch die Entfernung einer treuen Mutter mehrer Kätzchen wahrnahm, hergekommen sein, daß sie, überall von weiten ihn wie einen Schwanzstern beobachtend, gerade in der Minute ihm aufstoßen konnte, als er eben ein Kätzchen einsteckte. – »Hand davon, mein Herr!« – schrie sie – »nun wissen wir doch alle, wo voriges Jahr meine Kätzin geblieben – und ich war so dumm und sah das liebe Tier in Ihrer Tasche arbeiten – o Sie – –.« Den Beinamen verschluckte sie als Wirtin. Aber wahrhaft gefällig nahm er statt des Kätzchens ihre Hand und ging daran mit ihr in die Stube zurück. »Sie soll da besser von mir denken lernen«, sagte er. Und hier erzählt' er weitläuftig mit Berufen auf Theoda, daß er selber mehre Katzenmütter halte und solche, anstatt sie zu zerschneiden, väterlich pflege, damit er zur Ranzzeit gute starke Kater durch die in einer geräumigen Hühnersteige seufzenden Kätzinnen auf seinen Boden verlocke und diese Siegwarte neben den Klostergittern ihrer Nonnen in Teller- oder Fuchseisen zu fangen bekomme; denn er müsse als Professor durchaus solche Siegwarte, teils lebendig,[110] teils abgewürgt, für sein Messer suchen, da er ein für seine Wissenschaft vielleicht zu weiches Herz besitze, das keinen Hund totmachen könne, geschweige lebendig aufschneiden wie Katzen. Die Wirtin murmelte bloß: »Führt den Namen mit der Tat, ein wahrer abscheulicher Katzen-Berger und – Würger.« – Nieß fragte nicht viel darnach, sondern da das erste, was er an jedem Orte und Örtchen tat, war, nachzusehen, was von ihm da gelesen und gehalten wurde: so fand er zu seiner Freude nicht nur im elenden Leihbücher-Verzeichnis seine Werke, sondern auch in der Wirtsstube einige geliehene wirkliche. Sich gar nicht zu finden, drückt berühmte Männer stärker, als sie sagen wollen. Nieß erteilte seinen Leihwerken aus Liebe für den Wolfgangischen Leihbibliothekar auf der Stelle einen unbeschreiblichen Liebhaber-Wert (pretium affectionis) bloß dadurch, daß ers einem Voltaire, Diderot und D'Alembert gleichtat, indem er, wie sie, Noten in die Werke machte mit Namens-Unterschrift; – die künftige Entzückung darüber konnte er sich leicht denken.

Während Theoda zwischen dem Dichter und der Freundin hin- und herträumte: kam auf einmal der Mann der letzten, der arme Mehlhorn, matt herein, der nicht den Mut gehabt, seinen künftigen Gevatter um einen Kutschensitz anzusprechen. Der Zoller war zwar kein Mann von glänzendem Verstande – er traute seiner Frau einen größern zu –, und seine Ausgaben der Langenweile überstiegen weit seine Einnahme derselben; aber wer Langmut im Ertragen, Dienstfertigkeit und ein anspruchloses redliches Leben liebte, der sah in sein immer freudiges und freundliches Gesicht und fand dies alles mit Lust darin. Theoda lief auf ihm entzückt zu und fragte selbvergessen, wie es ihrer Freundin ergangen, als sei er später abgereiset. Er verzehrte ein dünnes Mittagmahl, wozu er die Hälfte mitgebracht: »Man muß wahrhaftig« – sagt' er sehr wahr – »sich recht zusammennehmen, wenn man noch zwei Stunden nach Huhl hat, und doch nachts wieder zu Hause sein will; es ist aber kostbares Wetter für Fußgänger.«

Theoda zog ihren Vater in ein Nebenzimmer und setzte alle weibliche Röst-, Schmelz- und Treibwerke in Gang, um ihn so[111] weit flüssig zu schmelzen, daß er den Zoller bis nach Huhl mit einsitzen ließ. Er schüttelte kaltblütig den Kopf und sagte, die Gevatterschaft fürchtend: »Auch nähm' ers am Ende gar für eine Gefälligkeit, die ich ihm etwa beweisen wollte.« Sie rief den Edelmann zum Bereden zu Hülfe; dieser brach – mehr aus Liebe für die Fürsprecherin – gar in theatralische Beredsamkeit aus und ließ in seinem Feuer sich von Katzenberger ganz ohne eines an sehen. Dem Doktor war nämlich nichts lieber, als wenn ihn jemand von irgendeinem Entschlusse mit tausend beweglichen Gründen abzubringen anstrebte; seiner eignen Unbeweglichkeit versichert, sah er mit desto mehr Genuß zu, wie der andere, jede Minute des Ja gewärtig, sich nutzlos abarbeitete. Ich versinnliche mir dies sehr, wenn ich mir einen umherreisenden Magnetiseur und unter dessen Händen das Gesicht eines an menschlichen Magnetismus ungläubigen Autors, z.B. Biesters, vorstelle, wie jener diesen immer ängstlicher in den Schlaf hineinzustreichen sucht, und wie der Bibliothekar Biester ihm unaufhörlich ein auf gewecktes Gesicht mit blickenden Augen still entgegenhält.

»Gern macht' ich selber«, sagte Nieß, »noch den kurzen Weg zu Fuß.« – »Und ich mit«, sagte Theoda. »O!« – sagte Nieß und drückte recht feurig die Katzenbergerische Hand – »ja es bleibt dabei, Väterchen, nicht?« – »Natürlich,« – versetzte letztes -»aber Sie können denken, wie richtig meine Gründe sein müssen, wenn sie sogar von Ihnen nicht überwogen werden.« Man schien auf seiten des Paars etwas betroffen; »auch möcht' ich den guten Umgelder ungern verspäten,« setzte der Doktor hinzu, »da wir erst nach dem Pferde-Füttern aufbrechen, er aber sogleich fort geht.«

Als sie sämtlich zurückkamen, stand der Mann schon freundlich da, mit seinem Abschiede reisefertig wartend. Theoda begleitete ihn hinaus und gab ihm hundert Grüße an die Freundin mit und den Schwur, daß sie schon diesen Abend das Tagebuch an sie anfange: »Konnt' ich für Sie gehen, guter Mann!« sagte sie; und er schied mit einem langen Dankpsalm, ohne sie sonderlich zu verstehen, so wie sie selber, setz' ich dazu, ebensowenig den Doktor. Sie wußt' es aus langer Erfahrung, daß er zudringende[112] Bitten gewöhnlich abschlug als Anfälle auf seine Freiheit; sie tat sie aber doch immer wieder und brachte vollends heute den Auxiliar-Poeten mit. Mehlhorn war ihm nicht am meisten als Gevatterbitter verdrießlich, sondern als eine Art Jaherr gegen die Frau und ein Ja-Knecht gegen alle Welt; schwachmütige Männer aber, sogar gutmütige, konnt' er nicht gut sich gegenüber sehen, besonders einen halben Tag lang auf dem Rücksitz.

Bald darauf, als die Pferde abgefüttert waren und die Gewinn- und Verlustrechnung abgetan, gab Katzenberger das Zeichen des Abschieds; – es bestand darin, daß er heimlich die Körke seiner bezahlten Flaschen einsteckte. Er führte Gründe für diese letzte Ziehung aus der Flasche an: »es sei erstlich ein Mann in Paris bloß dadurch ein Millionär geworden, daß er auf allen Kaffeehäusern sich auf ein stilles Korkziehen mit den Fingern gelegt, wobei er freilich mehr ans Stehlen gedacht als an erlaubtes Einstecken; zweitens sei jeder, der eine Flasche fodere, Herr über den Inhalt derselben, wozu der Stöpsel als dessen Anfang am ersten gehöre, den er mit seinem eigenen Korkzieher zerbohren oder auch ganz lassen und mitnehmen könne, als eine elende Kohle aus dem niedergebrannten Weinfeuer.« Darüber suchte Nieß zu lächeln ohne vielen Erfolg.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 108-113.
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