17. Summula

[177] Bloße Station


Ihr Wirtshaus war ein Posthaus, und zwar glücklicherweise für den Doktor. Denn während der Posthalter sich mit der Mißgeburt abgab: fand jener Gelegenheit, einen dicken unfrankierten Briefwürfel, an sich überschrieben, ungesehen einzustecken als Selb-Briefträger.

Nicht etwa, daß ers stehlen wollte – was er am liebsten getan hätte, wäre nicht der unschuldige Posthalter dadurch doppelt schuldig geworden, einmal an Ruf, dann an Geld –, sondern er nahms, um es ehrlich wieder hinzulegen, wenn ers mit zarter Hand aufgemacht, um zu erfahren, was darin sei, und ob der Bettel das Porto verlohne, oder ob er außen auf den Umschlag zu schreiben habe: retour, wird nicht angenommen. Vor der Nase des Briefträgers konnt' er nicht, ohne zu bezahlen, erbrechen; ob er gleich das Aufmachen, in der Hoffnung, einen recht gelehrten und bloß der Sicherheit wegen unfrankierten Brief zu gewinnen, selten lassen konnte. Indes der Schreck, daß er vor einigen Wochen eine schwere grobe Briefhülse und – schale aufgeknackt, woraus er für sein Geld nichts herauszuziehen bekommen als die grüne Nuß von einer Pränumerantenwerbung für einen Band poetischer Versuche samt einigen beigelegten, dieser Schreck fuhr ihm bei jedem neuen Briefquader in die Glieder. – Zum Unglück aber war in dem fein geöffneten Brieftestament dieses Mal eine herrliche Erbschaft von den wichtigsten, mit kleinster Schrift geschriebenen Bemerkungen über alle seine Werke, und zwar von Dr. Semmelmann, fürstlichem Leibarzt in Maulbronn. Auf der Stelle versiegelte er entzückt das Paket und legt' es auf den alten Platz zurück, um eine Viertelstunde darauf vor dem Posthalter sich anzustellen, als säh' er eben ein an sich[177] adressiertes Briefschreiben, das er sofort auslösen und bezahlen wolle.

Aber der kurzstirnige Posthalter gabs durchaus nicht her, »er halt' es als Posthalter postfest,« sagte er, »bis auf die Station, und da könn' es der Herr selber holen, wenn er keine posträuberische Absichten habe, was ein Posthalter nicht riechen könne.« Nie bereute Katzenberger seine Ehrlichkeit aufrichtiger als dieses Mal; aber in die dicke Kurzstirn war kein Licht und kein Blitz und kein Donnerkeil zu treiben; und Katzenberger hatte von seinem Wünschen nichts weiter, als daß der Posthalter, über ein so unsinniges Ansinnen erbittert, ihm die Zeche verdoppelt anschrieb, und er selber zwischen Fortreisen nach Maulbronn und zwischen Umkehren, dem Semmelmannschen Pakete hintennach, ins Schwanken geriet.

Im ganzen bewahrte Katzenberger sich durch einen gewissen Egoismus vor allem Nepotismus. Eigentlich ist jede Menschenliebe, sobald sie auf besonderes Beglücken, nicht auf ruhiges Liebhaben anderer ausgeht, vom Nepotismus wenig unterschieden, da alle Menschen ja, von Adam her, Verwandte sind. Daher auch Männer in hohen Posten den Schein eines solchen Nepotismus gegen adamitische Verwandte so sehr fliehen. Übrigens lässet gerade diese Verwandtschaft von Jahr zu Jahr mehr ruhige kalte Behandlung der Menschen hoffen; denn mit jedem Jahrhundert, das uns weiter von Adam entfernt, werden die Menschen weitläuftigere Anverwandte von einander und am Ende nur kahle Namenvettern, so daß man zuletzt nichts mehr zu lieben und zu versorgen braucht als nur sich.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 177-178.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Dr. Katzenbergers Badereise
Dr. Katzenbergers Badereise
Dr. Katzenbergers Badereise
Dr. Katzenbergers Badereise
Romantiker. 7 Bde. Lebensansichten des Katers Murr. Dr. Katzenbergers Badereise. Gedichte Novellen Märchen. Erzählende Dichtungen
Dr. Katzenbergers Badereise: Erzählung mit einem Vorwort von Ulrich Holbein.