29. Hundposttag

[967] Bekehrung – Billetdoux der Uhr – Florhut


Des Morgens ging Klotilde nach ihrer Pappelinsel ab, und mittags Viktor nach seinem pontinischen Sumpf-beide mit einer Entfernung zufrieden, die sie würdig machte, eine Vereinigung zu genießen.

Das erste, was der Hofmedikus in Flachsenfingen vornahm, war – daß er nachsann oder vielmehr nachempfand. Der Mensch ist der Doppelspat der Zeit, der alle Szenen zweimal nebeneinander zeigt. Die Erinnerung fing in ihrem Spiegel noch einmal den Mondschein der letzten Nacht und die Engel auf, die darin schwebten, und kehrte den Spiegel mit diesem Schimmer, mit dieser Perspektive meinem Viktor zu. Er überdachte Klotildens bisheriges Betragen, aus dem er – und ich hoffe, mein Leser – die Züge der reinsten Liebe, die nur mit einem Auge aus dem Schleier blickt, neben den Zügen einer entschiedenen Herrschaft der weiblichen Gefühle über die weiblichen Wünsche entdeckte. Sie kömmt den ersten Mai aus Maienthal mit einem weinenden Herzen, das, von einer Toten abgerissen, offen noch fortblutet. – Der Schüler Emanuels begegnet ihr, und sie eilet wieder zum Grabe zurück, um dort mit den Tränen der Trauer ihre erste Liebe auszulöschen. – Aber Emanuel teilet dieser Liebe sein heiliges Feuer mit durch die seinige, durch sein Lob des Geliebten, durch den offnen Brief voll keimender Liebe, den dieser am Geburtfeste des 4ten Maies an ihn geschrieben. – Sie kehrt ungeheilet gegen die Zeit seiner nahen Abreise zurück. – Aber ihr guter Emanuel drückt freundschaftlich-grausam das Bild, das ihr das Herz zu enge macht, tiefer in die Wunden desselben hinein, indem er ihr Viktors Leben in Maienthal und dessen Geständnis berichtet, daß er sie liebe. – Viktor schweigt vor ihr, aber sie glaubt, er tu' es, weil er von seinem Vater keine Erlaubnis habe, mit ihr über Flamins Verwandtschaft zu reden. – Er geht an den Hof und scheint sie zu vergessen, ja er legt ihr die Ketten des Hofamts um, die doch, wie er weiß, ihre Seele blutig drücken. – Ihre Eltern nötigen ihr, um[967] sie auszuforschen oder um ihrem geheimen Werber Matthieu mit ihrer weiblichen Verschleierung zu schmeicheln, durch eine tyrannische Frage das unglückliche Nein ab, das ihren Bruder täuscht und ihren Freund entfernt – Viktor weicht an ihrem Festabende aus dem Garten, ohne sie anzureden, besucht darauf ihre Eltern wieder und ist ganz erkaltet. – Nun hört sie nichts mehr von ihm als höchstens Berichte seiner höfischen Freuden und seiner Besuche bei Joachimen – – – Ja, du Gute, so mußten ja im Kampfe mit Wünschen und mit Sorgen, im kranken Lechzen nach der geliebten Seele alle deine Freuden einschlafen und deine Hoffnungen aussterben und deine unschuldigen Wangen erblassen. – – Da nun Viktor so diese trübe Vergangenheit durchdachte und sich erinnerte, wie ihr im Schauspielhause, wo er ihr seine Wissenschaft um ihre Verschwisterung zeigte, die letzte Blüte der Wange, der letzte Zweig der Hoffnung wegbrach, weil sie sein bisheriges Schweigen für ein von seinem Vater befohlnes halten konnte – und da alle diese Züge in eine Himmelkönigin zusammenliefen, vor welcher das Niederknien leichter als das Umarmen ist – und da er weiter bedachte, daß dieses edle, von einem Emanuel verschönerte und eines Emanuels würdige Herz sich doch mit allen seinen Himmeln dem wankelmütigen Herzen des Schülers ergab – und daß der Guten nicht einmal dieser bescheidne Wunsch gelang, weil das Schicksal die Blüte ihrer Liebe wie die einer Rosenstaude aufschob durch Verpflanzung, durch Setzen in Schatten, durch Beschneiden der Knospen im Frühjahr und Herbst – und da er sah, daß gleichwohl diese Edle mit dem Finger auf dem Munde, mit der Hand auf dem trüben Herzen, ohne einen Wink ihres Grams geschieden wäre nach Maienthal, und daß die moralische Kälte diese Blume, wie die physische andere Blumen, erhob, aber ihr dadurch die Wurzeln des Lebensabriß – und da endlich sein Traum am dritten Osterfeiertag, wo ihm vorkam, als säh' er sie auf einem lichten Nebel singend aus der Erde steigen, wie eine große Regenwolke vorüberging, und der Traum mit ihren erblaßten Farben vor seiner schmachtenden Seele stille stand, und eine Stimme aus dem Traum ihn fragte: »Wirst du sie lange lieben, da sich Engel nach ihr sehnen und sie aus dem Kummer[968] heben und dir nichts lassen als das Grab des zu lang verkannten Herzens?«- – da alle diese Gedanken glühend und aneinandergereihet wie Hügelketten von roten Abendwolken um seine Seele zogen: so wurde sein Herz wie ein Altar durch ein vom Himmel fallendes Opferfeuer bedeckt, und alle seine erdigen Lüste, alle seine Flecken vergingen in diesem Feuer – kurz, er beschloß, sich zu bessern, um durch Tugend würdig zu sein einer Tugendhaften.

Er bekehrte sich den 3ten April 1793 gegen Abend, als der Mond – und die Erde – unter seinen Füßen im Nadir waren. –

Der Leser kann über diesen Chronometer gelacht haben; aber jeder Mensch, an dem die Tugend etwas Höheres ist als ein zufälliger Wasserast und Holztrieb, muß die Stunde sagen können, worin jene die Hamadryade seines Innern wurde – welches die Theologen Bekehrung und die Herrnhuter Durchbruch nennen. Wie soll die Zeit nicht unsre geistigen Empfindungen abmarken, da ja bloß diese jene abstecken?

Es gibt – oder kommt – in jedem mehr solarischen als planetarischen Menschen eine hohe Stunde, wo sich sein Herz unter gewaltsamen Bewegungen und schmerzlichen Losreißungen endlich durch eine Erhebung plötzlich umwendet gegen die Tugend, in jenem unbegreiflichen Übergang, wie der ist, wenn sich der Mensch von einem Glaubenssystem auf einmal zum andern, oder vom höchsten Punkte des Grolls schnell zu einer zerschmelzenden Vergebung aller Fehler hinüberhebt – jene hohe Stunde, die Geburtstunde des tugendhaften Lebens, ist auch die süßeste desselben, weil dem Menschen ist, als wäre ihm der drückende Körper abgenommen, weil er die Wonne genießet, keine Widersprüche in sich zu fühlen, weil alle seine Ketten fallen, weil er nichts mehr fürchtet im schauerlich-erhabnen All. – Der Anblick ist groß, wenn der Engel im Menschen geboren wird, wenn alsdann am Horizont der Erde die zweite Welt aufsteigt und wenn die ganze Sonnenwärme der Tugend auf das Herz nicht mehr durch Wolken fällt. –

Aber der arme Mensch, der gebundne, in Blut versunkne, von Fleisch umfaßte Mensch empfindet bald den Unterschied zwischen seinen Entzückungen und seinen Kräften; er, der das gelobte[969] Land erkämpfen wollte, da ihm die Trauben desselben entgegenkamen, stockt, wenn er gegen dessen Riesen ziehen soll (gegen die Leidenschaften). Gleichwohl verwerf' ich nicht einmal die Übertreibung jenes Enthusiasmus; der Mensch muß wie Gebäude in die Höhe geschraubt werden, damit er umgebauet werde; ein Syllogismus gräbt die Blutströme unserer Begierden nicht ab. Es ist sonderbar, daß der Teufel in uns allein das Recht haben soll, das Blut, die Nerven, die Getränke, die Leidenschaften zu seinen Kriegsoperationen und für seine Reichskasse zu verwenden, der Engel aber nicht...

Indessen ists so: die Menschen sind lasterhaft, weil sie die Tugend für zu schwer ansehen, und sie werden es wieder, weil sie sie für zu leicht hielten. Nicht die Vernunft (d.h. das Gewissen) macht uns gut, sie ist der ausgestreckte hölzerne Arm am Wege der Tugend; aber dieser Arm kann uns weder hintragen noch hindrängen – die Vernunft hat die gesetzgebende, nicht die ausübende Gewalt. Die Kraft, diese Befehle zu lieben, die noch größere, sich ihnen zu ergeben, ist ein zweites Gewissen neben dem ersten; und wie Kant nicht das mit Dinte anzeichnen kann, was den Menschen schlimm macht, so ist auch das nicht darzustellen, was sein Herz über dem moralischen Kote aufrecht erhält oder aus diesem emporzieht.

Wer erklärt es, wenn es Menschen gibt, die von Jugend auf ein gewisses Gefühl von Ehre entweder besitzen oder entbehren im weiblichen Geschlecht ist diese Abteilung noch schroffer und wichtiger –, wenn es Menschen gibt, die von Jugend auf eine gewisse Sehnsucht nach dem Überirdischen, nach der Religion, nach dem Edleren im Menschen (und nach Systemen, die dieses Edlere besiegeln und nicht bestreiten) entweder empfinden oder ewig entraten? – – (Bei Kindern ist warmes Gefühl für die Religion oft ein Zeichen des Genies.) Der Mensch wird nicht gut (obwohl besser), weil er sich bekehrt, sondern er bekehrt sich, weil er gut ist.

Wäre die Tugend nichts wie Stoizismus: so wäre sie ein bloßes Kind der Vernunft, deren Pflegetochter sie höchstens ist. Der Stoizismus stellt die Tugend so nützlich, so vernünftig dar, daß[970] sie nichts weiter ist als ein Schluß; man hat bei ihr nichts zu überwinden als Irrtümer. Da sie (nach ihm) nicht das höchste, sondern das einzige Gut ist; da alle Begierden nach ihm auf ein leeres Nichts losgehen: so ist Tugend kein Verdienst, sondern eine Notwendigkeit. Z.B. wenn es nichts Hassenswertes gibt: so ist der Sieg über den Zorn und die Liebe gegen den Feind nicht schwerer oder verdienstlicher als die gegen den Freund, sondern einerlei.

Was hat denn der Stoiker der Tugend nach seiner Meinung aufzuopfern als Vexiergüter, Luftschlösser und Fieberbilder? – Gleichwohl tut der Stoizismus der Tugend, wie die Kritik dem Genie, negative Dienste; die stoische Erkältung treibt keinen Frühling her aus, aber sie richtet die Insekten hin, die ihn zernagen; der stoische Winter nimmt, wie der physische, die Pest hinweg, eh' die wärmern Monate kommen, die neues Leben reichen....

Obgleich Viktor sagte: »Du Teure, kein Herz kann rein, still, zart und groß genug für deines sein, aber das schwache, das du erduldest, wird an deinem sich heiligen und kömmt gebessert zu dir«: so war doch nicht die bloße Liebe die Quelle seiner Tugend, sondern umgekehrt konnte nur Tugend sich durch eine solche Liebe offenbaren. Aber auch ohne das wird eine halb eigennützige Sinnänderung durch Handeln zur uneigennützigen, wie die Liebe, die von der Schönheit des Gesichts anfängt, sich zuletzt in Liebe für Schönheit der Seele veredelt.

Die Absonderung von Klotilden gab ihm durch den Gedanken Freude, daß er während derselben die eifersüchtigen Irrtümer ihres Bruders schone. Die Gesamtliebe rückte jetzt der Freundschaft gegen die bessern Weiber zu, und der Toleranz gegen die schlimmern. Er hob seine satirische Intoleranz – die aber nicht halb so groß war wie die junger schriftstellerischer Spaßvögel – durch eigne Toleranzmandate auf. Er las Gullivers letzte Reise ins Pferdeland als Rezept gegen Lügen, wenn man an den Hof geht. Sein Kubach und Schatzkästlein und sein collegium pietatis bestand aus drei unähnlichen Bänden: Kant, Jacobi und Epiktet.

Ich wollt' aber, er machte sich nicht lächerlich. Von einem Manne, der neun Monate am Hofe gewesen, war man schon zu[971] erwarten berechtigt, daß er sich anders benehmen und gegen jene Gleichheit der Stände und der Laster nicht verstoßen werde, da die Menschen die Sünden am besten gemeinschaftlich verüben, wie in den schweizerischen Kirchen die Zuhörer gemeinschaftlich husten müssen oder die Rekruten eines Transports zugleich pissen. Wenigstens sucht der Mann von Lebensart seine Liebe gegen seine Religion so gut zu verbergen wie die gegen seine Frau. – Ich komme wieder zur Historie:

Viktor beschloß nun, lauter Besuche zu machen, die ihn ärgerten und dem Nächsten gefielen. Der nächste war eine außerordentliche Steuer von Besuch bei der Fürstin (denn seine tägliche Prinzessinsteuer bei ihr hörte nun auf). Freilich wurde die dicke Stunden-Uhr des alten Zeidler Linds jede Minute ein Wecker, der ihm seine vorigen tollkühnen Scherze, seinen Uhr-Einschluß und Liebebrief an Agnola vorhielt. Ich kann mich der Sorge nicht erwehren, daß die Leser ausglitschen und sichs nicht träumen lassen, mit welchem Herzen Sebastian zur Fürstin ging: o! mit einem voll stummer Abbitten und – Lossprechungen, mit einer ausgedehnten Brust voll stolzer Zuversicht und doch voll teilnehmender Milde. Woher kam das? – Aus der schönen Seele kam es, die jetzt, von fremder Liebe ausgesöhnt und ausgefüllt, nichts mehr wünschen konnte als Freundschaft, und die nun zu glücklich war, um nicht versöhnlich zu sein. Aber er fand zwei kalte raffinierte Gesichter bei ihr, denen ebenso schwer abzubitten als zu vergeben ist – nämlich ihr eignes und das des Grafen von O aus Kussewitz, bei welchem ihre Übergabe geschehen war. Viktor errötete; der Graf schien ihn gar nicht zu kennen – sie wurden einander nicht vorgestellt – sprachen aber zusammen so teilnehmend, als wenn sie es wären (zumal da es keinen Unterschied machte) – und so ging man mit kühlen Gefühlen und mit der größten Gleichgültigkeit gegen eigne und fremde Anonymität hofmäßig auseinander. Bloß Viktor ängstigte sich nachher mit Zweifeln, ob er nicht früher als Agnola den unbekannten Grafen einen Grafen genannt.

Übrigens fand er erst jetzt, seitdem er Klotilden lichte, die Scheidewand zwischen Liebe und Freundschaft mit Weibern recht [972] sichtbar und dick: vorher konnt' er durch die Scheidewand gut hindurchsehen. Eine Frau kann sich keinen festern und reinern Freund erwählen als den Liebhaber einer andern.

Viktor mußte nun auch, und noch dringender, zu Joachimen gehen. Der böse Geist, der im Menschen allzeit wie die jüngsten Räte zuerst stimmt, machte die Motion: »er solle Joachimen den kleinen Irrwahn, daß er sie liebe, lassen« – als dies nicht durchging, nahm der Filou eine andere Stimme an und schlug damit vor: »er sollte sie für ihre bisherige Zweideutigkeit durch die deutlichsten Zeichen seines Hasses strafen«. – Aber er ging willig dem guten Geiste nach, der ihn an der Hand führte und unterweges sagte: »Gehe jetzt zu ihr – ziehe dich von ihr ohne ihre Schmerzen los – deine Hand gleite allmählich aus ihrer und räume einen Finger nach dem andern, wie es Mädchen mit ihrer physischen machen, und stelle dich weder als ihren Feind noch als ihren Liebhaber an.« Er ging ohne allen Eigennutz hin; denn letzter wäre eher gewesen, zu Hause zu bleiben und die Vergangenheit und Zukunft zu genießen und durchzublättern, oder auch aus dem Hause zu gehen nach St. Lüne, um sich zu Agathen neben den Florhut Klotildens, den sie studierte, zu setzen.

Um aber seinem Besuche nicht zu vieles Gewicht in den Augen Joachimens zu lassen, nahm er sich vor, sie um die Prospekte von Maienthal, die in ihrem Zimmer hingen, anzugehen auf einige Wochen. O Maienthal, wie viel hast du, wenn schon dein Schattenriß so glücklich macht! – Aber sein Besuch lief sonderbar ab. Er wünschte unterweges, in ihrem Toilettenzimmer wäre der feine Narr und der wohlriechende und mehr Zeug – es war nichts da. Sie nahm ihn mit einer sorglosen Lustigkeit auf, als wäre sie die Kolombine und der Medikus der Pickelhering. Er wollte aber bloß das allmähliche Abschwächen oder diminuendo seiner moralischen Dissonanzen ausführen; daher wurd' er durch das ewige Hinsehen auf seinen Notenpult und auf die Partitur seiner innern Harmonie etwas steif und ungelenk in seinem Spiel. Weiber unterscheiden leicht Kälte der Vernunft (schon am Mangel der Übertreibung) von Kälte der Laune. Jetzt verlangte er die Prospekte. Joachime wurde nicht kälter, sondern warm, d.h. ernsthaft, und[973] hob in der hohlen Hand ihre Uhr empor und sagte, darauf blickend: »Ich geb' Ihnen so viele Minuten Frist, als Sie Tage weggeblieben sind, um das Wegbleiben zu entschuldigen.« – Viktor nahm ohne Verlegenheit – wie jeder, der nur nach einem entweder guten oder bösen Grundsatz handelt – die Bestimm-Frist an und hob die montre à regulateur unter dem Spiegel aus, um nicht von Joachimen betrogen zu werden. Diese verdammte Uhr der Fürstin grinste ihn überall an, wie eine Druckkugel und Pulvermine unter seinen Füßen. Er zog sie auf, um dieses nürnbergische Ei (wie man sonst die Uhren nannte) aufzumachen und endlich einmal nachzusehen, ob die Lieberklärung, d.h. das punctum saliens der Liebe oder der Amor – der nach Plato auch aus einem Ei auskam –, noch darin sei. »Ich weiß schon,« sagt' er zu sich, »es ist längst heraus, aber ich probier's nur.«

Es wäre überhaupt die Frage gewesen, obs dieselbe Uhr war, da die in Tostatos Bude keine Brillanten hatte – wenn nicht aus dieser Pandorabüchse, sobald er sie am Fenster aufgeschlossen hatte, hervorgeflattert wäre ein dünnes Blättchen, halb so groß wie ein Schmetterlingflügel, so lang wie ein Tulpenstaubfaden. Die kleine Folie nahm vor jedem Lüftchen die Flucht. – – Joachime fing das Ding – las das Ding – fand die Lieberklärung noch darauf – hielt sie für eine, die er ihr selber eben mache, um seine Abwesenheit auszusöhnen, und die er der Uhr Witzes halber (er konnte auf ihre Herz-Gestalt anspielen) einverleiben wollen...

Jeder kann denken, wie ihm bei der Sache war. – Recht wohl wär' ihm dabei gewesen, wenn er hätte entsetzlich lügen dürfen oder wenn er nur wenigstens den wenigen Hof-Leuten hätte nachschlagen dürfen, die unter die 28 Pfund Blut, die ihren Körper wässern, nicht 28 ehrliche Bluttropfen – ein einziger kann, wie ein liquor probatorius, in der übrigen Masse verdammte Niederschläge nachlassen – geschüttet haben. Aber seine Seele ekelte der neue Köder zur Lüge. Der Leser kann gar noch nicht wissen, daß Viktor fehlschoß, – daß er nämlich (wegen der Entlegenheit von Joachimens Argwohn) auf diesen gar nicht kam, sondern auf den nähern, Joachime habe jetzt seinen ganzen närrischen Streich gegen die Fürstin heraus. Er war niemals fähig, einen fremden[974] Leichnam als Schild den Pfeilschüssen gegen seinen eignen vorzuhalten – eine Sitte auf dem Hof-Moria, die nicht wie die alttestamentliche einen Isaak mit einem Widder löset, sondern einen Widder mit einem Isaak – er war heute am wenigsten fähig, die Fürstin preiszugeben, um sich zu retten; aber auch nicht einmal das vermocht' er, Joachimen preiszugeben, um jene zu retten, d.h. den Teufelzettel zu einem Süßbriefchen an Joachimen umzumünzen. Der Satan schrie sich in ihm heiser, um ihn nur so weit zu bringen, daß er wenigstens durch schweigende Gebärde löge und die ihrige rechtfertigte, worin der Schein immer mehr abnahm, als glaubte sie es an eine fremde Dame gerichtet.

Er sagte ihr frei heraus, was er sei – ein Narr. Er erzählte den ganzen Handel in Kussewitz. Er schloß damit, es sei ein Glück für ihn, daß die Fürstin das tolle Einschiebsel der Uhr gar nicht aufgestöbert habe.... Da er nun dieses eintönig vorsang ohne eine einzige Schmeichelei, aus der etwan eine neue verbesserte Auflage des Einschiebsels zu machen gewesen wäre: so war er so glücklich, bei seinem Abschiede die belehrte Joachime in einem Zustand zu hinterlassen, der sich nach solchen magnetischen Handhabungen bei gebildeten Weibern in einer schönen stolzen Erhebung und bei ungebildeten in den Versuchen äußert, an den Mann die bildende letzte Hand gerade so zu legen, wie sie die griechischen Künstler an ihre Modelle legten – – nämlich mit den Nägeln der letzten Hand. Viktor zog mit zweierlei sehr verschiedenen Prospekten ab, mit denen der Zukunft und mit den maienthalischen. –

Sie behielt das Blättchen. Aber nicht die Furcht, sondern das herbe Gefühl, daß seine bisherigen Torheiten sich bloß in einem fremden Herzen mit einer fehlgeschlagnen Hoffnung endeten, floß mit einigen bittern Tropfen in die süße verjüngende Empfindung, daß er auf seine Kosten recht gehandelt habe. Eine Rührung, eine Träne ist ein Schwur vor dem Himmel, gut zu werden; – aber eine einzige Aufopferung stählet dich mehr als fünf Bußtränen und zehn Bußpredigten.

Ich habe nicht den Mut es zu erraten, warum die Fürstin die Uhr mit dem Einschlusse, den sie (schon nach dem Gespräch mit[975] Tostato) gelesen haben muß, Joachimen in die Hände gegeben; aber für die argwöhnischen Spitzbuben, deren ich im Kapitel ihres Augenverbandes und Kusses gedacht, ist das ein Fund; das Geschenk der Uhr bestätigt sie ganz in ihrem spitzbübischen Glaubensatz; denn sie können – ich setze mich vergeblich dagegen – das Geschenk für ein Zeichen der italienischen Rache ausgeben, die Agnola an der Nebenbuhlerin Joachime, der sie Viktors Widerstand zuschreiben mußte, dadurch habe nehmen wollen, daß sie ihr seine anderweitigen Lieberklärungen mitgeteilt.

Viktor nahm sich, indem er zu Hause die größten physischen Schritte machte, vor, ähnliche politische zu tun und geradezu dem Fürsten zu bekennen: »Es ist nicht viel über neun Monate, daß ich Höchstderoselben Braut mit einer schmalen Lieberklärung behelligt habe, die sie gar noch nicht kann gelesen haben und die nun aus einer Hand in die andre geht.« Aber jetzo war die Eröffnung der Uhrbrieftasche nicht tulich: Jenner war durch die Entfernung Klotildens ein wenig verdrüßlich; Viktor war seit einiger Zeit auch weniger um ihn als sonst, wie doch ein rechtschaffener Günstling nicht sollte, da z.B. der berühmte Graf von Brühl wie eine Mutter von Morgen bis Mitternacht seinen Herrn umwachte. Jenner schien in dieser Einsamkeit mehr an seine Kinder zu denken, und Viktor konnte ihm keine Nachrichten vom Lord erteilen. Die Hauptsache war vollends seine Frühlingkränklichkeit, die ihn wieder zum gläubigen Jünger des Doktor Kuhlpeppers und des Podagra machte. Dieser Doktor-Rumpf unter einem Doktorhute, dessen Gehirnfibern zu Baßsaiten gezwirnt waren, versteigerte seine Einfältigkeiten bloß durch die ernsthafte Schwerfälligkeit, womit er ihrer los wurde, über den Preis; von gewissen Personen, z.B. von Ärzten, von Finanz-Rechnern, von ökonomischen Geschäftträgern, fodern sogar Leute von feinen Sitten steife und halten sich an eine Zipfelperücke lieber als an einen Haarbeutel von Schnallengröße oder an einen Tituskopf. Sebastian kam den Leuten viel zu spaßhaft vor, als daß sie hätten denken können, er habe was gelernt. Im Punkte der Ärzte – wie in jedem Hauptpunkte des Vermögens oder des Lebens – denket der vornehmste Pöbel wie der niedrigste und schätzet Männer[976] und Schoßhunde nach äußerer zottiger Wildnis. Noch dazu hatte Viktor den Fehler, sich und die Ärzte in den Verdacht der Ruhmsucht zu bringen, indem er sie geradezu lobte: z.B. »sie wären bei ihrem Matrosen- und Toten-Pressen eine Art Seelenverkäufer für die andre Welt und dienten den guten Engeln, die den Kern ohne die Körperschale begehrten, um ihn weiter zu stecken, zu Nußknackern; – wie oft heben wir nicht« (fuhr er fort) »die gefährlichsten Krankheitversetzungen durch eine leichte Krankenversetzung! Ich könnte mich auf die refugiés aus dieser Welt berufen, ob unser Streu- und Dintenfaß (das Geräte unserer Rezepte) nicht die Säemaschine und Gießkanne der menschlichen Wintersaat waren; aber die Hinterbliebnen sollen reden und antworten, ob sie nicht die Pfründen, die Regimenter, die Lehngüter, die Ordenbänder, die ihnen zugefallen, unsern Rezepten und Uriasbriefen zu verdanken haben, und ob sie und sogar Könige im Trocknen säßen ohne unsere häufigen Abzuggräben im Kirchhof. – Und doch, dünkt mich, ist unser Ruhm im Heilen und Beleben ebenso groß, wo nicht größer: dieser Ruhm – so wie die Sterblichkeitlisten, worauf er sich stützt – ist seit vielen Jahrhunderten der nämliche geblieben, unsre Theorien, Spezifika, Einsichten mochten sich ändern, wie sie wollten.«..

Den Fürsten machten solche Satiren recht lustig und – ungläubig. Doktor Kuhlpepper hingegen hielt auf seine Würde und würde gegen einen Satirikus, der vom langsamen Dezimieren der Ärzte gesprochen hätte, seinen Degen gezogen und ihn durch ein schnelleres vollständig widerlegt haben. Ich rate jedem, der in der Welt etwas werden will (nämlich etwas anders), bei den Männern auszusehen wie ein Leichenbitter – bei den Weibern wie ein Gevatterbitter. – Der Fürst hielt sich im siechen Frühjahr aus zwei Gründen wieder vom Zipperlein besessen, erstlich weil ich noch keinen Nerven-Schwächling gekannt habe, der sich eine Krankheit, die ich ihm im Sommer ausgeredet hatte, nicht im nächsten kränklichen Winter wieder in den Kopf gesetzt hätte – zweitens weil Jenner nachgerechnet, daß er oft genug vor Damen auf die Knie gefallen war, um das Anbeten daran noch als Gonagra oder Kniegicht zu spüren.[977]

So stands, als ein kleiner Zufall unsern Viktor wieder glücklich machte. Ich muß nur vorher sagen, daß er ohnehin gar nicht unglücklich war; denn ein Liebhaber bekümmert sich um nichts, um einen Hof gar nicht; er hat Amors Binde um und verzeiht gern der Fortuna und der Justiz die ihrigen. Und das moralische Osterfeuer lösete – so wie Aberglaube dem physischen eine eigne Kraft beimisset – alles Eis, womit man Viktors Blut andämmte, in Freuden-Lymphe auf; der Osterwind – der nach den Wetterpropheten bis zu Pfingsten fortwehet – setzte seine alten Freudenblumen in Bewegung und säete aus ihnen den Samenstaub künftiger weiter; der Schnee zerging auf dem aus dem Winterschlafe erwachenden heißen Frühling, und die ersten Blumen und die tausend Knospen gaben allen Herzen Kräfte und Hoffnungen und Liebe. O wenn Viktor draußen dem grünenden Steige nachsah, der ihn mit frischen Saftfarben mitten aus der Grummetsteppe (denn im Frühling grünen die Fußwege zuerst) in das maienthalische Eden locken und tragen wollte; und wenn er dann glühend und dürstend umkehrte und in das gezeichnete Maienthal einlief, in die entlehnten Prospekte, und da jeden Farbenberg erstieg und jeden punktierten Garten umzingelte mit seinen Fingern und Phantasien: so dachte er selber nicht, daß ein kleiner Zufall ihn noch froher machen könnte. – Und doch machte ers ihn.

Es ist nicht wohlgetan von mir, daß ich das – und das hab' ich mir in dieser Lebensbeschreibung so sehr angewöhnt – immer einen Zufall nenne, was ein naher Blut-Urenkel voriger Kapitel ist und was ja kommen muß. Denn der Florhut- das war der Zufall – mußte ja kommen, weil er bestellt war. Es war aber das – Urbild selber. In so schmaler Zeit wäre ohnehin von der flinkesten Putz-Bauherrin kein Hut zu machen gewesen; aber Sebastian hätt' es doch nicht bedacht, wenn ihn nicht Puderspuren und aufgegangne Spitzen-Gitter gezwungen hätten, den alten Hut von einem neuen zu unterscheiden. Kurz: Klotilde hatte ihn Agathen, die es ihr nicht verschweigen konnte, für wen sie das Nachbild davon nehme, vor dem dritten Ostertage gegeben zum Abkopieren, und nach dem besagten Tage ihr geschrieben, ihr die Kopie[978] zu schicken und dem Medikus das Urbild für das Nachbild (wie bei der Wachsstatue) anzuhängen. – Und warum wohl? – O das fühlte ihr Freund in süßer Rührung nach: es dauerte sie, daß sie einem scheuen zärtlichen Herzen nichts geben konnte, keinen Laut, keinen Blick, keine Freude, kein Andenken des schönsten Abends, als bloß den herbstlichen Nachflor desselben, als nachgenähte Seidenblumen dieser Freudenblume, den Taftschatten eines Taftschattens.... Nein, sie bezwang sich, um dem stummen Liebling wenigstens mehr als die Kopie des Schattens zu geben. –

O vor wem das liebevolle zugedrückte Herz eines guten Weibes aufginge: wie viel bekämpfte Zärtlichkeit, verhüllte Aufopferungen und stumme Tugenden würd' er darin ruhen sehen!

– Man muß nur dem deutschen Reichstage und seinen Querbänken kein Geheimnis daraus machen, daß Viktor den neunten Kurhut, oder gar den achten und letzten, nicht annehmen will, wenn er dafür den Florhut abstehen soll.... Was können, sagte er, die plumpesten dicksten Kronen, die man mir auf meinen Reisen vorgezeigt, in der einen Schale wiegen – gesetzt man würfe auch noch einige Tiaren und Dogemützen mit Bügeln und päpstliche Hüte zu den Kronen hinein –, wenn auf der andern Klotildens Florhut zieht? Da der Leser ebensoviel Verstand hat wie ich selber: so entscheid' er hierauf. – Dieser Hut gab ihm ein unaussprechliches Sehnen nach Maienthal und war für ihn ein Dedikationkupfer, das ihm (wie durch eine investitura per pileum) Klotilden erst schenkte; er blieb vor dieser Krone als Kronerbe – jede Minute zog seinen Kronwagen – mit zwei großen Freudentropfen stehen, die das glückliche Auge nicht faßte, und sagte, langsam den Kopf wiegend: »Nein, das gütige Schicksal gibt mir zu viel – Ach wie kann ich diese Seele vom Himmel verdienen? – Ich werde bloß zu ihr sagen: ›Ich bin dein!‹ und spät einmal: ›Du bist mein!‹« Und als gar seine Phantasie hinter dem Flor-Gegitter die zwei großen Augen aufschloß, die sonst darunter die Tränen eines zurückgestoßenen Herzens verborgen hatten, und als er die entrückte Stimme wieder hinter diesem Sprachgitter aus Schattenfäden reden ließ: so konnt' er sich nicht mehr halten, sondern er schrieb – damit er nach Maienthal dürfe – dem Hute gegenüber den ersten[979] Brief an sie, den ich morgen abends gewiß mit der Post erhalten werde vom Hunde. –

Ich glaube, ich hab' es gar noch nicht gesagt, daß Agathe ihm den Hut auslieferte und daß sie ihn – es ist gegen das Ende des Aprils – auf den 4ten Mai zum Geburttag des Vaters einlud. Viktor dachte an den melancholischen 4ten Mai vom Jahre 92 und wurde noch sehnsüchtiger nach der entrissenen Freundin.

Eh' ich das Kapitel schließe, will ich nur den jüngern Klotilden, den Vize-Klotilden, den Kebs-Klotilden und den Gegen-Klotilden, die mich und meine Kapitel auf dem Schoße haben, das noch sagen: seid kalt! Ihr könnt die weibliche Tugend-Kälte gar nicht zu weit treiben, ihr müßtet ihr denn gar keine Grenzen stecken. – Ich will euretwegen diese Lehre in weise Sprüche und witzige Sentenzen kleiden, damit sie besser auf Fächer und in Stammbücher geht.

Die Liebe muß wie der Aurikelsame auf Schnee gesäet werden, beide wärmen sich durch das Eis schon durch und gehen dann desto frischer auf – Ihr müsset euch nie zu einem bloßen Geschenke machen, sondern zu einem Frauenzimmerdank der Ritter – Ihr erhaltet und verdient gerade so viel Achtung, als ihr fodert und ihr könnt, ihr mögt legiert sein, wie ihr wollt euren Münzstempel oder Prägstock aus der Tasche ziehen und euch damit prägen zu einem Damend'or für den einen Herrn und zu einem elenden Fettmännchen für den andern – Ein Wüstling zeigt in einer Gesellschaft wie ein Luftreinigkeitmesser durch die verschiedenen Grade seiner Kühnheit die verschiedenen Grade des weiblichen Verdienstes an, aber in umgekehrtem Verhältnis....

Sogar wenns nicht zum weiblichen Ehrenpunkte gehörte, müßte mans doch begehren, um nur eine Mühe mehr zu haben – weil mein Geschlecht hierüber völlig so denkt wie ich, der ich aus keinem Eidams-Werbehaus eine Tochter verlange, wo nicht wenigstens die Eltern etwas wider mich haben; – und es kann hiemit bekannt werden (ich lasse es deshalb nicht in die Zeitung setzen), daß ich mir von Eltern, die aus ihrem Versteigersaal voll Töchter, aus ihrem Liebes-Inokulationhospital eine oder die andre abstehen wollen, und denen ein Berghauptmann, Gerichthalter,[980] Musikmeister und Lebensbeschreiber – das mögen meine wenigen Ämter sein – keine zu verächtliche Partie ist, daß ich, sag' ich, von diesen Eltern erwarte, daß sie (wenn ihnen die Sache ein Ernst ist) mir wenigstens das Haus verbieten oder den häufigen Briefwechsel: – das frischet Schwiegersöhne an.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 967-981.
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