Fünfter Schalttag

[796] Fortsetzung des Registers der Extra-Schößlinge


K


Kälte. In unserm Zeitalter stehen Abnahme des Stoizismus und Wachstum des Egoismus hart nebeneinander; jener bedeckt seine Schätze und Keime mit Eis, dieser ist selber Eis. So nehmen im Physischen die Berge ab und die Gletscher zu.


L


Leihbibliothek für Rezensenten und Mädchen. Ich bin noch immer willens, es ins Intelligenzblatt der Literaturzeitung setzen zu lassen, daß ich den Kaufschilling, den ich für meinen Abendstern erhebe, nicht zerschlagen, noch wie Musäus zum Ankauf von Gartenhäusern zersplittern, sondern das ganze Kapital zu einer vollständigen Sammlung aller deutschen Vorreden und Titel, die von Messe zu Messe erscheinen, verwenden will. Ich kann dabei bestehen, wenn ich eine Vorrede wöchentlich für einen Pfennig Lesegeld an Rezensenten ausgebe, welche nicht gern das Buch selber lesen wollen, wenn sie es rezensieren. –

Damit mir nicht einmal der Überschuß des besagten Schlagschatzes als totes Kapital im Hause liegt: so sollen dafür – wenn ich mich nicht ändere – die schwerern deutschen Meisterwerke – z.B. Friedrich Jakobis, Klingers seine, Goethes Tasso –, desgleichen die bessern satirischen und philosophischen vom Buchbinder in einer leichtern Damenausgabe geliefert werden, die ganz aus sogenannten Vexierbänden, worinnen kein Unterziehbuch steckt, bestehen soll. Ich spiele damit, denk' ich, den Leserinnen etwas Kernhaftes in die Hände, das so gut gebunden und ebenso betitelt ist wie die Buchhändler-Ausgabe, und in das sie – weil das harte Steinobst schon ausgekernt und innen nichts ist – nicht nur ebensoviel, sondern sechs Lot mehr Seidenfaden und Seidenabschnitzel legen können als in die gedruckte Ausgabe. Allwills Briefwechsel – ein schweres zweidotteriges Straußenei des Autors,[796] das ich vom Buchbinder auf diese Weise habe ausblasen lassen, weil die meisten Leserinnen zu kalt sind, es auszubrüten – ist jetzo ganz leicht. Aber von den deutschen Romanen werd' ich niemals eine solche Futteral-Ausgabe von leeren Zeremonienwagen des Musen- und Sonnengottes veranstalten, weil ich befahre, der Buchhandel schreie über Nachdruck. – Ich wäre ein glücklicher Mann, wenn sich die Mitleserinnen meiner Leih-Kapselbibliothek nur zweimal in einigen italienischen und portugiesischen Büchereien hätten herumführen lassen; sie würden in diesen, wo oft nur die Titel der Werke – und noch dazu der dümmsten – an die Wand geschmieret sind, erstaunet sein, welche schlechte Figur solche unbrauchbare Bibliotheken neben meiner Bücherei von ordentlichen Vexierbüchern, die ich aus so vielen Fächern und mit einigem Eigensinn wähle, nicht anders als machen können. – So werden freilich deutsche Kapselleserinnen von euch Portugieserinnen nimmermehr eingeholet! Vielmehr kommen jene sogar den Männern, den Advokaten und Geschäftleuten nach, die ähnliche Kapsel-Journalistika mithalten und die Futterale der besten deutschen Journale – letztere werden oft als curiosa sogar den Kapseln angebogen und füttern diese aus – mitlesen und weitergeben.... Das ist mein Plan und Entwurf; Schafe aber würden mutmaßen, ich spaßte mich hier bloß herum, wenn ichs nicht wirklich durchsetzte.


M


Mädchen. Junge Mädchen sind wie junge Truthühner, die schlecht gedeihen, wenn man sie oft anrührt; und die Mütter halten diese weichen, aus Blumenstaub zusammengeflossenen Geschöpfe wie Pastellgemälde so lange unter Fensterglas – weil sich alles vor uns Prinzessinnenräubern und Obstdieben scheuet –, bis sie fixieret sind. Indessen ist weder Einsamkeit – welche nur zu einer ungeprüften Unschuld führt, die zwar nicht vor dem Wüstling, aber doch vor dem Heuchler fällt – die rechte Kronwache um ein weibliches Herz, noch Gesellschaft, noch Arbeitsamkeit – sonst sänke kein Landmädchen –, noch gute Lehren – denn diese sind in jedem Mund und in jeder Lesebibliothek zu haben –: sondern diese vier[797] ersten und letzten Dinge auf einmal tuns, die sich sämtlich entbehren, vereinigen und ersetzen lassen durch eine tugendhafte weise Mutter.


N


Namen der Großen50. Wenn ich so sehe, daß sie ihre außerehelichen Meß-Produkte, Gelegenheitschriften und pièces fugitives so namenlos, als wärens Rezensionen, verteilen: so sag' ich: »Hieran erkenn' ich echte Bescheidenheit.« Denn natürliche Kinder sind gerade ihre besten und ihre eignen und können noch dazu vom Fürsten für echt erklärt werden – indes ihre übernatürlichen in der Ehe das Echtmachen entbehren müssen –: und doch wollen sie der Welt den Namen des Wohltäters nicht wissen lassen, sondern schaffen ebensooft (ja öfter) heimlich Leute in sie hinein, als aus ihr hinaus. Was das Kind sonst zuerst aussprechen lernt, sagen ihm solche Eltern zuletzt – ihren Namen. Mich dünkt, sie folgen hierin Goethes feinem Ohre; denn sie verstecken sich selber ebenso – wenn sie das Orchester der Welt mit Kinderstimmen und mit vingt-quatre und mit Weck- und Repetierwerken (welche unähnliche Zusammenstellungen!) füllen –, wie Goethe vom spielenden Tonkünstler begehrt, daß er für die Ohren arbeite, aber zur Schonung der Augen sich selber verberge. Ebenso schön handeln sie, wenn sie ihre Kinder der 30sten Ehe am Ende (oft nach der 5- oder 20jährigen Verjährung) doch an Kindes Statt annehmen und der Welt zeigen und so den Zeisigen nachahmen, die, wie man sagt, ihrem Neste und dessen Insassen durch den sogenannten Zeisigstein so lange Unsichtbarkeit erteilen, bis sie flügge sind.


O


Ostrazismus. Er war bekanntlich bei den Griechen keine Strafe: nur Leute von großen Verdiensten errangen ihn, und sobald man diese Landesverweisung an schlechte Menschen verschwendete,[798] ging sie völlig ein. Beklagen muß es ein Reichsbürger, daß wir, da wir eine ähnliche öffentliche Erziehanstalt, nämlich die Landesverweisung, haben, diese oft an die allerelendesten Schelme verschleudern und daher – in der Absicht, einen Kreis oder ein Land zum Spucknapf und zum Absondergefäß des andern zu machen – Halunken aus dem Lande jagen, die kaum wert sind, daß sie darin bleiben. Dadurch wird der Gebieträumung das Ehrenhafte und Auszeichnende, was sie für den Mann von Verdiensten haben könnte, meist benommen, und ein ehrlicher Mann – z.B. Bahrdt – schämt sich beinahe, daß man ihn mit einer solchen Ehre nur belegt. Es sollte daher reichspolizeimäßig werden, daß nur Minister, Professoren und Offiziere von entschiedenem Werte, gleich wichtigen Akten, verschickt und verwiesen würden. Auf ähnliche Männer würd' ich auch das Henken einschränken: bei den Römern wurden wahrhaftig nur große Köpfe und Lichter auf Kosten eines ganzen Staats an den Weg beerdigt; was soll ich aber von den Deutschen denken, bei denen selten nützliche Staatsbürger – sondern meistens ausgemachte Spitzbuben – auf öffentliche Kosten, die man die Henkergelder nennt, begraben werden und vorher am Wege ausgehangen unter dem Galgen? – Nicht einmal bei Lebzeiten kann ein Mann, wenn er nicht außerordentliche und oft exzentrische Verdienste hat – wiewohl exzentrische Menschen in die Wahrheit, wie die Kometen in die Sonne, als Nährstoff zurückfallen –, sich darauf allemal Rechnung machen, daß er auf eine Art, wie die Alten ihre Edeln in Statuen und Bildern verdoppelten, in effigie zwischen dicken steinernen Rahmen werde aufgehangen werden.... Man antworte mir, ich lasse mit mir reden.


P


Philosophie. Einige kritische Philosophen haben jetzt aus der Algebra eine mathematische Methode entlehnt, ohne die man keine Minute philosophisch – nicht sowohl denken als – schreiben kann. Der Algebraist erhaschet durch das Versetzen bloßer Buchstaben Wahrheiten, die keine Schlußkette ausgraben konnte. Das tut der kritische Philosoph nach, aber mit größerem Vorteil. Da er nicht[799] Buchstaben, sondern ganze Kunstwörter geschickt untereinandermengt, so schäumen aus der Alliteration derselben Wahrheiten hervor, die er sich kaum hätte träumen lassen. Solchen Philosophen wird mit Recht wie den gothaischen Predigern (Goth. Landesordnung P. III. p.16.) verboten, Allegorien zu brauchen oder irgendeine Redeblume, die ihnen, wie den Leithunden andere Blumen, die Fährte verderben. – Eigentlich aber ist der Bilderstil bestimmter als der Kunstwörterstil, der zuletzt, da alle abstrakte Worte Bilder sind, ja auch ein Bilderstil ist, aber einer voll zerflossener entfärbter Bilder. Jakobi ist nicht dunkel durch seine Bilder, sondern durch die neuen Anschauungen, die er durch jene mit uns teilen will.

Ich habe neulich in den Geburttabellen der gelehrten und lehrenden Republik nachgesehen und die jungen Käntchen aufgezählt, die der alte Kant, sonst unverheiratet wie sein Vetter Newton, seit zehn Messen gezeugt hat. Demetrius Magnus, der ein Buch von den gleichnamigen Autoren machen wollte, müßte sehr dumm gewesen sein, wenn er zu unsern Zeiten hätte schreiben und doch zugleich, indem er gleichwohl beigebracht, daß es 16 Plato, 20 Sokrates, 28 Pythagoras, 32 Aristoteles gegeben, es ganz sündlich hätte auslassen wollen, daß es jetzt so viele Philosophen und Philosophisten, als jene zusammengerechnet machen, gebe, nämlich 96, die den Namen Kant führen könnten, wollten sie sonst. Solche Handwerker – so kann ich die Magister nennen, weil man umgekehrt sonst die Handwerker Magister hieß und den Obermeister Erzmagister – sollte man als die beste Propaganda in Rechnung bringen, welche dicke Bücher haben können: sie sind am besten imstande, das System auszubreiten, weil sie das Unfaßliche, das Geistige davon abzuschneiden, und das Volkmäßige und Körperliche, d.h. die Wörter, für Leser, die sonst einfältig, aber doch nicht ohne kritische Philosophie sterben wollen, auszuziehen wissen. Das elendeste theologische und ästhetische Gestein erhält jetzt eine kantische Fassung aus Wörtern. Obgleich durch jedes neue große System eine gewisse Einseitigkeit des Blicks in alle Köpfe kömmt – zumal da jeder kalte Philosoph gerade desto einseitiger ist, je einsichtiger er ist –, so verschlägts[800] doch nichts; denn große Wahrheit-Barren gehen nur durch das gemeinschaftliche Wühlen des ganzen Denker-Gewerks hervor51. Wer Kant auf seinem Berge unter seinen gelehrten Mitarbeitern hat stehen sehen, erinnert sich mit Vergnügen einer ähnlichen Geschichte in Peru, die Buffon mitteilt: als daselbst Condamine und Bouguer die Äquatorgrade der Erde (wie Kant die der intellektuellen Welt) ausmaßen, fanden sich ganze Affen- Rudel als Mitarbeiter dazu ein, setzten Brillen auf, blickten nach den Sternen und herunter nach den Uhren und brachten eines und das andre zu Papier, wiewohl ohne Ehrensold, welches ihr einziger Unterschied von den Vikariat-Kanten ist.

Jeder Mann von Genie ist ein Philosoph, aber nicht umgekehrt – ein Philosoph ohne Phantasie, ohne Geschichte und ohne das Vielwissen des Wichtigsten ist einseitiger als ein Politiker – wer irgendein System mehr annahm als erfand, wer nicht vorher dunkle Ahnungen desselben hatte, wer nicht vorher wenigstens darnach lechzte, kurz, wer nicht seine Seele als einen vollen warmen, mit Keimen ausgefüllten Boden, der nur auf seinen Sommer wartet, mitbringt, der kann wohl ein Lehrer, aber nicht ein Schüler der zum Brotstudium erniedrigten Philosophie sein – und kurz, es ist einerlei, welchen Ort man zur philosophischen Sternwarte besteige, einen Thron, oder einen Pegasus, oder eine Alpe, oder ein Cäsars-Lager, oder eine Leichenbahre, und sie sind fast alle höher als der Katheder im Hör- und Streitsaale.


Q siehe K


R


Rezensenten. Ein Redakteur sollte sechs Tische haben: am ersten säßen und äßen die Anzeiger des Daseins eines Buchs – am zweiten die Bausch- und Bogen-Anzeiger seines Werts – am dritten die Auszieher desselben – am vierten die Sprachmeister und Sprachforscher, welche unter das Publikum räsonnierende Verzeichnisse[801] fremder Donatschnitzer austeilen – am fünften die Bekämpfer, die ein neues Buch nicht durch ein neues Buch, sondern durch ein Blättchen widerlegen – am sechsten stände die kritische Fürstenbank, auf die sich Herder, Goethe, Wieland oder noch einer setzen könnten, die ein Buch so überschauen wie ein Menschenleben, welche die Individualität desselben auffassen, den Geist des literarischen Geschöpfes und des Schöpfers zugleich zeichnen, und die jene Menschwerdung und Verkörperung der göttlichen Schönheit, welche die Gestalt eines Einzelwesens annimmt, trennen von der Schönheit und dann aufdecken und verzeihen.

Diese sechs kritischen Bänke, die sechs verschiedene Literaturzeitungen liefern könnten, werden jetzt übereinander geworfen und gestalten eine. – So freimütig ich aber gegen diese Zusammenwerfung von gelehrten 1) Anzeigen, 2) Rezensionen, 3) Auszügen, 4) Sprach- und 5) Sachkritiken und 6) Kunsturteilen aufstehe: so gern bin ich bereit, zuzugestehen, daß die rezensierende Fauna und Flora der fünf Tische vielleicht ebensoviel Unkraut- Fechser ausrotte, als sie selber heraustreibt aus eignen Keimen, und ich berufe mich deshalb auf einen Privatbrief von mir, der außer dem Verdacht der Schmeichelei ist, und worin ich sie mit einem Fliegenschwamm zusammengeselle, der, ob er gleich selber bei einem Aufguß (hier von Dinte) ganze Insekten-Heere gebiert, doch die Fliegen ausreutet. – Aber da unter den Rezensenten auch Autoren sind wie ich, wie unter den portugiesischen Inquisitoren Juden – und überhaupt da ich Schaltjahre lang darüber sprechen wollte: warum einen Schalttag lang? –


S


Streiche. »Wer seines Herrn Willen weiß und tut ihn nicht, soll doppelte Streiche leiden.«- Wer leidet denn die einfachen? Der doch nicht, der den Willen nicht weiß und nicht tut? – Also folgt, daß größere Kenntnisse die moralische Schuld nicht erschweren, sondern erst erzeugen! Denn insofern ich eine moralische Verbindlichkeit gar nicht einsehe, ist mein Verstoß dagegen ja nicht kleiner, sondern keiner.[802]

Ich will meine eigne Akademie der Wissenschaften sein und mir die folgende Preisfrage aufgeben, die ich selber in einer Preisschrift beantworten will: »Da nur eine Handlung tugendhaft ist, die aus Liebe zum Guten geschieht: so kann nur eine sündig sein, die aus bloßer Liebe zum Bösen geschieht, und die Rücksicht des Eigennutzes muß den Grad einer Sünde so gut wie den Grad einer Tugend kleiner machen. Was wäre aber auf der andern Seite noch außer dem Eigennutz in unserer Natur, was uns zum Schlimmen triebe? Und wenn Böses aus reinem Hang zum Bösen geschähe! so gäbe es ja eine zweite, obwohl entgegengesetzte Autonomie des Willens.«


T


Trübsal, Trauer. Jetzo, da ich diese beklemmenden Töne schreibe, die mir vorsagen, daß die Natur nur Dornenhecken, die Menschen aber Dornenkronen machen: so vergeht mir die Lust, mit satirischen Dornen um mich zu schlagen, und ich möchte lieber einige aus euern Füßen oder Händen ziehn.

50

Ich habe den Buchstaben N ganz umgegossen, weil ich in der ersten Auflage leider einen guten Einfall gehabt den ich ohne mein Erinnern seines ersten Herausgebens als mein eigner geilehrter Dieb im Kommentar der Holzschnitte wieder bekannt gemacht.

51

Ein Beispiel ist jetzo das erste Prinzip der Moral und das der Regierformen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 796-803.
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