Vierter Schalttag und Vorrede
zum zweiten Heftlein

[721] Ich will Schalttag und Vorrede zusammenschweißen. Es muß daher – wenns nicht Spielerei mit der Vorrede sein soll – hier doch einigermaßen der zweite Teil berührt werden. Es verdient von Kunstrichtern bemerkt zu werden, daß ein Autor, der anfangs acht weiße Papierseiten zu seinem Gebiete vor sich hat – so wie nach Strabo das Territorium Roms acht Stunden groß war –, nach und nach so weit fortrückt und das durchstreifte Papier mit so viel griechischen Kolonisten – denn das sind unsere deutschen Buchstaben – bevölkert, bis er oft ein ganzes Alphabet durchzogen und angebauet hat. Dies setzt ihn instand, den zweiten Teil anzufangen. Mein zweiter ist, wie ich gewiß weiß, viel besser als der erste, wiewohl er doch zehnmal schlechter ist als der dritte. Ich werde hinlänglich belohnt sein, wenn mein Werk der Anlaß ist, daß eine Rezension mehr in der Welt gemacht wird; und ich wüßte nichts – wenns nicht eben dieser Gedanke wäre, daß Bücher geschrieben werden müssen, damit die gelehrten Anzeigen derselben fortdauern können –, was einen Autor zur unsäglichen Mühe antreiben könnte, den ganzen Tag am Dintenfaß zu stehen und ganze Pfunde Konzepthadern in Berlinerblau zu färben...[721] Und dieser kühle ernste hocus pocus von Vorrede – ein! Ausdruck, den Tillotson für eine Verkürzung von der katholischen Formel ›hoc est corpus‹ hält – sei für gute Rezensenten auf Universitäten genug.

Ich wende mich wieder zu dem, was ich eigentlich damit haben wollte. Ich bin nämlich gesonnen, die Extrablättchen und Nebenschößlinge, womit die Schalttage vollzumachen sind, in alphabetischer Ordnung – weil Unordnung mein Tod ist – nicht nur anzukündigen, sondern auch hier schon anzufangen und fortzusetzen bis zum Buchstaben I.


Schalt- und Nebenschößlinge, alphabetisch geordnet


A


Alter der Weiber. Lombardus (L. 4. Sent. dist. 4.) und der heilige Augustin (l. 22. de civit. c. 15.) erweisen, daß wir alle in dem Alter von den Toten auferstehen, worin Christus auferstand, nämlich im 32sten Jahre und dritten Monat. Mithin wird, da im ganzen Himmel kein Vierziger zu haben ist, ein Kind so alt sein wie Nestor, nämlich 32 Jahre und drei Monate. Wer das weiß, schätzet die schöne Bescheidenheit der Weiber hoch, die sich nach dem 30sten Jahre wie Reliquien für älter ausgeben, als sie sind; denn es wäre genug, wenn sich eine Vierzigerin, Achtundvierzigerin so alt machte wie guter Rheinwein oder höchstens wie Methusalem; aber sie glaubt bescheidener zu sein, wenn sie sich, so sehr ihr Gesicht auch widerspricht, schon das hohe Alter zuschreibt, das sie erst, wenn ihr Gesicht einige tausend Jahre in der Erde gelegen ist, haben kann, nämlich – 32 Jahre und drei Monate. Schon ein Dummer sieht ein, daß sie nur das künftige Aufersteh- und kein Erdenalter meine, weil sie von diesem Stand-Jahre nicht wegrückt, welches eben in der Ewigkeit, wo kein Mensch eine Stunde älter werden kann, etwas Alltägliches ist. Diese Einheit der Zeit bringen sie in das Intrigenstück ihres Lebens darum schon im 30sten Jahr hinein, weil nach diesem in Paris keine Frau mehr öffentlich tanzen und (nach Helvetius) kein Genie mehr meisterhaft schreiben kann. Auf das letzte rechnete man[722] vielleicht sonst in Jerusalem, wo jeder erst nach dem 30sten Jahr ein Lehramt bekam.


B


Basedowische Schulen. Basedow schlägt in seiner Philalethie vor, 30 unerzogene Kinder in einen Garten einzuzäunen, sie ihrer eignen Entwickelung zu überlassen und ihnen nur stumme Diener, die nicht einmal Menschen-Kleidung hätten, zuzugehen und es dann zu Protokoll zu bringen, was dabei herauskäme. Die Philosophen sehen vor lauter Möglichkeit die Wirklichkeit nicht: sonst hätte Basedow bemerken müssen, daß unsre Landschulen solche Gärten sind, in denen die Philosophie den Versuch machen will, was aus Menschen, wenn sie durchaus alle Bildung entbehren, am Ende werde. Ich gesteh' aber, daß alle diese Versuche noch so lange unsicher und unvollkommen bleiben, als die Schulmeister sich nicht enthalten können, diesen Probekindern irgendeinen Unterricht – und wär' es der kleinste – zu erteilen; und besser würde gefahren mit ganz stummen Schulleuten, wie es taubstumme Zöglinge gibt.


C siehe K


D


Dichter. Der Dichter wird, ob er gleich Leidenschaften malt, doch diese am besten in dem Alter treffen, wo seine kleiner sind, so wie Brennspiegel gerade in den Sommern, wo die Sonne am wenigsten brannte, am stärksten wirkten und in den heißen am wenigsten. Die Blumen der Poesie gleichen andern Blumen, die (nach Ingenhouß) im gedämpften benebelten Sonnenlicht am besten wachsen.


E


Empfindsamkeit. Sie gibt oft dem innern Menschen, wie der, Schlagfuß dem äußern, größere Empfindlichkeit und doch Lähmung.


F siehe Ph[723]


G


Göttin. Wie die Römer ihre Monarchen lieber für Götter als für Herren erkannten, so wollen die Männer die Direktrice ihres Herzens lieber ihre Göttin als ihre Herrin nennen, weil es leichter ist anzubeten als zu gehorchen.


H


H-. Ich habe oft Leute, die zu leben hatten und zu leben wußten – welches nicht zweierlei ist –, erstlich um die besten und vornehmsten Weiber gaukeln und aus dem Honigkelch ihrer Herzen saugen, und zweitens hab' ich sie an demselben Tage die Flügel zusammenschlagen und auf eine jämmerliche Tröpfin niederschießen sehen' damit die Tröpfin ihre Erben – erbe. Nie aber hab' ich diese Schmetterlinge mit etwas anderem verglichen als mit Schmetterlingen, die den ganzen Tag Blumen besuchen und benaschen, und doch ihre Eier auf einen schmutzigen Kohlstrunk laichen.


H


Holbeins Bein. Ich will lieber das H noch einmal nehmen als das I, weil unter der Rubrik des I's die Invaliden kämen, von denen ich behaupten wollen: daß ihnen, da Leute, denen man Glieder abgenommen, vollblütig werden, desto weniger Brot gereichet werden dürfe, je mehr ihnen Glieder weggeschossen oder weggeschnitten worden, und daß man dieses die Physiologie und Diätetik der Kriegskasse nenne. – Aber mich haben die halben armen Teufel zu sehr gedauert.

Die Beine Holbeins machen größern Spaß als abgenommene. Der Maler strich nämlich in Basel nichts an als Basel selber; und der nämliche Umstand, der sein Genie in diese architektonische Färberei hineinzwang, nötigte es auch, daß es oft darin Raststunden hielt – er soff nämlich entsetzlich. Ein Bauherr, dessen Name in der Geschichte fehlt, trat oft in die Haustüre und zankte zum Gerüste hinauf, wenn die Beine des Hausfärbers, anstatt davon herunterzuhängen – denn mehr war vom Maler nicht zu[724] sehen –, in der nächsten Weinkneipe standen und wankten. Schritt nachher Holbein damit über die Gasse daher: so kam ihm Hader entgegen und stieg mit ihm aufs Gerüste hinauf. Dieses brachte den Maler, der seine Studien (auch im Trinken) liebte, auf, und er nahm sich vor, den Bauherrn zu ändern. Da er nämlich das ganze Unglück seinen Beinen verdankte, deren Fruchtgehänge der Mann unter dem Gerüste sehen wollte: so entschloß er sich, eine zweite Auflage von seinen Beinen zu machen und sie an das Haus hängend zu malen, damit jener, wenn er unter der Haustüre hinaufschauete, auf den Gedanken käme, die zwei Beine und ihre Stiefeln malten droben fleißig fort. – Und auf diesen Gedanken kam der Bauherr auch; aber da er endlich bemerkte, daß das Vexierfußwerk den ganzen Tag an einer Stelle hange und sich nicht fortschiebe: so wollt' er nachsehen, was denn der Meister so lange an einer Partie bessere und retuschiere – und verfügte sich selber hinauf. Droben im Vakuum (Leerem) ersah er leicht, daß der Maler da aufhöre, wo Kniestücke anfangen, beim Knie, und daß der mangelnde Rumpf wieder saufe in einem Alibi.

Ich verdenk' es dem Bauherrn nicht, daß er auf dem Gerüste keine Moral aus dem Fußwerk zog: er war zu erbost.

Ich wollte noch eine Geschichte von den Fürsten-Porträts anstoßen, die hinter den Präsidenten in den Sessionzimmern statt der Urbilder zum Stimmen dahangen – aber ich störe den Zusammenhang; auch war sonst hier das Ende des ersten Heftleins.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 721-725.
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