43. Zykel

[206] Albano wußte nicht, daß Liane ordentlich das obere, so blühend beschattete Zimmer für sich innenhabe, worin sie häufig – zumal wenn die Mutter in der Stadt zurückblieb – zeichnete, schrieb und las. Die kindliche Chariton, vom Liebestranke der Freundschaft[206] begeistert, wußte gar nicht, wie sie nur der schönen liebreichen Freundin ihr Feuer so recht zeigen konnte; ach was war ein Zimmer! – In dieses immer offne kamen nun die Kinder, die Liane zuweilen lesen ließ; und so konnte jetzt Pollux aus dem einsamen den Bogen holen, den sie an diesem Morgen geschrieben.

Als Albano während des Holens so allein im Wohnzimmer des fernen Jugendfreundes neben dessen stiller, blasser Tochter saß, die bald auf ihn, bald auf eine ihm noch aus Lianens Morgenzimmer bekannte Spiel-Schäferei hinsah – als das Morgenwehen durchs kühle Fenster das herrliche Getümmel hereintrieb – besonders als im lichten Ausschnitte des Fußbodens die sinesischen Schatten des Wein- und Pappellaubes sich ineinander kräuselten – und als endlich Chariton den Säugling mit einem eiligern lautern Wiegenliede einsang, das ihm tönte wie ihr nachhallender Seufzer nach dem schönen Jugendlande: so wurd' ihm das volle, vom ganzen Morgen angeregte Herz so wunderbar und – besonders durch das wankende Schattengefecht – fast bis zum Weinen bewegt; und das Kind blickt' ihm immer bedeutender ins Gesicht.

Da kam Pollux mit seinen beiden Quartblättern zurück und setzte sich nun selber auf seine Leseprobe. Schon die erste Seite komponierte zu Albans innern Liedern die Melodie; aber er erriet weder die Verfasserin noch das Datum des Briefes, außer später durch ein hin- und herspringendes Lesen. Die Blätter gehörten zu vorigen – nicht einmal Streusand bezeugte ihre junge Geburt (denn Liane war zu höflich, einen zu brauchen) – ferner waren alle Namen anders; nämlich Julienne, an die sie gerichtet waren, hatte leider, in d'Argensons bureau décachetage, d.h. am Hofe wohnhaft, verzifferte verlangt, und sie hieß mithin Elisa, Roquairol Karl und Liane ihre kleine Linda. Linda ist bekanntlich der Taufname der jungen Gräfin von Romeiro, mit welcher die Prinzessin am Tage jener für Roquairol so blutigen Redoute ein ewiges Herzens- und Korrespondenz-Bündnis aufgerichtet hatte; – Liane, vor deren reinen dichterischen Augen sich jedes edle weibliche Wesen zur Gebenedeieten und Heroine, der undurchsichtige Edelstein zum durchsichtigen aufhellte und reinigte,[207] liebte die hohe Gräfin gleichsam mit dem Herzen ihres Bruders und ihrer Freundin zugleich, und die sanfte Seele nannte sich, ihres Wertes unbewußt, nur die kleine Linda ihrer Elisa.

Auch die zarte ausgezogene Handschrift kannte Albano nicht; Julienne liebte die gallische Sprache bis zu den Lettern, aber Lianens ihre glichen nicht den gallischen Sudel-Protokollen, sondern der reinlichen geründeten Handschrift der Briten.

Hier ist endlich ihr Blatt – – O du holdes Wesen! wie lange hab' ich nach den ersten Lauten deiner erquickenden Seele gedürstet! –

Sonntags-Morgen


– »Aber heute, Elisa, bin ich so innig-froh, und der Abendnebel liegt als eine Aurora am Himmel. Ich sollte dir wohl das Gestrige gar nicht geben. Ich war zu bekümmert. Konnt' aber nicht meine liebe Mutter, die doch bloß meinetwegen hierher gegangen war, dadurch noch kränker werden, so leidlich sie auch eben deswegen sich gegen mich anstellte? – Und dann kam ja deine Gestalt, Geliebte, und all dein Schmerz und die harte Nachbarschaft63 und unser letzter Abend hier, o alles das zog ja so klagend vor mein banges Herz! – Sieh, als wir vor dem Hause der lieben Chariton hielten und sie meiner Mutter die Hand mit freudigen Tränen küßte: so war ich so schwach, daß ich auch abgewandte vergoß, aber andre und über die Frohlockende selber, die ja nicht wissen konnte, ob nicht in dieser Stunde ihr teurer Freund in Rom erkranke oder untergehe. –

Nun aber ist der dunkelgraue Nebel auf dem Blumengarten deiner kleinen Linda ganz verweht, und alle Blüten des Lebens glänzen in ihren reinen hohen Farben vor ihr. – – Nach Mitternacht wich die Migräne meiner Mutter fast ganz, und sie schlummerte so süß noch an diesem Morgen. O wie war mir da! – Nach 5 Uhr schon ging ich in den Garten hinunter und fuhr über den Glanz zusammen, der im Taue und zwischen den Blättern brannte – die Sonne sah erst unter den Triumphtoren herein – alle Seen sprühten in einem breiten Feuer – ein glänzender Dampf umfloß[208] wie ein Heiligenschein den Erdenrand, den der Himmel berührte – und ein hohes Wehen und Singen strömte durch die Morgenpracht – – –

Und in diese aufgeschlossene Welt kam ich genesen zurück und so froh; ich wollte immer rufen: ich habe dich wieder, du helle Sonne, und euch, ihr lieblichen Blumen, und ihr stolzen Berge, ihr habt euch nicht verändert, und ihr grünet wieder wie ich, ihr duftenden Bäume! – – In einer unendlichen Seligkeit schwebt' ich wie verklärt, Elisa, schwach, aber leicht und frei, ich hatte die drückende Hülle – so war es mir – unter die Erde gelegt und nur das pochende Herz behalten, und im entzückten Busen flossen warme Tränenquellen gleichsam über Blumen über und bedeckten sie hell. – -

›Ach Gott,‹ sagt' ich in der großen Freude schreckhaft, ›war es denn ein bloßer Schlaf, das unbewegliche Ruhen der Mutter?‹ und ich mußte – lächle immer –, eh' ich weiterging, wieder zu ihr hinauf. Ich schlich atemlos vor das Bette, bog mich horchend über sie, und die gute Mutter schloß die immer leise schlummernden Augen langsam auf, sah mich müde, aber liebreich an und tat sie, ohne sich zu regen, wieder zu und gab mir nur die liebe Hand.

Nun durft' ich recht selig wieder in meinen Garten gehen; ich brachte aber der immer heitern Chariton den Morgengruß und sagt' ihr, daß ich auf dem breiten Wege zum Altare64 bliebe, sollt' ich etwan gesucht werden. – Ach Elisa, wie war mir dann! Und warum hatt' ich dich nicht an meiner Hand, und warum sah mein bekümmerter Karl nicht, daß seine Schwester so glücklich war! – Wie nach einem warmen Regen das Abendrot und das flüssige Sonnenlicht von allen goldgrünen Hügeln rinnt: so stand ein zitternder Glanz über meinem ganzen Innern und über meiner Vergangenheit, und überall lagen helle Freudenzähren. Ein süßes Nagen nahm mein Herz auseinander wie zum Sterben, und alles war mir so nahe und so lieb! Ich hätte der lispelnden Zitterpappel antworten und den Frühlingslüften danken mögen, die so kühlend das heiße Auge umwehten! Die Sonne hatte sich mütterlichwarm[209] auf mein Herz gelegt und pflegte uns alle, die kalte Blume, den jungen nackten Vogel, den starren Schmetterling und jedes Wesen; ach so soll der Mensch auch sein, dacht' ich. Und ich ging den Sandweg und schonte das Leben des armen Gräschens und der liebäugelnden Blume, die ja hauchen und erwachen wie wir – ich vertrieb die weißen durstigen Schmetterlinge und Tauben nicht, die sich nebeneinander von der nassen Erdscholle zum Tranke bückten – o ich hätte die Wellen streicheln mögen- – diese Schöpfung ist ja so kostbar und aus Gottes Hand, und das noch so klein gestaltete Herz hat ja doch sein Blut und eine Sehnsucht, und in das Augen-Pünktchen unter dem Blatte kehrt ja doch die ganze Sonne und ein kleiner Frühling ein. –

Ich lehnte mich, ein wenig ermattet, unter den ersten Triumphbogen, eh' ich zum Altare aufstieg; und sah hinaus in die glimmende Landschaft voll Dörfer und Baumgärten und Hügel; und der flimmernde Tau und das Läuten der Dörfer und das Glockenspiel der Herden und das Schweben der Vögel über allem füllte mich mit Ruh' und Licht. Ja, so ruhig und unbekannt und heiter will ich mein eilendes Leben führen, dacht' ich: redet mir nicht der Trauermantel zu, der vor mir mit seinen vom Herbste zerrissenen Schwingen doch wieder um seine Blumen flattert; und mahnet mich nicht der Nachtschmetterling ab, der erkältet an der harten Statue klebt und sich nicht zu den Blüten des Tages aufschwingen kann? – Darum will ich nie von meiner Mutter weichen – bleibe nur die teure Elisa auch so lange bei uns, als ihre kleine Linda lebt, und rufe sie ihre hohe Freundin bald65, damit ich sie sehe und herzlich liebe!

Ich stieg den grün-schattigen Berg hinan, aber mit Mühe; die Freude entkräftet mich so sehr; – denk an mich, Elisa, ich werde einmal an einer großen sterben, oder an einem großen, allzugroßen Weh. Der Schneckenweg zum Altare war von den Farben des Blütenstaubes gemalt, und droben wanden sich nicht gefärbte feste, sondern rege brennende Regenbogen durch die Zweige des Berges. Warum stand ich heute in einem Glanze wie[210] niemals sonst?66 Und als die Morgenluft mich wie ein Flügel anflatterte und hob und als ich mich tiefer in den blauen Himmel tauchte, so sagt' ich: nun bist du in Elysium. – Da war mir, als sage eine Stimme: das ist das irdische, und du bist noch nicht geheiligt für das andre. O feurig faßt' ich wieder den Entschluß, mich von so manchen Mängeln loszuwickeln und besonders dem zu schnellen Wahne der Kränkung abzusagen, den ich andern zwar verhehle, womit ich sie aber doch verletze. Und da betete ich am Altare und sagte der ewigen Güte Dank und weinte unbewußt vielleicht zu sehr, aber doch ohne Augenschmerzen.

Zuletzt schrieb ich das hier beigelegte Dankgedicht, das ich in Verse bringe, wenn es der fromme Vater gutheißet.


Dankgedicht


So schau' ich wieder mit seligen Augen in deine blühende Welt, du Alliebender, und weine wieder, weil ich glücklich bin? Warum hab' ich denn gezagt? Da ich unter der Erde ging in der Finsternis wie eine Tote und nur von fern die Geliebten und den Frühling über mir vernahm: warum war das schwache Herz in Furcht, es gebe keine Öffnung mehr zum Leben und zum Lichte? – Denn du warst in der Finsternis bei mir und führtest mich aus der Gruft in deinen Frühling herauf; und um mich standen deine frohen Kinder und der helle Himmel und alle meine lächelnden Geliebten! – – O ich will nun fester hoffen; brich immer der siechen Pflanze üppige Blumen ab, damit die andern voller reifen! Du führest ja deine Menschen auf einem langen Berge in deinen Himmel und zu dir, und sie gehen durch die Gewitter des Lebens am Berge nur verschattet, nicht getroffen hindurch, und nur unser Auge wird naß. – – Aber, wenn ich zu dir komme, wenn der Tod wieder seine dunkle Wolke auf mich wirft und mich weg von allen Geliebten in die tiefere Höhle zieht und du mich, Allgütiger, noch einmal freimachst und in deinen Frühling trägst, in den noch schönern als diesen herrlichen: wird dann mein schwaches Herz neben deinem Richterstuhle so freudig schlagen wie heute, und[211] wird die Menschenbrust in deinem ätherischen Frühlinge atmen dürfen? O mache mich rein in diesem irdischen und lasse mich hier leben, als wenn ich schon in deinem Himmel ginge! – –«


*


Wenn schon euch, ihr Freunde, die duldende reine Gestalt ungesehen lieb und rührend wird, die sich ergeben freuen kann, daß doch die Wetterwolke nur Platz-Tropfen und keine Schloßen auf sie warf: wie mußte sie erst das bewegte Herz ihres Freundes erschüttern! – Er fühlte eine Heiligung seines ganzen Wesens; gleichsam als komme die Tugend, in diese Gestalt verkörpert, vom Himmel nieder, um ihn heiligend anzulächeln, und fliege dann leuchtend zurück und er folg' ihr begeistert und gehoben nach.

Er drang eifrig dem Knaben das Zurücktragen der Blätter ab, um ihr und sich, da sie jede Minute erscheinen konnte, die peinlichste Überraschung zu ersparen; doch beschloß er fest – was es auch koste –, wahr zu sein und ihr noch heute sein Lesen zu beichten.

Der Kleine lief die Treppe hinauf, wieder herab, blieb lange vor der Türe und kam herein mit – Lianen an der Hand, die weiß gekleidet und schwarz verschleiert war. Sie sah ein wenig betroffen umher, als sie mit beiden Händen den Schleier von ihrem freundlichen Gesichte zurückhob, hörte aber Charitons Wiegenlied. Sie kannt' ihn nicht, bis er sprach; und hier errötete ihr ganzes schönes Wesen wie eine beleuchtete Landschaft nach dem Abendregen; sie habe die Freude, sagte sie, seinen Vater zu kennen. Wahrscheinlich kannte sie den Sohn durch Juliennens und Augustis Malereien noch besser und von verwandtern Seiten; auch bewegte sich gewiß ihr schwesterliches Herz von seiner Bruderstimme; denn der Reiz und sogar Vorzug der Ähnlichkeit und Kopie ist so groß, daß sogar einer, der einem gleichgültigen Wesen ähnlich sieht, uns lieber wird, wie das Echo eines leeren Rufs, bloß weil hier wie in der nachahmenden Kunst die Vergangenheit und Abwesenheit eine durch die Phantasie durchscheinende Gegenwart wird.[212]

Das immer leisere Einsingen der Mutter sagte das tiefere Einschlummern des Säuglings an, und endlich verstummte das Diminuendo, und Chariton lief mit blitzenden Augen der Hand Lianens zu. Eine heitere offne Freundschaft blühte zwischen den unschuldigen Herzen und verstrickte sie wie der Wein die nahen Pappeln. Chariton erzählte ihr Albanos Erzählung mit der Voraussetzung der innigsten Teilnahme; Liane hörte gespannt-aufmerkend der Freundin zu; aber das war ja so viel, als blicke sie die nahe historische Quelle selber an.

63

Der Tartarus mit dem Vaterherzen Juliennens.

64

So heißet jener Berg, den Albano in der bekannten Frühlingsnacht gefunden.

65

Linda de Romeiro.

66

Die Ursache ist, weil sie nach der Genesung noch kurzsichtig war, und ein Kurzsichtiger sieht den Tau glänzender.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 206-213.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon