4. Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg

[226] Ich lese nichts lieber als Bücher von einigen Seiten. Jene alten Folianten-Goldbarren, die man nur auf zwei Sesseln öffnen kann, sollten in mehrere Goldkörner zerlegt, ich meine, jedes Blatt sollte in ein Bändchen eingebunden werden: jeder käme dann leicht mit ihnen durch. Jetzt aber muß der Gelehrte die Quartanten aus Ratsbibliotheken entsetzlich lange behalten, weil er sie nicht heftweise zurücktragen kann. Ja, da der anomalische Fortius auf seinen Reisen nichts von Büchern bei sich führte als die besten Stellen, die er vorher herausschnitt, eh' er die kastrierte Ausgabe verkaufte: so schlag' ich mit Vorbedacht akademischen Senaten ordentliche Universitätsbibliotheken aus solchen ausgerissenen Blättern vor.

Den Vorzug der Kleinheit, der den größten Werken fehlet, besitzt nun das Programm des Herrn Rektors, das ich hier der Welt einhändige. Es teilt gut geschriebene Nachrichten von einer Reise mit, die ein Muster sein kann, wie Schulleute mit den Säuglingen und Fechsern ihrer Seele zu reisen haben; auch sind verständige Schulmänner von jeher so gereiset. Ich wollte anfangs das Programm aus dem Deutschen ins – Deutsche vertieren; aber ich glaubte, es hieße den Schwanengesang und den letzten Akt der Schulgelehrsamkeit gar absichtlich beschleunigen, wenn man den lateinischen und ciceronianischen Stil vollends aus dem deutschen würfe, da er ohnehin aus lateinischen Werken längst entwichen ist.

Vorher nur ein Wort über die Reisenden selber.

Da ich die Hunde nie mit zählen werde – sie bestanden aus zwei Spitz-, drei Wachtelhunden der Primaner und einem Saufinder des Rektors –, so setz' ich die Marschsäule nur vierzehn[226] Mann stark an, nämlich einen Dozenten, zwölf Eleven und eine Tochter des Schul-Doge. Letztere fuhr, wie eine Athenerin, allein in einem Kabriolett: auf beiden Seiten faßte das mitschreitende Fußvolk das Fahrzeug ein, wie eine Wache den an den Leiterwagen befestigten Arrestanten, und auf dem Bocke saß die Primanerbank, wie die regensburgische Kurfürstenbank, alternierend, wie etwan beim Bauertanze die Pursche einander im Streichen und Raspeln der Baßgeige ablösen. Im Kabriolett war hinter dem Futterkasten für den Gaul einer für den Reise-Kongreß; der Lehrer kannte die Bosheit vieler Wirte zu gut; daher wurden auf seinen Rat von der Prima (plana), die ihn hörte und begleitete, mehrere Stecken geräucherter Würste zusammengeschossen, und er gab noch dazu die Tochter her, die alles samt der Beikost kochte.

An jeder linken Hüfte – so leicht ist Krieg mit Wissenschaft zu paaren – lag eine Harpune, ein accentus acutus; und die zwölf Schwert-Fische hätten damit den alten Weisel boshaft niederstechen können, wenns wäre begehret worden. Der Schul-Maire selber hatte nichts an den Hüften als eine geschmackvolle robe de fantaisie: in ihnen hatt' er weniger.

Vom Rektor sag' ich nichts: sein Programm selber sagt es, wie er lehrte, lernte und schrieb: im Wirtshaus resorbierte er mit den lymphatischen Milchgefäßen des Papiers allen gelehrten Milchsaft, den eine Reise kocht, und unterweges hielt er seine Schreibtafel den wichtigsten Exkrementen des Zufalls und Bleistifts unter und fing auf, was kam. Aber das sei mir erlaubt, die zwölf Musensöhne zu betrachten, die ebenfalls zwölf pergamentene Rezipienten und Behälter alles Merkwürdigen hinhalten und alles nicht sowohl wie Hogarth auf den Daumen-Nagel skizzieren als mit solchem; ists denn gar zu übertrieben, wenn ich denke: in zwölf solchen ausgespannten Prell- und Zuggarnen mußte sich wahrlich ja alles, was nur gelehrten Zungen und Gaumen vorzulegen ist, bis auf jede Spitzmaus und jeden Hotel-Floh verfangen, und es verblieb, wars auch durch eilf Garne hindurch, doch im zwölften seßhaft? – Sogar die sechs Hunde reiseten nicht völlig ohne Beobachtungsgeist, sondern strichen und merkten[227] überall, wo sie auf etwas Erhebliches stießen, es sofort mit wenigem an und hoben beteuerungsweise das Hinterbein auf. – Nein, eine so gescheute Reise kann gar nicht mehr gemacht werden, solange die Erde auf ihrer ist.

Und hier ist sie selber: nur werd' ich zuweilen persönlich aus dem Parterre unter die Spieler steigen und dareinsprechen, weil mir sonst das Abschreiben des Programms zu langweilig ist und weil auch der Programmenmacher eines und das andere sagt, das ich besser weiß. Ein armer Teufel, den ich studieren lasse und der mitlief, ist meine Quelle.


Michaelis-Programm etc.


»Mein lateinisches Osterprogramm, das erweisen sollte, daß schon die ältesten Völker und Menschen, besonders die Patriarchen und klassischen Autoren, sich auf Reisen gemacht – von welchen letztern ich nur den Xenophon und Cäsar, die zwei tapfersten Stilisten, mit ihren Armeen wieder zitiere –, führet vielleicht einige Autoritäten auf, die den Schulmann decken, der mit seinen Untergebenen kurze Ausflüge in deutsche Kreise tut. Ich hielt es für schicklich, in einem vorhergehenden Programm meine Schulreise im voraus zu rechtfertigen, bevor ich ans jetzige ginge, das ich für ein kleines Inventarium mancher aufgelesenen Schätze zu nehmen bitte.

Inzwischen da in den engen Flächeninhalt eines Michaelis – Programma wichtigerer topographischer, statistischer etc. Kubikinhalt unmöglich zu bringen war, und da ich überhaupt meinen stereometrischen und sonstigen Fund einem geräumigern Werke aufspare: so suche der Leser auf diesen Blättern mehr die Geschichte als die Entdeckungen der Pilger – es lassen wohl beide sich lesen.

Die Herren Salzmann und Weiße – anderer zu geschweigen – haben der Welt (ich entscheide nicht, mit welchem Glück) zu zeigen gesucht, wie ein Lehrer halbwüchsige Zöglinge gleichsam auf die Weide einer Reise treiben müsse; aber sie haben immer andern Schulmännern das Recht nicht benommen, ihre Wallfahrten[228] mit einer bejahrten Schuljugend, die im Gängelwagen weniger steht als zieht, ans Licht zu bringen.

Ganz mutig dürft' ich den Herren Scholarchen und Nutritoren unserer Schule über Zeit- und Geldaufwand zur Rede stehen, sobald ich meine Bleifeder vorwiese, die ich auf dem ganzen Marsche nicht in die Tasche brachte, sondern wie eine Leimrute aufsteckte, an die sich, was sehenswürdig war, leicht ansetzte. Ebenso schoß der Salpeter des Merkwürdigen an den zwölf Salpeterwänden meiner Schüler an, wenn ich die zwölf protokollierenden Schreibtafeln so nennen darf, womit sie ausgerüstet waren; und wurde ihnen denn nicht einige Aphäresis, Synkope und Apokope der Lust reichlich genug durch wahre Prothesis, Epenthesis und Paragoge des Wissens erstattet? – Ich unterwinde mich nicht, zu bestimmen, inwiefern wir uns von einem und dem andern jungen Edelmanne46 abtrennen, der bloß für sein Vergnügen durch Europa fährt und oft auf seinem Reisewagen aus einer Ballei in die andere rollet, ohne eine Schreibtafel einzustecken, geschweige herauszubringen. Sollt' er aber mit seinen fünf Sinnen beträchtliche Kenntnisse aus allen Grenz- und Hauptstädten einfassen und einsargen, sie aber sämtlich im Fahren rein wieder durchsickern und durchfallen lassen: so möcht' er der menschlichen Seele gleichen, die (nach dem pythagoreischen System) die grande tour durch Tiere und Menschen macht und die doch, wenn sie sich im letzten Menschen einsetzt, nur gerade so viel von allen ihren Schulreisen noch im Kopfe mitbringt, als sie in der Minute besaß, da sie ins erste Tier einstieg, nämlich platterdings nichts.

Wenn ein großer Cäsar in seinen Kommentarien oder Friedrich II. in den seinigen bescheiden das Ich mit der dritten Person vertauschten: so geziemet es mir noch mehr, an die Stelle meines Ichs nur meinen Amtsnamen zu setzen.

Den zwanzigsten Juli brach der Rektor (der Verfasser dieses) mit seinen Nomaden auf, nachdem er ihnen vorher eine leichte[229] Rede vorgelesen, worin er ihnen die Anmut der Reisen überhaupt dartat und von den Schulreisen insbesondere foderte, daß sie sich vom Lukubrieren in nichts unterschieden als im Sitzen. Auf dieses Marschreglement und Missiv wies er nachher auf dem ganzen Wege absichtlich zurück. Es ist mehr stadt- als landkündig, daß eine hübsche acerra – nicht philologica, sondern – culinaria, nämlich ein vierrädiges Proviantschiff samt dem darauf fahrenden Küchen-Personale, welches die Tochter des Rektors war, und die Strafkasse von 12 fl. fränk. als Diätengelder gleichsam die fröhliche Morgenröte waren, zu der die Reisegesellschaft auf ihrer Türschwelle hoffend aufsah. Jeder Primaner führte statt einer elenden Badinen-Gerte oder statt der Narrenkolbe eines Geniepfahls einen nützlichen Meßstab – denn Meßtisch und – schnüre lagen samt einigen Autoren schon im Kabriolett –, weil ja der Fichtelberg und die Straße dahin von den herrlichsten Gegenständen zum Messen wimmeln.

Am ersten Morgen hatte man zwei Reisen auf einmal zu tun, die auf dem Wege und die auf der Karte davon, welches ungemein beschwerlich und lehrreich ist. Der Exkurrens47 trug eine aufgeschlagene Spezialkarte vor sich hin, auf der Fälbel allen leicht das Dorf zeigte, wo sie jedesmal waren; und da man auf diese Weise allemal den Füßen mit den Fingern (wiewohl vier Schuhe höher auf der Karte) nachreisete: so war vielleicht Motion mit Geographie nicht ungeschickt verkettet. Gegenden, Merkwürdigkeiten, Gebäude, die natürlich nicht auf der Karte vorzuweisen waren und vor denen man doch eben vorbeipassierte, mußten aus dem Büsching geschöpft und gelehret werden, den der vife Pflegsohn des Herrn **48, Monsieur Fechser, der Gesellschaft allezeit über die Ortschaften vorlas, wodurch sie eben zog. Der Rektor würde von Herzen gern von den meisten Dörfern[230] neben der neuern Geographie auch die mittlere und alte mitgenommen haben: wären beide letztere Geographien von ihnen zu haben gewesen; aber leider zeigen nur wenige europäische Länder, wie etwan die Türkei, Ortschaften mit doppelten Namen auf. Übrigens ist der Rektor seitdem vollkommen überzeugt, daß die homannischen Karten nichts taugen – in der Tat, wenn auf ihnen (nicht auf der Gegend) ganze Einöden, Wasenmeisterhütten, ausspringende Winkel der Ufer entweder ganz mangeln (wie z.B. ein Pulvermagazin nahe bei Hof und ein etwas weiter abgelegenes Spinnhaus) oder doch dasitzen in ganz falschen Entfernungen: so kann man wohl fragen: ob, wenn man von diesen Gegenden mit der camera obscura einen Aufriß nähme und dann die Karte über den Aufriß legte, ob da wohl beide einander decken würden wie zwei gleiche Ã? –

Abends wanderte die pädagogische Knappschaft und ihr Ladenvater im adeligen Pfarrdorfe Töpen in Voigtland ein. Das allgemeine Logement war im Wirtshaus, das der Vatikan oder das Louvre des adeligen Rittergutsbesitzers stets anschauet – ich sage Louvre, nicht in Vergleichung mit dem Palast des Nero, der ein kleines Rom im großen war, eine Stadt in der Stadt (conf Voss. var. observat.), sondern in Vergleichung mit den zellulösen Kartausen und vier Pfählen und Hattonischen Mäusetürmen eines und des andern Schulmannes. Sapienti sat! – –

Als der Rektor hinter seiner Tochter und seinen Söhnen eintrat: stieß ihm das Unglück zu, daß er seinen Wirt nicht grüßen konnte. Die sämtlichen Hunde der Reisenden hatten zwei Töpener (es war der Spitz – des Hauswirts und der Hühnerhund des Jägers) bei den Haaren und Ohren. Die Tierhatze wurde allgemein, und kein Hund kannte mehr den andern. Der Wirt, ein Mann von Mut und Kopf, legte sich zuerst zwischen die beißenden Mächte als Mediateur und suchte sich zuvöderst den Schwanz seines Hundes herauszufangen und wollte ihn an diesem Hefte aus der verdrüßlichen Affäre ziehen. Mehrere folgten nach, und jeder ergriff den Schwanz des seinigen. Und in diesem Wirrwarr, als die Tochter des Rektors dareinschrie – als der Jäger dareinschlug mit einer Reichsexekutionspeitsche auf Menschen und[231] Vieh – als die Eigner dastanden und gleichsam die sechs Schwanz-Register herausgezogen hatten und als daher sozusagen das Schnarrwerk des Orgelwerks ging und die Tumultuanten bollen – und als der Rektor selber bei diesem Friedenskongreß ein Friedensinstrument, nämlich den Schwanz seines Saufinders, in Händen hatte: so war er mit Not imstande, das Salutieren nachzuholen und zum Wirte zu sagen: ›Guten Abend!‹ – Plutarch, der durch Kleinigkeiten seine Helden am besten malet, und die Odyssee und das Buch Tobias, die beide Hunde haben, müssen hinreichen, gegenwärtige Aufnahme einer kleinen scherzhaften Gato- und Onoskia-Machie zu decken.«

– Herr Fälbel triffts. Ich ärgere mich, wenn die Menschen mit dem Namen »Kleinigkeiten« schelten. Was habt ihr denn anders? Ist denn nicht das ganze Leben – bloß seine erste und seine letzte Minute ausgenommen – daraus gesponnen, und kann man nicht alles Wichtige in einen zusammengedrehten Strang von mehrerern Bagatellen zerzausen? – Unsere Gedanken ausgenommen, aber nicht unsere Handlungen, kriecht alles über Sekunden, jede große Tat, jedes große Leben zerspringt in den Staub der Zeitteile; aber eben deswegen, da alles Große nichts ist als eine größere Zahl von Kleinigkeiten, da also die Vorsehung entweder Kleinigkeiten und Individuen oder gar nichts auf unserem Rund besorgen muß, weil diese nur das Ganze unter einem längern Namen sind: so kommt die Gewißheit zu uns, daß der überirdische Genius nicht bloß die Schwungräder des Universums und die Ströme dazu schuf, sondern auch jeden einzelnen Zahn der Räder ...


»Abends wollten einige Schüler auf die Berge gehen, andere im Dorfe herum, zwei gar zu den allergemeinsten Leuten; aber der Rektor setzte sich dagegen: er stellete denen, die abends die Natur beschauen wollten, vor, daß morgen ohnehin (nach seinem Operations- und Reiseplan) natürliche Theologie und Vergnügen an der Natur dozieret und rekapitulieret werden müßte. Der Rektor, welcher gerne glaubt, ein Schulherr müsse seine Scholaren auf Reisen zu belustigen trachten, wie sogar der Neger-Handelsherr[232] die Sklaven zu tanzen, zu singen, zu lachen nötigt, dieser gab ihnen Befehle zum Lachen, setzte sie um sich herum und scherzte ihnen an einem ovalen Tische nach Vermögen vor. Ich gestehe, Scherz ist statthaft, und wenn der selber scherzhafte Cicero richtig bemerkt, daß gerade ernste Männer gern und glücklich spaßen: so möchte wohl mancher bestäubte Schulmann mehr echten Ansatz zu lachenden Saturen49 verschließen als viele gepuderte Possenreißer; auf ähnliche Weise bemerkte auch der Graf von Buffon, daß die meisten Nachtvögel, besonders die Schubut-Eule (Minervens und Athens Vogel), trotz ihrer altväterischen Außenseite überströmen von Schnurren, Schnacken und Charakterzügen.

Der Abend verlief ungestört: bloß über den vollen Stecken geschwärzter Leberwürste, den Fälbel hereinzuholen befahl und auf den sich die Kirwane gleichsam wie auf einen Fruchtast setzte zum soupierenden Abpflücken, ringelte und fälbelte der Wirt sein Gesicht selber zu einem Wurst-Endchen zusammen (wenns nicht über etwas anders war) – genug Fälbel bekümmerte sich wenig um das Gesicht und ließ es fälbeln. Er bestellte lieber für sich und seine Gesellschaftskavaliere den ganzen Fußboden zum Nachtlager; bloß ein Merseburger Fuhrmann lag neben seiner Tochter, als Strohnachbar.

Dennoch übersetzte uns sämtlich am Morgen darauf der Wirt in seiner Liquidation um zwei bis drei Kreuzer leicht Geld, und zwar an demselben Morgen, wo der Rektor das Vergnügen an der Natur vorzutragen hatte. Aber Fälbel glaubte seinen Schülern das Muster einer erlaubten Sparsamkeit dadurch zu geben, daß er anfing, mit dem Traiteur zu fechten und ihm seinen Abstand von den Herrnhuter und Londner Krämern, die nichts darüberschlagen, so lange unter die Augen zu halten, daß er wirklich einen Groschen herunterhandelte und daß der müde Wirt giftig fluchte und schwor, er wollte den Rektor und seinen Rudel trotz ihren Bratspießen, wenn sie wieder Geräuchertes bei ihm[233] zehren wollten, mit Heugabeln und Dreschflegeln empfangen. Ein lächerlicher Mann!

Fälbels Methode auf lehrreichen Schulreisen ist, jeden Tag eine andere Wissenschaft kursorisch vorzunehmen: heute sollte die Gesellschaft vier Ackerlängen vom fluchenden Garkoch die schöne Natur betrachten unter Anleitung von Sturms Betrachtungen der Natur den ersten Band. Sturm wurde ausgepackt und aufgeschlagen, und jetzt war erforderlich, daß man die Augen vergnügt in der ganzen Gegend herumwarf; aber ganz fatal liefs ab. Nicht etwa darum, weil Regenwolken mit der Sonne aufgingen und weil der Rektor die Sturmische Betrachtung über den dritten Juni und über die Sonne plötzlich wieder zumachen mußte, da er kaum die schönen Worte abgelesen: ›Ich selbst fühle die belebende Kraft der Sonne. Sobald sie über meinen Scheitel aufgeht, breitet sich neue Heiterkeit in meiner Seele aus.‹ – Denn das verschlug wenig, da ja zum Glück in den nämlichen Band auch eine Betrachtung auf den siebenzehnten April und über den Regen eingebunden war, die man denn augenblicklich aufsuchte und verlas; sondern das eigentliche Unglück dabei war, daß, da (es wird wegen der Kürze eines so langen Programmes der Rektor künftig sagen ich) ich folgendes hatte vorbetrachten lassen: ›In dem eigentlichsten Verstand verdient der Regen ein Geschenk des Himmels genannt zu werden. Wer ist imstande, alle Vorteile des Regens zu beschreiben? Lasset uns, meine Brüder, nur einige derselben betrachten!‹ – daß ich dann abschnappte, weil ich mußte – – und wahrlich, wenn vor einem Präzeptor, der mit den Seinigen Sturmische und eigne Betrachtungen über den Regen auf der Kunststraße anzustellen vorhat, jede Minute kreischende Fuhrmannswägen mit stinkendem Kabljau vorüberziehen, unter denen ein keifender Hund unversehrt mit hinspringt – wenn ferner taumelnde Kohorten von Rekruten, die den Schulmann noch stärker ansingen und auslachen als feinere Werbeoffiziere selber, und wenn Extraposten, die er grüßen soll, ihm über den Straßendamm entgegentanzen: so muß er wohl den Pastor Sturm einstecken, es mag regnen oder nicht.

Unverrichteter Sachen kamen wir nach Zedwitz herab. Eine[234] schöne englische Pappelinsel – dem Gutsherrn angehörig – suchte uns über eine kouleurte Holzbrücke in sich zu ziehen; aber der Rektor würde sich diesen Eintritt in ein fremdes Gebiet nicht herausgenommen haben, wenn nicht der erörterte Monsieur Fechser versichert hätte, ›er verantworte es, er kenne den Koch‹. In der Insel wurde so viel ausländische Botanik, als da sozusagen wuchs, getrieben, und ich ging mit meinen Schülern um die Bäume herum und klassifizierte sie meistens: die botanische Lektion hielt vielleicht für die Sturmische schadlos.« –


– Unter der Klassifikation konnte Kordula, seine Tochter, hingehen, wohin sie wollte. Der große Edukationsrat oder Edukationspräsident fragte niemals viel nach ihr oder nach Weibern: »Weiber«, sagte er, »sind wahre Solözismen der Natur, deren peccata splendida und Patavinität, oder geborne Kolumbinen und schlafende Monaden.« Die arme Kordula hatte längst ihre Mutter, die zugleich ihr Vater war, durch den Todesengel von ihrem Herzen wegführen sehen: der alte Sturmische Betrachter hatte sie in die letzte Hütte – gleichsam die Stiftshütte eines künftigen Tempels – hinuntergezankt. Kordula wußte wenig, las nichts, als was sie Sonntags sang, und schrieb keinen Buchstaben als den, womit sie schwarze Wäsche signierte, und sie war weiter nichts als schuldlos und hülflos. Ihr Vater ließ wie die meisten Schulleute – durch die Römer verwöhnt – nichts einer Frau zu, als daß der Körper ein Koch wurde und die Seele eine Köchin. Sie schlich sich heute mit ihrem zusammengedrückten Herzen, in dem noch keine Leiden gewesen als wahre, und das noch nicht von artistischer Empfindsamkeit bis zum Lahm- und Schlaffwerden auf- und zugezogen worden, von der gelehrten Menge ab und setzte sich an das Ufer des Wasser-Ringes, der die schöne Insel, wie ein dunstvoller Hof den Mond, umfasset, und sah eine Pyramide jenseits des Wassers für ein Grabmal an, weil sie keine andere Pyramiden kannte als die über Särgen und weil ihr heute geträumet hatte, ihre Mutter habe wieder mit unverwesten Lippen gelächelt und ihren Arm liebend nach ihr ausgestreckt, aber er sei zu kurz gewesen, weil die Hand davon weggefallen war.[235] Die kunstlose Kordula wußte nicht, welches Druckwerk ihr Herz auseinanderpresse – sie erriet es nicht, daß der mit einer blutigen Morgenröte überspritzte Himmel und daß die zusammenfließende Grasmücken-Kirchenmusik im Tempel der Natur, daß das ruhige Wiegen und Taumeln der Pappeln und die Regentropfen, die ihr Schwanken gleichsam vergoß, daß alles dieses ihre einsame Seele trüber machte und das öde Herz schwerer und das kalte Auge heißer. – – Sie hielt die Schürze, mit deren Frisur die Mutter ihre Näharbeiten beschlossen hatte, aufmerksam und nah an die Augen und begriff nicht, warum sie heute die Naht daran nicht deutlich sehe, und dachte, als sie die Tropfen aus den Augen wegstreifte, sie wären von den Pappeln gefallen ... Aber der Alte, der befahren mußte, sie werde zu naß, pfiff die Beklommene von ihrer Schürze weg ins Zelt unter die Primaner zurück. – O es ist mir jetzt, als säh' und hört' ich in alle eure Häuser hinein, wo ihr, Väter und Ehemänner mit vierschrötigem Herzen und dickstämmiger Seele, beherrschet, ausscheltet, abhärtet und einquetschet die weiche Seele, die euch lieben will und hassen soll das zerrinnende Herz, das eure kotigen schwülichten Fäuste handhaben das bittende Auge, das ihr anbohrt, vielleicht zu ewigen Tränen – – o ihr milden, weichen, unter schweren finstern Schnee gebückten Blumen, was will ich euch wünschen, als daß der Gram, eh' ihr mit besudelten, entfärbten, zerdrückten Blättern verweset, euch mit den Knospen umbeuge und abbreche für den Frühling einer andern Erde? – Und ihr seid schuld, daß ich mich nicht so freuen kann, wenn ich zuweilen eine zartfühlende, unter einer ewigen Sonne blühende Schwester von euch finde, eine hauchende Blume im Wonnemond: denn ich muß denken an diejenigen von euch, deren ödes Leben eine in einer düstern Obstkammer durchfrorne Dezembernacht ist. – – Und doch kann euer Herz etwas Schöners tun als sterben; – sich ergeben. – –


Ich wünschte, ich wäre mit neben dem Kabriolett hergegangen und hätte die stille Kordula in einem fort angeschauet. – –


»Auf der Straße nach Hof sagt' ich meinen Primanern, sie sollten die Bemerkung machen, daß das baireuthische Voigtland[236] mit mehrerern Produkten ausgesteuert sei, mit Korn, Hafer, Kartoffeln, einigem Obst (frischem und getrocknetem) und so weiter; aber man könnte nicht angeben, wie viel.

Auf dem Turm blies man gerade herab, als man mich und meine Genossenschaft die Gassensteine Hofs betreten sah. Ich werd' es darum niemals wie andere aus affektierter Furcht vor Eigenlobe unterdrücken – denn eben dadurch verrät man das größte; und es müssen ja nicht gerade schmeichelhafte Ursachen gewesen sein –, daß bei unserem Einmarsch alle Fenster auf- und alle Köpfe darhinter herausfuhren: deutsche Schul- und lateinische Gymnasiumsjugend sah uns nach, Ladenjungen standen barhaupt unter den Ladentüren, und wer in ein Haus wollte, stockte unter dem Portal. Ich erfragte mühsam einen Gasthof für Fuhrleute, weil ich, wie Swift, da am liebsten logiere. Es hätte mich in Verlegenheit setzen sollen, daß, da ich vor der sächsischen Post das Kabriolett und dessen Kronwache halten ließ, weil ich einen frankierten Brief da abzugeben hatte, den ich selber so weit getragen, um ein mäßigeres Porto zu erschwingen, daß alsdann, sag' ich, ein schöner angenehmer Mensch mit einer grün-taftenen Schürze unter uns trat, der – weil er uns leider für frische Einkehr ansah; denn das Posthaus ist zugleich im großen brandenburgischen Gasthof – meine Tochter herabheben und uns alle empfangen wollte. Ich kam aber nicht sehr außer mir und repetierte gleichgültig meine Nachfrage nach einem gemeinern Gasthof; und es war schön, daß der junge Mensch uns mit einem freundlichen Lachen zum Tore wieder hinauswies – was wir denn taten.

Ich ließ meinen Bart mitten in der weiten Wirtsstube und unter käuenden Fuhrmanns-Geklüften von einem Primaner abnehmen und mein Haar vom Exkurrens auflocken, indes unsere Erbküchenmeisterin unser geräuchertes Gedärm ans Feuer stellte. Möchte der Himmel es fügen, daß ich das arbeitsame Kind bald in einem guten adeligen Hause als Zofe anbrächte!

Ein Reisediener aus einem Handelshause in Pontak diablierte und sakredieurte am Fenster ungefragt über die besten deutschen politischen Zeitungen und beschmitzte besonders die Herrn S. T. Girtanner und Hofmann mit solchen Ekelnamen und Verbalinjurien[237] – wovon ich mir keine nachzusprechen getraue als die geringern von Narren, von Falsariern der Zeit und von geistigen Myrmidonen –, daß ich unter dem Einseifen wünschte, statt meiner würde der Reichsfiskal barbiert oder exzitiert und nähme einen solchen Fratzen beim Flügel. Der gallikanische Tropf gab sich Mühe, sich anzustellen, als wenn er mich und mein reisendes Schnepfenthal gar nicht sähe oder würdigte, obgleich der Geringste unter meinen Leuten mehr von Rebellionen und Regierungsformen – zumal alten – wissen muß als dieser Frankreicher. Ich konnte nur leider unter dem Rasiermesser die Kinnbacken nicht bewegen, um seinem Unsinn entgegenzuarbeiten; aber kaum war ich unter dem Messer hervor, so näherte ich mich dem Menschen höflich und war willens, ihm seinen Irrweg und seinen demokratischen Augenstar zu nehmen und ihn aufzuhellen. Ich verbarg es ihm nicht, ich hätte nie etwas aus der Nationalversammlung gemacht, und die Begriffe, die ich meinen Untergebenen von der jetzigen französischen Vergatterung beigebracht hätte, wären ganz von seinen verschieden. ›Ich gebe indessen doch zu‹, (sagt' ich und ging mit dem Schlucker wider meinen Willen wie mit einem Gelehrten um) ›daß die französische Rottierung weniger diesen Namen als den eines förmlichen Aufstandes verdiene, da sie nicht nur so viele Menschen, als die Gesetze zu einer Rebellion oder turba erfordern, nämlich fünfzehn Mann (L. 4. §. 3. de vi bon. rapt.), wirklich aufzeigt, sondern noch mehrere. Aber Sie müssen mir auch wieder die Strafe einräumen, die die alten, obwohl republikanischen Römer auf Aufstände legten, Kreuzestod, Deportation, Vorschmeißen vor Tiere; ja wenn Sie auch als Christ es mildern und wie Kaiser Justinian, unser Gesetzgeber, sich nur des Galgens bedienen wollen – und das müssen Sie, da sogar die Deutschen, die sonst Mörder und Straßenräuber leben ließen, dennoch Tumultuanten henkten – sehen Sie nur Hellfelden nach –: so sind Sie immer nicht so mild als die alliierten Mächte, die die Nation, weil sie sich in eine Soldateska verkehret hat, auch bloß nach dem Kriegsrecht strafen und nur arkebusieren wollen.‹ Da ich sah, daß ich dem Reisediener zu schwer ward: so bewarb ich mich um Deutlichkeit auf Kosten der Gründlichkeit[238] und wies ihn darauf hin, daß Deszendenten ihren Vater (oder primum adquirentem), Gymnasiasten ihren Rektor und folglich Landeskinder ihren Landesvater unmöglich beherrschen, geschweige absetzen könnten. Ich legte ihm die Frage vor, ob denn wohl das frankreichische Hysteronproteron möglich gewesen wäre, wenn jeder statt der französischen Philosophen die alten Autores edieret und mit Anmerkungen versehen hätte; und ich ersuchte ihn, mir es doch einigermaßen aufzulösen, warum denn gerade mir noch nie ein insurgierender Gedanke gegen meinen gnädigsten Landesherrn eingekommen wäre. ›Der Grund davon ist‹, sagt' ich selber, ›ich treibe meine Klassiker und verachte Painen und seines Gelichters – obwohl ich sie alle gelesen – ganz.‹ – Mich ärgerts, daß ich dem Haselanten noch vorhalten wollte, daß schon die Könige der Tiere, z.B. der Geierkönig, der Adler, der Löwe, ihre eigne Untertanen aufzehrten – daß ein Fürst, wenn er auch nicht einem ganzen Volke wohlwolle, doch einige Individuen daraus versorge und also immer gerade das Umgekehrte jener von französischen Philosophen ersonnenen göttlichen Vorsehung sei, die nur Gattung, nicht Individuen beglücke und daß überhaupt gerade unter einer donnernden und blitzenden Regierung sich ein treues und geduldiges Landeskind am meisten erprobe, so wie sich der Christ gerade in Nöten zeige. Kurz ich wollte den Menschen eines öffentlichen Zeitungskollegiums werthalten; aber der republikanische Hase sang pfeifend in meine Belehrung hinein und ging, ohne ein prosaisches Wort zu sagen, so zur Türe hinaus, daß mir fast vorkam, als verachtete er meine Reden und mich. Indessen bracht' ich diese Belehrung bei meiner Jugend an, wo sie mehr verfing; ich habe sogar vor, wenn wir die Rede gegen den Katilina zu exponieren bekommen, ihnen deutlicher zu zeigen, daß die Pariser Katilinen, Cäsars und Pisistraten sind, die ins alte Staatsgebäude ihre Mauerbrecher setzen ...

Man verstatte mir folgende Digression: ich forschte einen halben Tag in meiner Bibliothek und unter den Nachrichten von den öffentlichen Lehrern des hiesigen Gymnasiums nach, wer von ihnen gegen seinen Landesfürsten rebellieret habe. Ich kann aber[239] zu meiner unbeschreiblichen Freude melden, daß sowohl die größten Philologen und Humanisten – ein Camerarius, Minellius, Danz, Ernesti, der ciceronianische Sprachwerkzeuge und römische Sprachwellen besaß, Herr Heyne, die Chrestomathen Stroth und andere etc. – als auch besonders die verstorbne Session hiesiger Schuldienerschaft von den Rektoren bis zu den Quintussen (inclus.) niemals tumultuieret haben. Männer spielen oder defendieren nie Insurgenten gegen Landesväter und -mütter, Männer, die sämtlich fleißig und kränklich in ihren verschiedenen Klassen von acht Uhr bis elf Uhr dozieren und die zwar Republiken erheben, aber offenbar nur die zwei bekannten auf klassischem Grund und Boden, und das nur wegen der lateinischen und griechischen Sprache.

Das Dozieren und Speisen war vorbei; und wir hätten gut die Hüte nehmen und Hofs öffentliche Gebäude besehen können: wäre mir nicht die Sorge für ein primum mobile obgelegen – für Gestus. Ich sprach den Wirt um seine obere Stube nur borgsweise an (das Bezahlen verlohnten wohl die wenigen Minuten nicht), weil wir droben nichts zu machen hätten als wenige leise elegante Bewegungen.

Ich ließ es nämlich schon lange durch einen meiner Schüler (des größern Eindrucks wegen) in einer öffentlichen Redeübung feststellen, daß der äußere Anstand nicht ganz ohne sei. Fremde Menschen sind gleichsam das Pedal und Manual, welches gelenk zu bearbeiten ohne eine Bachische Finger- und Füßesetzung nicht möglich ist. Ich merke am allerersten, wie sehr ich dadurch von sonst gelehrten Männern abweiche, die solche poetische Figuren des äußern Körpers nicht einmal anempfehlen, geschweige damit selber vorzuleuchten wissen. Es sagt aber Seneka c. 3. de tranquill. ganz gut: ›Niemals ist die Bemühung eines guten Bürgers ganz unnütz; denn er kann durch bloßes Anhören, Ansehen, Aussehen, Winken, durch stumme Hartnäckigkeit, sogar durch den Einhergang selber fruchten (prodest).‹50 Und sollte so etwas denn nicht zuweilen einen Schullehrer erwecken, immer seinen Kopf, Hut,[240] Stock, Leib und Handschuh so zu halten, daß seine Klasse nichts einbüßet, wenn sie sich nach dieser Antike modelt? – ›Wir werden heute‹, sagt' ich in der obern Stube zu den Mimikern, ›Menschen von dem vornehmsten Stande sehen müssen, wir werden uns ins Schulgebäude und in das Billard verfügen – überhaupt werden wir in einer Stadt auf- und abschreiten, die den Ruhm äußerer Politur schon lange behauptet und in der ich am wenigsten wollte, daß ihr den eurigen verspieltet – zum Beispiel: wie würdet ihr lächeln, wenn ihr auf Ansuchen in Gesellschaft etwas zu belächeln hättet? Monsieur Fechser, lächl' Er saturisch!‹ Er trafs nicht ganz – ich linierte ihnen also auf meinen Lippen jenes feine, wohl auseinandergewundne Normal-Lächeln vor, das stets passet; darauf wies ich ihnen das beccierende Lachen, erstlich das bleirechte, wo der Spaß den Mund, wie ein Pflock den Eber-Rüssel auf dem Pürschwagen, aufstülpt, zweitens das waagrechte, das insofern schnitzerhaft werden kann, wenn es den Mund bis zu den Ohrlappen aufschneidet.

Mein Auditorium kopierte mein Lächeln nach, und ich fand solches zwar richtig, aber zu laut. Nun wurden Verbeugungen rekapituliert, und ich nahm alle gymnastische Übungen der Höflichkeit bis auf die kleinste Schwenkung durch. Ich zeigte ihnen, daß ein Mann von echter Lebensart selten den Hintern vorweise, welches ihm freilich entsetzliche Mühe macht. Ich ging daher zur Türe hinaus und kam wieder herein und zog sie mit der leeren Hand so nach der Anstands-Syntaxis zu, daß ich nichts zeigte – ›man soll‹, sagt' ich, ›da man das Ende des Menschen wie das eines Garten durchaus verstecket halten muß, lieber mit dem Ende selber die Türe zudrücken oder gar sie offen lassen, welches viele tun.‹ Jetzt mußte ein Detachement so hinausrücken, daß es mir immer ins Gesicht guckte, und so wieder herein. ›In meiner Jugend‹ (sagt' ich) ›hab' ich mich oft Viertelstunden lange herumgeschoben und rückwärts getrieben, um nur diese Rückpas in meine Gewalt und Füße zu bringen.‹

Der eitle Gallier trauet uns nicht zu, daß wir Generalverbeugungen an ein ganzes Zimmer leicht und zierlich zutage fördern; ich aber schwenkte wenigstens eine allgemeine Verbeugung als[241] Paradigma flüchtig vor und war schon beruhigt, daß meine Leute nur die Spezial-Verbeugung an jeden dasigen Sessel, die faßlicher ist, leidlich nachbrachten. Nach diesen syntaktischen Figuren trabte man eiligst die Treppe hinab, und meine Mimiker repetierten und probierten (zum Spaße) beim Eintritte vor dem Wirte die obige Gestikulation.

Unten in der Stube hatten die zwei Kinder des Wirts eine Brezel angefasset und zerrten spielend daran, wer unter dem Abreißen den größten Bogen behielte. Das Mädchen hatte schon vor dem Essen die linke Hand auf eine rechte Fingerspitze gelegt und andern gewiesen, ›so lang nur hätte sie den Mann (mich) lieb; hingegen die Frau (Kordula) hätte sie so lang lieb‹, wobei sie die linke Hand oben an den Ellenbogen einsetzte. Ich verbargs als Erzieher dem Wirte nicht, daß es seinen Kindern an allgemeiner Menschenliebe fehle, und das Brezelreißen verdürbe sie vollends und nährte Zerstreuung, Eigennutz und Hang zu läppischen Dingen. ›Wo habt ihr euere Schreib- oder Schmierbücher? Setzt euch und schreibt euer Pensum!‹ sagt' ich gebieterisch.« –


– Erwachsene, zumal Weiber, haben sich ordentlich angewöhnt, den Kindern immerfort zu verbieten – wenigstens vorher, eh sie es ihnen erlauben – und alle ihre kleinen Unternehmungen zu schelten, zumal ihre Freuden.

Aber seid doch froh, daß sie sich noch selber keine vergällen! Könnt ihr ihnen denn eine einzige vom Munde weggerissene späterhin wiederholen? Und wär's auch: könnt ihr ihnen denn den jungen durstigen Mund und Gaumen wiederbringen, womit sie sonst jeder süßen Frucht einwuchsen und sich ansogen an sie? Der ewig sparende Mensch, der jedes spätere Vergnügen für ein größeres und weiseres hält, der im Frühling nur wie im Vorzimmer des Sommers lauert und dem an der Gegenwart nichts gefället als die Nachbarschaft der Zukunft, dieser verrenkt den Kopf des springenden Kindes, das, ob es gleich weder vor-noch rückwärts blicken kann, doch bloß vor- und rückwärts genießen soll. Wann mir Eltern durch Gesetzeshämmer und Ruten das Laubhüttenfest der goldnen Kindheit in einen Aschermittwoch verkehret[242] haben und den freien Augarten in einen bangen Gethsemane-Garten: wer reibt mir denn die Farben und malet mir, sobald nur hektische Jugenderinnerungen wie Martyrologien vor mir sitzen, meinen düstern Kopf mit frischen erquickenden Landschaftsstücken des Jugend-Otaheitis in jenen trocknen männlichen Stunden aus, wo man ein amtierendes geschätztes Ding und ein gesetzter ordentlicher Mann ist und außer seinem Brotstudium noch sein hübsches Stückchen Brot und auch sein bißchen Ehre dabei hat und so vor lauter Fort- und Auskommen in der Welt nun nichts weiter in der Welt werden will als des Teufels?


– »Ich führte um ein Uhr meine Leute durch die Hauptstraßen ins Höfische Gymnasium, und wir konnten um so leichter und genauer die ganze Bauart aller Klassen, der Bänke und eines Katheders besichtigen, da glücklicherweise wegen der Ferien keine Seele darin war als der Alumnus, der uns herumführte. Ich vergeude vom großen Kapital meines statistischen Reisejournals noch immer wenig, wenn ich in diesem biographischen im allgemeinen mitteile, daß die Stadt ein Rathaus und vier Kirchen hat. Um diese fünf corpora pia gingen wir bloß prozessionsweise herum, und sie sind ganz gut. Vom letzten öffentlichen Gebäude, in das wir wollten, vermißt' ich sogar die Ruinen, vom Pranger mein' ich.

Ich härte gern junge Leute gegen den Eindruck, den große Zirkel auf sie machen, durch Übung ab. Nach diesem Prinzip führte ich ohne Bedenken meine kleine gelehrte, aber verlegene Sozietät aufs Billard; auch weiß ich nicht, ob einem Schulmann gerade jene façon aisée gebrechen müsse, womit man Assembleen besticht. Ich traf zu meiner größten Freude einen alten Leser meiner unbedeutenden Programmen an, nämlich den vorigen Setzer der hiesigen Offizin. Einige griechische Handelsleute hatten Billard-Queues und zählten neu-griechisch; da ich später auf mein Gesuch mit von der Partie sein durfte: so zählt' ich so gut wie die Griechen meine Bälle neu-griechisch, weil es doch wenigstens vernünftiger ist als französisch mitten in Deutschland.[243]

Ehe wir von Hof abschieden, mußt' ich mit dem Wirte noch einen kleinen Exekutiv- und Injurienprozeß über die Stube führen, wo wir uns verbeugt und gelächelt hatten, weil er sie anschreiben wollte. Ich warf ihm aber nichts hin als den Fehdehandschuh. In solchen Umständen ists Beste, hinter dem nachgeschrienen Pereat und dem Nachstoßen in Famas zweite Trompete gelassen davonzumarschieren und sich nach Ekelnamen, wie der große Themistokles nach Schlägen, aus höhern Absichten nicht umzusehen.

Eine niederfallende Sündflut, die mit uns bis nach Schwarzenbach an der Saale zog, wässerte den Pastor Sturm aus Versehen wie einen Stockfisch ein, und dieser ganze Weg wurde verdrüßlich unter wenigen Lehren zurückgelegt. Ich beruhigte meine Armee über ihre Fatiquen mit den weit größeren der Xenophontischen. Gleichwohl schickte ich im Marktflecken Schwarzenbach, wo wir pernoktierten, einige Primaner herum, die sich überall erkundigen mußten, ob im Flecken kein Insaß oder Fremder wohnhaft wäre, der ein lahmes elendes Bein hätte, woran er spürte, obs fortregnete oder nicht. Denn Hühneraugen sind gleichsam die Fühlhörner und erfrorne Fußzehen die Zeigefinger künftigen Wetters. Dem ganzen Ort aber gebrach es an einem solchen weissagenden Fuß. Ich wäre vermutlich gar umgekehret, wenn mir nicht Mr. Fechser eröffnet hätte, wir könnten seinem vom Fichtelberg zurückmüssenden Herrn Pflegevater entgegengehen, der mehr vom Wetter voraussage als ein Sturmvogel: in Hoffnung eines meteorologischen Responsums beschloß ich den Fortsatz der Schulreise.

Abends reichten bei mir einige fleißige Primaner die Bittschrift um Dispensation zum Kartenspielen ein; ich erteilte sie, aber unter der Einschränkung, ich verstatte so etwas nur auf Reisen (wie geringe Lehrer zu Fastnacht), etwa so wie den Branntewein. Solche, die gar keine Karte kannten, würdigte ich mehr und mahnte sie zum Beharren an; ja um sie gleichsam zu belohnen, setzte ich mich mit ihnen an einen Tisch und gab ihnen – weil hier theoretische Kenntnis ebenso ersprießlich ist, als praktische Übung verderblich – in den gewöhnlichsten Spielarten Unterricht,[244] im Färbeln, im Kauflabeten, Sticheln, im Saufaus und Kuhschwanz. – Darauf mußt' ich mir von der Wirtsmagd den rechten nassen Stiefel, indem ich mich mit dem linken auf ihr Rückgrat aufstemmte, herunterreiten lassen, so arg hatte uns das Wetter zugesetzt.

Morgens wartete ich, nachdem ich eine Fälbelmütze um geringes Geld erstanden – der Winter überteuert alle Mützen –, dem da seßhaften Adel auf, um meine Tochter gleichsam im Hafen einer Domestikenstube abzusetzen. Ich brachte sie nirgends unter; um so reiner ist das Lob, das ich dem dasigen Landadel für die Herablassung erteile, womit er einen Schulmann empfing. Ich wurde – ich kann es nie vergessen – in die Wohnzimmer selber gezogen, über die Zahl meiner Dienstjahre, Intraden und Kinder aufmerksamst ausgefragt und nicht immer ungern (obwohl unwürdig) angehört, wenn ich zuweilen in jener saturischen Manier repartierte, von der ich im Valerius Maximus schöne attische Salzscheiben gekostet und geleckt. In der Tat, ein hoher und niederer Adel ist stets gesonnen, Gelehrte mit ehrenhafter Auszeichnung zu empfangen, nur müssen weder die Körper der Gelehrten (verlangt er) in adeligen Salons Pillorys und Schandpfähle daran gebundener Seelen vorstellen, noch muß der Anzug den Panzern in der Bastille gleichen, die jedes Gliedmaß starr und unbeweglich machten. Und ich lehne mich gar nicht dagegen auf, wenn der Adel noch außer dem Savoir vivre, das aus Büchern geschöpfet werden kann, von bürgerlichen Gästen begehrt, daß sie das weiche Wachs der Biegsamkeit und der Lobsprüche (so wie die Bienen Wachsscheiben aus allen Fugen ihres Unterleibes drücken) in Mienen und Worten nicht knauserisch von sich geben. Jetzt ist überhaupt die Zeit, wo der höfliche Deutsche den frankreichischen Grobian, der sonst den Vorsprung hatte, überflügeln kann.

Wir ließen unter abscheulichem windigen Wetter den Marktflecken hinter uns; dennoch hielt uns – da heute lateinischer Dialog getrieben werden sollte, wozu ich ihnen abends vorher den Terenz und Plautus zum Präparieren hergegeben – nichts ab, durch den ganzen Kirchenlamitzer Wald Lateinisch zu sprechen. Es ist aber wenig durch bloße Kollegien für den Humanisten erbeutet,[245] wenn man nicht wie ich die Materien der Diskurse eigensinnig aushebt und absondert, wie die Grammatiken neuerer Sprachen wirklich tun. Ein Lehrer muß, wenn er das Fruchthorn sachdienlicher Phrasesbücher bis an die Spitze ausschütten will, heute z.B. bloß über die Verehrung der Gottheit oder Gottheiten – morgen bloß über Kleider – übermorgen über Haustiere in der herrlichen Staats- und Hofsprache der Alten reden und jeden andern, für die heutigen Phrases fremden Gedanken verweisen. Nach diesem Normal hatten wir heute – als eines der gewöhnlichsten Entrevuen-Kapitel im gemeinen Leben – lateinisch das Fluchen und Schwören vorzunehmen und abzutun, womit ich noch das Schimpfen verband. Mr. Fechser tat schöne Flüche, die wohl zeigten, daß er den Plautus nicht bestäuben lassen; wieder andere stachen durch Schwüre und mehrere durch Schimpfreden hervor, je nachdem die Memorie glücklich war oder der Fleiß anhaltend oder beide eisern.

In Kirchenlamitz trieb uns ein Guß ins Wirtshaus, wo wir das Fluchen fortsetzten. Ich beobachtete mit einiger Belustigung das Erstaunen so pöbelhafter Menschen, als Wirtsleute sind, das sie befiel, da ich meinen Schülern – an einem solchen Schimpffeste, als die Alten wirklich am Bachusfeste und die Ephesier am 22. Januar begingen und jetzt noch die Neuern an Weinlesen und auf der Themse – schwere Schimpfreden und Flüche aus Sachsenhausen zum Vertieren vorlegte, als: ›Der Teufel soll dich zerreißen, das Donnerwetter soll dich neun Millionen Meilen in den Erdboden schlagen‹; wobei der Lehrer immer mit Phrasen dem Lehrling unter die Arme greifen muß. Ich zog meinen Vorteil davon, als zwei Schüler sich über ihr scherzhaftes Schimpfen im Ernste entzweiten, und verstattete ihnen gern, aufeinander loszuziehen, aber nur in toter Sprache.

Der Himmel durchstach ordentlich seine Dämme, und das Regenwasser hielt uns wie belagerte Holländer im Wirtshause, wo anfangs kein Heller verzehret werden sollte, auf achtzehn Stunden fest. Ich schreibe mit Bedacht nur achtzehn Stunden. Wir wurden nach und nach dem Wirte verdächtig durch mein Fluchen sowohl als durch unser ›Rotwelsch und Judendeutsch‹, um so[246] mehr da ich meiner Tochter – sie hat einige Latinität – alles in lateinischer Mundart anbefahl, was sie – als lebende versio interlinearis – vom Garkoche in deutscher fordern sollte. Dieser Mensch zweifelte, ob es richtig mit uns sei. O dreimal selig ist der Mann, der in einer lateinischen Stadt, die Maupertuis zu bauen angeraten, das Bürgerrecht hat und ein Haus! Dreimal elend ists in Deutschland, wo der gelehrte Mann neben dem allerdümmsten in einer Gasse wohnen muß, indes den Leviten im Alten Testament vierzig eigne Städte zu ihrer Behausung ausgeworfen waren! – Da die Zwecke meiner Herodotschen Reise auch statistisch waren: so wollt' ich ganz natürlich auch hinter die Volks- oder Pöbelmenge in Kirchenlamitz kommen, befragte aber nicht den Restaurateur darum – ich wünsche mir jetzt selber Glück zu dieser und der andern Vorsicht –, sondern schickte meine Kompagnie (aber in Piketts zerstückt, um keinem aufzufallen) im Flecken hausieren herum, um das Personale jeder Familie von weitem auszukundschaften. Dennoch wurde man aufmerksam: abends rottierten sich die Bauern in der Wirtsstube zusammen – schöpften Verdacht aus unserm fahrenden Hundestall und aus unsern geometrischen Sturm- und Laternenpfählen – und sahen sie an spitzten vollends die Ohren, da ich sie (zum Schein) mit schmeichelnden Nachrichten von der Glückssonne der sich auf gleiche Weise rottierenden Franzosen bestach – und gingen (ich wartete es vergeblich ab und blieb auf) nicht von der Stelle. Ich ließ uns eine Stube geben und berichtete leise meinen Leuten: ›ich wäre nur heraufgegangen, um ihnen zu sagen, daß hier unsers Bleibens nicht wäre, sondern daß wir, wenn wir nicht totgeschlagen sein wollten, im ersten Schlafe uns noch mitten in der Nacht aufmachen müßten.‹ Kurz wir wagten es und brachen nach Mitternacht sämtlich kühn genug auf, ohne daß sich die Biergäste – es sei nun wegen unseres mathematischen Gewehrs, oder weil ich wie der große Marius aussah, der bloß mit Mienen seinen Mörder von sich hielt – getraueten, uns im geringsten anzupacken.

Als wir in Marktleuthen eintrafen, wußt' ich im Finstern, daß die Brücke, worüber wir gingen, auf sechs Bogen liegen mußte nach Büsching; es freuet aber ungemein, gedruckte Sachen nachher[247] als wirkliche vor sich zu sehen. Wir schliefen in einem anständigen Wirtshaus bis um neun Uhr auf dem Stroh, weil der Regen auf den Dächern forttrommelte, bis uns ein anderes Trommeln aufstörte. Es sollte nämlich ein Hungar erschossen werden, der von seinem nach den schismatischen Niederlanden gehenden Regimente mehrere Male deserteuret war. Als ich und mein Kollegium hinauskamen, war schon ein Kreis oder ein Stachelgürtel aus Säbeln um den Inquisiten geschlossen. Ich machte gegen einen vornehmen Offizier die scherzhafte Bemerkung, der Kerl ziehe aus der Festung seines Lebens, die man jetzt erobere, ganz ehrenhaft ab, nämlich mit klingendem Spiel, brennender Lunte und einer Kugel im Munde, wenn man ihn anders dahin treffe. Darauf hielt der Malefikant in lateinischer Sprache an: man möchte ihm verstatten, einige Kleidungsstücke, eh' er angefasset und ausgezogen würde, selber herunterzutun, weil er sie gern der alten Waschfrau beim Regimente an Zahlungsstatt für Wäscherlohn vermachen wollte. Ich bekenn' es, einen Mann, der für klassischen Purismus ist, kränken Donatschnitzer, die er nicht korrigieren darf, auf eine eigne Art; so daß ich, als der Delinquent sein militärisches Testament im schnitzerhaftesten Hungarlateine verfertigte, aufgebracht zu meiner Prima sagte: ›Schon für sein Kauderwelsch verdient er das Arkebusieren; auf syntaxin figuratam und Idiotismen dring' ich nicht einmal, aber die Felonien gegen den Priszian muß jeder vermeiden.‹ Gleich darauf warfen ihn drei Kugeln nieder, deren ich mich gleichsam als Saatkörner des Unterrichts oder als Zwirnsterne bediente, um eine und die andere archäologische Bemerkung über die alten Kriegsstrafen daran zu knüpfen und aufzuwickeln. Ich zerstreuete damit glücklich jenes Mitleiden mit dem Malefikanten, gegen das sich schon die Stoiker so deutlich erklärten und das ich nur dem schwächern Geschlechte zugute halte; daher wird es der Billige mit dem Augen-Tauwetter meiner Tochter wegen des Inkulpaten nicht so genau nehmen.« –


– Als ich damals vom Fichtelberg zurückkam: fragt' ich in Marktleuthen selbst das kurze Martyrologium des armen Ungars[248] bei einem Metzger aus, der vor fünf Jahren in Klein-Rom oder Tirnau (der Vaterstadt des Unglücklichen) geschlachtet hatte: der Unglückliche zog mich schon durch das Arkebusieren an, das für meine Phantasie die grausendste Todesart ist, und ich mag einen solchen knienden Armen kaum gemalt sehen. Der größte Verstoß des arkebusierten Warlimini war, daß er dreimal davonlaufen wollte nicht vor den Feinden, sondern vor seinen Kameraden, die ihn eben deswegen erlegen mußten. Ein Gemeiner sollte meines Bedünkens den Bruch seines militärischen Taufbundes wenigstens versparen, bis er Generalissimus oder so etwas würde. Einem Fürsten, einem Generalfeldmarschall bringt es keinen Vorteil, wenn er die Kapitulation hält, weil das so viel ist, als reduziert' er die Regimenter; hingegen dem Füselier, Grenadier etc. bringt das Halten der seinigen wahren Nutzen: er tritt dadurch mit seinen edlern Teilen einer exekutierenden Kugel-Terne aus dem Weg und sparet mithin allezeit seine Brust und sein Kranium einer feindlichen und ehrenvollen Kugel auf, die ihn ins Bette der Ehren herabschießet.

Warlimini war ein guter Narr. Ich und der Fleischer haben nichts davon, daß wir ihn loben und seinem zersplitterten schlaffen Kopfe noch einige Lorbeer-Streu unterbetten; aber warum sollen wir es dem Gelehrten- und Militärstande verbergen, daß der gute Kerl wöchentlich von seinem Mädchen ein oder zwei Schustaks zu Lausewenzel überkam – denn das ganze Mobiliarvermögen bestand in einem warm- und ehrlichschlagenden Herzen – daß sein Wirt, bei dem er sein Traktament vertrank, ihm keinen Heller zu viel anschrieb – daß der Regimentsfeldscher ihm bei jedem Verbande seiner Hiebwunde eine Pfote voll recht gutem Tabak zusteckte – und daß er in seinem ganzen Leben über niemand einen Fluch ausstieß als über sich? Es tat jedem weh, sagte der Fleischer, der eine Flinte auf ihn halten mußte. »Drüben« (sagt' er; denn er ging ein wenig mit mir aus Marktleuthen heraus) »sitzt ein Schafjunge auf seinem Grabe, der pfeift: gleich darneben haben sie ihn nun erschossen. – Als wir den Abend vorher ihn bedauerten, sagt' er, es gehör' ihm nichts Bessers als eine Kugel vor den Kopf, aber er hätte doch, schwur er, für tausend[249] Gulden nicht länger beim Regimente bleiben können.« Ich wollte, ich wäre dazugekommen; ich hätte dem armen Teufel durch die hereinhängende, stinkende Pestwolke auf der letzten Lebensstrecke statt des elenden Lausewenzels oder statt des noch elendern hier gedruckten Weihrauchs echten Knaster hineingelangt, ob ich gleich nicht rauche. Aber den andern Tag hätt' ich nicht abwarten und es etwan von meiner Anhöhe herunter ansehen mögen, wie der arme Kerl in seinem blinkenden Kreise so allein seine Kleider für seine Wäscherin auszog, eine Viertelstunde vor der Ewigkeit – wie man ihm die weiße Binde um die Augen legte, die nun die ganze grüne Erde und den leuchtenden Himmel gleichsam in sein tief ausgehöhltes Grab vor ihm vorauswarf und alles mit einer festen Nacht wie mit einem Grabstein zudeckte Und wenn sie nun vollends über sein tobendes, von quälendem Blute steigendes Herz das papierne kalte gehangen hätten, um das warme gewisser hinter diesem zu durchlöchern: so wäre ja jeder weiche Mensch wankend den Hügel auf der andern Seite hinuntergegangen, um den Umsturz des Zerrissenen nicht zu erblicken, und hätte sich die Ohren verstopft, um den fallenden Donnerschlag nicht zu hören – Aber die Phantasie würde mir dann den Armen desto düsterer gezeigt haben, wie er dakniet in seiner weiten Nacht, abgerissen von den Lebendigen, entfernt von den Toten, von niemand in der Finsternis umgeben als vom witternden Tod, der unsichtbar die eisernen Hände aufzieht und sie zusammenschlägt und zwischen ihnen das blutige Herz zerdrückt nach Äonen müßte, wenn der Mensch über das Grab hinauslitte, diese bange Minute noch wie eine düstre Wolke allein am ausgehellten Eden hängen und nie zerfließen!

Alle diese dunkeln Phantasien kommen mir wieder, wenn ich draußen gehe und höre: hier haben sie den erschossen, dort jene Schlacht geliefert; und es ist ein Glück, daß die Zeit die Gräberhaufen der Erde abträgt und die Kirchhöfe der Schlachtfelder eindrückt und unter Blumen versenkt; weil wir sonst alle von unsern Spaziergängen mit einer Brust voll Seufzer zurückkämen.

Ich überlass' es dem Leser, sich den Halbschatten selber hineinzumalen, über den sein Auge leichter den Weg von meinem Erdschatten[250] zu Fälbels Lichtern nimmt. In unserem Leben ist die Zeit der Halbschatten zwischen Lust und Schmerz, der Zwischenwind zwischen Orkan und Zephyr.


»Da der Himmel noch immer voll Regen war, erachtete ich es für nötig, aufzubrechen und dem Herrn Pflegevater des Mr. Fechsers bis nach Thiersheim, wo er eintreffen mußte, entgegenzureisen, um es lieber einen Tag früher als später zu erfahren, was er vom Wetter halte. Auch wollt' ich da noch außerdem einen allda gehenkten Posträuber in Augenschein nehmen, weil ich einige Moralen aus ihm für die Meinigen ziehen wollte. Aber wir taten uns vor Thiersheim vergeblich nach einem Galgen um: der Spitzbube saß noch und hing noch an nichts als an Ketten.

Hier mußten wir nun zu meinem größten Schaden fünfzehn volle Tage mit Hunden und Pferden liegen bleiben und kostbar zehren, im fruchtlosen Lauern auf dürres Wetter und auf den Herrn Pflegevater des Mr. Fechsers. Und doch soll ich, gleichsam zum Danke für meine Einbuße, hier vor dem Publikum die Handlungsbücher dessen, was ich da mit meiner Klasse getrieben, aufschlagen und extrahieren, weil einige (zu meiner größten Befremdung) sich, wie ich höre, darüber aufgehalten haben, daß ich für jene fünfzehn Tage, die in meine Hundsferien einfielen und in denen ich doch dozieren mußte wie in der Klasse, mich durch eine fünfzehntägige Erweiterung der Kanikularferien meines Schadens hab' erholen müssen: solche Zungen-Kritikaster sollen hier beschämt werden durch den fünfzehntägigen Lektionskatalog eines Mannes, dem man gern die Hälfte seines Hundstags-Sabbats verkürzte.

Am ersten Hundstag mußte die Klasse schriftlichen Rapport von den Personalien und Realien unserer Reise erstatten. – Am zweiten korrigiert' ich den Rapport – setzte die Korrektur am dritten fort – und schloß die Zensur am vierten.

Den fünften ließ ich an einer Thiersheimer Flora arbeiten, den sechsten an einer dergleichen Fauna. Der siebente Tag ist überall frei und des Herrn Ruhetag. Den achten wurde der Plan, gleichsam die Didos-Kühhaut, zu einem neuen Idiotikon der Sechsämter[251] auseinandergebreitet, und der geringste Bauer wurde durch die Lieferung eines einzigen Provinzialismus zum Mitarbeiter daran angenommen. – Ein solcher Idiot hilft sich nur durch einen Idiotismus, den er Gelehrten zinset, wieder ein wenig aus seiner Verächtlichkeit auf. Da ich vor der ganzen Gemeinde unsern verreckten Wachtelhund ungescheuet anfaßte, hinaustrug und einscharrte – wie Prosektores geköpfte Kadaver handhaben –, so nahm ich das allgemeine Erstarren über meine Kühnheit wahr und zugleich die allgemeine Verblendung; ein solcher Abstand aber zwischen dem Vorurteil und der Aufklärung macht es oft einem Gelehrten, der ihn fühlet, sauerer, als man denkt, bescheiden zu sein.

Den neunten setzt' ich bloß aus Liebe zum Gymnasium mein Leben aufs Spiel oder auf den Spielteller. Der Mond setzte nachmittags, als er im Nadir stand, den Güssen einen kleinen Damm, und ich zog daher eilends mit meinem peripatetischen Auditorium, armieret mit geometrischem Heergeräte, aus Thiersheim hinaus, des Vorhabens, Felder zu messen. Draußen war nun noch auf keinem geschnitten; und Boshafte sahen mir überhaupt mit einer so langen anfeindenden Aufmerksamkeit nach – welches mich auf Platos Diktum brachte, gegen einen Rechtschaffenen verschwüre sich am Ende die ganze Welt –, daß ich es nicht probieren wollte, einen Pfahl einzustecken. Zum Glück lagen zwei Fleischersknechte unter entfernten Bäumen auf Rainen im Schlafe. Ich sagte zu meinen Geometern (und zeigte auf die Metzger): ›Wir wollen leise die Weite zweier Örter oder Schlucker messen, zu deren keinem man kommen kann.‹ Wir nahmen auf dem Gemeindeanger alles in der größten Sonnenferne von den zwei Schliffeln vor (man verzeihe: denn indignatio facit versus). Von fernen und still bohrt' ich selber den Meßstab ein und setzte die Mensul in den zweiten Standort. Ich visierte nach dem Stabe und nach dem schlafenden groben Bloch A und nach dem andern Bloch B, ließ den Abstand zwischen dem Stabe und Tische messen und verjüngte ihn richtig auf letzterem. Kurz (denn Nichtfeldmessern würd' ich doch nicht faßlich) wir kamen Wolfen, Kästnern und allen großen Messern pünktlich nach; und hatten[252] endlich wirklich den zwei schnarchenden Grobianen A und B die Ehre angetan, die Schuß- und Brennweite zwischen ihnen akkurat (war nicht Kästner unser Flügelmann?) herauszumessen. Unglücklicherweise wollt' ich meinen Zöglingen die sinnliche Proba über das Exempel vormachen und befahl Monsieur Fechsern, mit der Meßschnur zum Fleischer A zu schleichen, indeß ich mich mit dem Ende der Schnur zum Fleischer B hinaufmachte. Mein Fechser mochte (der Mensch kann nichts dafür) etwan, indem er sich mit der Schnur an den groben Knopf und Kopf A niederkauerte, mit dem Degen dessen Nase leicht überfahren: kurz der Kerl fuhr wie ein Flintenschuß auf und schrie, da er mich über seinen Schlafgesellen mit der Meßschnur hereingeneiget erblickte, die ich an sein Gesicht applizieren wollte, seinem Räubergenossen zu: ›Michel! es verschnürt dir einer den Hals!‹ – Urplötzlich erwacht der Wüterich B – schnellet den Faust-Fallbock gegen mein zu tief hereinsehendes Angesicht – fängt mich mit der andern Klaue wie mit einer Fußangel bei meinem Stiefel und wirft mich durch seinen Wurzelheber notwendig aus dem Gleichgewicht auf den Rain hin – und würde mich vermutlich maustot gemacht haben, wären mir nicht redliche Zöglinge gegen den Meuchelmörder beigesprungen.

Dem Unmenschen (ich meine seiner Moralität) schaden meine passiven Prügel mehr als mir selber, da ich, als Märtyrer der Geometrie, wie der ältere Plinius als einer der Physik, nichts davon habe als – Ehre; auch säuberte ich unterweges die Denkungsart meiner Leute über die Ohrfeigen, indem ich ihnen bewies, daß diese nur bei den größten Feierlichkeiten und Standeserhebungen – bei Zeugschaften, Manumissionen, Freisprechungen der technischen Kornuten, bei Erhebungen aus dem Pagenstand – im Schwange gewesen und noch sind.

Inzwischen mag die gelehrte Welt es diesem Zer-Fleischer (nicht mir) beimessen, wenn ich nachher – aus natürlichem Scheu vor ähnlichen Mißhandlungen – Bedenken trug, von Haus zu Haus zu gehen und zum Vorteil der Landeshistorie (der wichtigsten Resultate zu geschweigen, die daraus zu ziehen wären) die Speichen der Weifen und Wagenräder und die Zacken der Querl[253] zu zählen, ferner die Zylinder der Dreschflegel und der Sonntagsstöcke stereometrisch zu bestimmen – man könnte dadurch freilich hinter die Kräfte derer, die sie bewegen, kommen – und die Gabelweite der Stiefelknechte durch die Longimetrie und die Untiefe der Eßlöffel und Suppenschüsseln mit Visierstäben aus – zu forschen, um aus der erstern auf die Größe der Füße, aus der letztern auf die Größe der Mägen die leichtesten Schlüsse zu ziehen. Ohne die Schläge würd' ich mich, ich gesteh' es, ganz gewiß dieser Mühe unterzogen haben; aber Behandlungen der vorigen Art und kleinere, wie die folgende, frischen wahrlich einen Gelehrten schlecht zur Landesgeschichte an. Ich teilte dem Wirte, als ich auf den Flachsrocken seiner Tochter hinsah, den guten Rat mit, von der Achse des Spinnrades ein dem Wegmesser ähnliches Rad treiben zu lassen, das die Umwälzungen des großen Rades richtig auf einer Scheibe summierte. ›Er kann‹, setzt' ich hinzu, ›leicht wissen, wenn Er wieder nach Hause kömmt, wie viel seine Tochter gesponnen und ob sie nicht gefaulenzet hat.‹ Darauf lachte mir das junge Ding ins Gesicht und sagte: ›Gimpel! das sieht ja der Vater schon am Garne.‹ Aber Gelehrten leg' ich obiges Projekt zum Beurteilen vor. Überhaupt schränkte der Faustschlag des Fleischers meinen Eifer für die Wissenschaften sehr ein. Ich hatte aus wichtigen Gründen vor, den inhaftierten Postdieb Mergenthal zu besuchen; aber ich versagt' es mir. Ich mache nämlich nach meinen Kräften schon seit einigen Jahren ein ganz verwachsenes Feld der Landesgeschichte urbar: die Gerichtsplätze und Rabensteine; ich meine, ich werfe auf die Landesspitzbuben und Landesmörder die nötigsten historischen Blicke und liefere aus dem peinlichen Potosi von Kriminalakten und Diebslisten einen und den andern Ausbeutetaler, weil ich mich überhaupt überrede, jeder Schulmann müsse sich schämen, der nichts über sein Land oder seine Stadt herausgibt. Sollte nicht jede Schuldienerschaft sich in die Äste der Spezial-Geschichte teilen? Könnte nicht der Rektor die Spitzbuben bearbeiten und liefern, die Dekollierten, die Gehenkten? Könnte nicht jeder Unterlehrer seine besondere Landplage nehmen? Der Konrektor die Pestilenzen oder bloßen Epidemien –[254] der Tertius die Viehseuchen – der Kantor die Wassers – – der Quartus die Hungersnöten – der Quintus die Feuersbrünste?

Mir also, als Malefikanten-Plutarch, würd' es sehr wohl angestanden haben, ein historisches Subjekt, noch eh' es gehenkt wird, zu besichtigen; ich stellte aber denen, die mirs rieten, vor, ich führte in den peinlichen Memoires, die ich unter der Feder hätte, die Geschichte eines armen Höfer Schullehrers auf, den ein Dieb, dem er einmal ein Almosen scheltend gereicht, in Leipzig als seinen Komplizen fälschlicherweise angegeben, worauf der ehrliche Schulmann abgeholt, in Leipzig torquiert und mit Not dem Sprenkel des Galgens entrissen worden. Das könnte nun mehrerern rechtschaffenen Leuten begegnen – es könnte mich z.B. der Delinquent Mergenthal, wenn ich ihn besuchte und ihn entweder durch mein Trink- und Saufgeld oder durch mein Gesicht aufbrächte, aus Bosheit denunzieren und aussagen, ich hätte gestohlen mit ihm. Wer haftete mir für das Gegenteil, und wer nähme sich eines unschuldigen Rektors an, wenn ihn ein solcher Post und Ehrenräuber auf die Folter und Galgenleiter versetzet hätte? –

Nachmittags kam endlich der sehnlich erlauerte Herr Pflegevater des Monsieur Fechsers vom Fichtelberge herab und konnte mir sagen, ob ich hinauf könnte, Wetters halber. Er hielt anfangs an sich, und dieser gelehrte Herr äußerte sich zuletzt (viel zu bescheiden) nur dahin: ›er sei wider Willen ein (Wetter-) Prophet in seinem Vaterlande: er könne weissagen, aber mehr auf ganze Quatember voraus als auf den nächsten Tag, so wie die vier großen Propheten leichter eine fremde, erst in Jahrhunderten einfallende Hinrichtung erblickten als ihre eigne, die sich noch bei ihren Lebzeiten begab, oder so wie (eigne Ausdrücke dieses Gelehrten) der Mensch richtiger den Weg der Vorsehung auf Jahrtausende als auf Jahrzehente voraussagt. Überdies; da wir (nach Kant) der Natur die Gesetze geben: so sei ihm wie dem Moralisten mehr daran gelegen, zu bestimmen, wie das Wetter (nach den einfachsten Prinzipien) sein sollte, als wie es wirklich sei, und er habe wohl nicht die Schuld, wenn es die besten Regeln übertrete, die er feststelle.‹ – Indessen verhielt mirs dieser meteorologische[255] Augur doch nicht, daß es jetzt sich aufhelle. Auch trafs bis auf die kleinste Wolke ein: es will etwas sagen.

Inzwischen kam mirs nicht zustatten: der Herr Pflegevater des Monsieur Fechser eröffnete mir, daß ein anderer Gelehrter, Herr Konrektor Helfrecht aus Hof, das Fichtelgebirge, das ich bereisen und beschreiben wollen, schon völlig wörtlich abgeschildert und in Kupfer gestochen habe. Da nun niemand weniger als ich irgendeinem Menschen ein Rad aus seinem Triumphwagen aushebt: so war ich auf der Stelle bereit, auf den Fichtelberg, den ich nun doch nicht mehr beschreiben kann, keinen Fuß zu setzen; vielleicht sticht mir das Schicksal irgendeinen andern Berg zum Postament und Pindus meiner Feder aus.« – –


– Seit Herr Rektor Fälbel jenes geschrieben, hat der gelehrte und rechtschaffene Mann, von dem ich mit ihm sprach, den Anfang zu seinem Werke geliefert; aber ich wünschte, er möchte seine mit einer so fleißigen, wahrheitsliebenden, kenntnisreichen und uneigennützigen Pünktlichkeit entworfene Ichnographie des erhabnen Natur-Festungswerkes, die einen wichtigern Beifall als meinen verdient, endlich ganz unter die Augen des Publikums bringen, damit ihn wenigstens der Unterschied zwischen dem Publikum und einer Stadt aufmunterte, wo man dem eignen individuellen Wohl nicht mehr schaden kann als durch (besonders pädagogische) Verdienste ums allgemeine... Ich könnte ebensogut jede andere deutsche Stadt dafür setzen; denn nur vom Verdienste wird das Verdienst erkannt, und es gehöret oft mehr Patriotismus dazu, Verdienste zu belohnen, als sie zu haben. –


»Was mich ferner vom Fichtelberg herabgezogen hielt, war, daß unser metallenes Schwungräder-Werk zu stocken anfing, das Geld; um aber Fersen-Geld zu geben, muß man vorher Hand – Geld haben, wie alle Regimenter wissen. Ja wir konnten nicht nur nicht vorwärts, sondern auch nicht einmal rückwärts. Und als ich dem Wirte fruchtlos meinen Handschlag als ein Faustpfand und mein Ehrenwort als ein Expektanzdekret ehrlicher Bezahlung offerieret hatte: mußt' ich nur froh sein, daß er meine[256] Tochter als eine Pfandschaft und ein Grundstück zum Versatz annahm und behielt, und ich hatte das Glück, den Ägyptern (den heutigen Kopten) zu ähnlichen, bei denen einer gegen Verpfändung seiner einbalsamierten Blutsverwandten schöne Privatanleihen machen konnte. Ich fuhr daher auf dem leeren Kabriolett, so schnell als meine Klasse und mein Pferd laufen konnten, nach Hause und konnte sowohl der Eile als des Rasselns wegen nicht so viel dozieren, als man wünschen mochte. Hier hatte der Herr Pflegevater des Monsieur Fechsers die ungemeine Güte, mir für eine schwache Beschreibung unserer mühsamen und lehrreichen Klassen-Reise einen Platz in seinen herrlichen Werken auszuleeren und einzuräumen und mir den Ehrensold dafür schon vor der Messe vorzuschießen, damit ich mit dem Gratial meine versetzte Tochter beim Thiersheimer Wirte auslösete. Curate ut valeatis!« –[257]

46

Die Troglodyten und Schaltiere der Museen, wie Falbel, teilen alle Menschen in geräumige Logen ab – z.B. den hohen, niedern, Land-, Stadt-Adel, den Adel im Dienst, bei Hofe, in Ämtern teilen sie in lauter Edelleute ein.

47

Ist unter den Schülern jeder Klasse der frere servant.

48

Es ist mein Pflegsohn, ich lösche aber hier mit Recht Lobsprüche weg die der Herr Rektor wohl nur meinem Stande und dem Zufalle entrichtet, das ich für das Gymnasium einen Schüler mehr dotiere und apanagiere. Auf allen künftigen Blättern des Programms, wo ich vorkomme, will ich Fälbels Titulaturen wegstreichen und dafür in den Text setzen: Herr Pflegvater des Monsieur Fechsers.

49

So schreib' ich Satire, weil diese nach Casaubon vom Wort Satura herkommt, d.h. eine Schrift von buntscheckigem Inhalt; daher lanx satura eine Kompotiere mit allerlei Obst.

50

Doch hier ist das bessere Original: nunquam inutilis est opera civis boni; auditu enim, visu, vultu, nutu, obstinatione tacita incessuque ipso prodest.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 4, München 1959–1963, S. 226-258.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Leben des Quintus Fixlein
Leben des Quintus Fixlein

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Bozena

Bozena

Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.

162 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon