[...] dritte Kautel des Kopfs,
die Parteiliebe

[409] betreffend. »Cela est délicieux; qu'a-t-il dit?« riefen nach La Bruyere die entzückten Weiber aus, wenn sie Boursault hörten. So wird jetzo umgekehrt geurteilt: »Gibt es etwas Abscheulicheres? Ich konnte noch keine Zeile davon ansehen.« – Vor einiger Zeit schwuren wir sämtlich, es gebe – wie nur ein Fieber nach Doktor Reich in Berlin – so nur einen deutschen Dichter, Goethe. Wie jeden Sonnabend in Loretto eine Rede über ein besonderes Wunder der heiligen Maria gehalten wird: so hielten wir eine über jedes besondere in jedem Werke von ihm. Jetzo wird sich besonnen; und in der Tat verdient er, nachdem er dreimal in den olympischen Spielen gesiegt, endlich die Ehre eines ikonischen Bilds. Aber schwerlich kann es jemand anders machen als die Nachwelt, ausgenommen er selber; und ich weiß, da sein größter bester Kritikus tot ist, keinen erträglich-unparteiischen an dessen Stelle zu setzen als ihn selber.[409]

In der Philosophie – – haben je die Juden so viele Pseudo-Messiasse gekannt, oder die Portugiesen so viele Pseudo-Sebastiane, oder, insofern die Philosophen-Schulen ebenso tadeln als loben, die Römer so viele Pseudo- Nerone? –

Welche junge Dichter und Weltweise sind seit 15 Jahren nicht schon von den Ehrenpforten verschüttet worden, durch welche sie ziehen sollten! Überhaupt würd' ich raten, dem Kapitel der Abtei von Citeau zu folgen, welches beschloß, niemand aus dem Orden mehr heilig zu sprechen250, weil der Heiligen zu viel wurde; man sollte meines Einsehens einen oder den andern Adam und Messias festsetzen, aber nicht wieder darauf einen Präadamiten und einen Prä-Präadamiten hinterher. Man verliert seinen Kredit, meine Herren, wenn man ihn zu oft gibt –

Wir hielten, wie bekannt, bei Goethen um einige Sonette an, damit die Gattung legitimiert würde und weiter griffe – denn wir brauchten es nur den Perückenmachern in London nachzutun, welche den König ersuchten, eine Perücke zu tragen, damit sie die Engländer nachtrügen –; allein es ist teils zu wünschen, daß er unsere Bitte nicht zu spät erhöret habe, teils nicht zu ironisch, indem einige von seinen Sonetten weniger nach der Hippokrene als dem Karlsbade schmecken und wirken und nur in der Temperatur mehr von jenem als von diesem Wasser haben, teils daß hier der Geschmack mit jener schönen Täuschung beglücke und wirke, ohne welche die Dichtkunst nichts ist. Denn der Geschmack kanns, er gehört unter die größten Spitzbuben der Erde, die ich kenne. Wenn es ein irriges Gewissen ohne Gewissenlosigkeit geben kann, wie viel leichter einen irrigen Geschmack ohne Geschmacklosigkeit! Beide fehlen nur in der Anwendung ihrer eigenen Reinheit. Und warum? z.B. warum konnte ein Skaliger mit lateinischen Gedichten eines Muretus, ein Römer durch Michel-Angelo, so viele Maler durch unterschobene Stücke betrogen werden, und so viele Kunstrichter (denn ich nenne keinen) durch namenlose Werke? Darum, weil der Geschmack, sobald er das Allgemeine, d.h. den Geist eines Künstlers voraussetzt, dann leicht und geräumig das Besondere (widersteh' es ihm[410] noch so stark) darein bringt und darin sieht. Der beste Beweis ist jeder Autor selber: durch sein ewiges nahes Sichsehen nimmt in ihm seine Individualität die Gestalt der Menschheit an; daher ein Autor mit vielem Geschmacke fremde Werke richten kann, ohne einen in den seinigen zu verraten. Beispiele sind zu – beliebt.

Auch heute, nachdem ich diese Vorlesung mehre Jahre gehalten, gesteh' ich mit Vergnügen, daß ich nicht nur damals recht hatte, sondern auch jetzo. Vergnügt hab' ich die Erfahrung gemacht, daß, so sehr auch einige Poetiker Mehrheit der Schönen und Schönheiten sonst suchen und achten, doch alle, insofern es poetische anbelangt, gleichsam nur eine heiraten und ehelich treu eine andere gar nicht ansehen. So erkannt' ich an dem Letzten Adam Müller doch als einen Poetiker, ob er gleich eine Vermittlung aller ästhetischen Schönheiten versprochen, und klebte ihn in mein Poetiker-Herbarium vivum ein, bloß weil er glücklicherweise erklärte, Novalis sei einer der größten Menschen des vorigen Jahrhunderts, und Fichtens tonfalsche, von Witz, Ironie und Laune als den Hülftruppen verlassene Streit- und Stachelschriftgegen Nicolai sei ein polemisches Meisterstück, und die humoristischen Romane der Engländer seien ihm unpoetische Schülerstücke – Einem andern Poetiker ist Maler Müller im »ersten Erwachen Adams« bei seiner Sprach-Frische und seinem Bilder-Morgentau und seinem orientalischen Feuerpinsel kein Dichter – Einem halben Dutzend ist Fr. Jacobi so wenig ein Philosoph als einem paar Dutzenden ein Dichter – Einem andern und letzten ist der Philologe Wolf ein Mann von zu schwachen Kenntnissen und kraftlosen Kräften, auch Homer ist ihm kein sonderlicher Mann, sondern nur Shakespeare, da es zufolge dieses Poetikersüberhaupt nur einen Dichter geben könne – Dieser letzte Poetiker spricht am schönsten fast alle aus. Denn der vollendete Poetiker erkennt eigentlich nur einer Dichter an, welches genau genommen er selber ist; denn vor einem andern Dichter, dem er gern das Lob des größten läßt, hat er den Vorsprung des Nachsprunges voraus und kann als der spätere sich auf Schultern jenes desto höher stellen, je riesenhafter diese waren; und das Verschweigen einer[411] so klaren Einsicht ist wohl der größte Beweis ihrer (wenn nicht vielleicht zu weit getriebenen) Bescheidenheit. – Aber einem stolzen Poetiker wird auch (muß man zufügen, damit man sich nicht selber für zu wenig bescheiden halte gegen ihn) dadurch Bescheidensein erleichtert, daß er immer an eine geschlossene Gesellschaft denkt, die er allein vorstellt und durch deren Beifall er freilich leicht den Beifall jeder andern größern entbehrt. Wodurch, durch welches Anschauen ist denn überhaupt eine Gottheit selig als durch das ihrer selber? Wer freilich keine ist, muß nicht in-, sondern aus-wärts schauen.

Die bekannte Redefigur pars pro toto (den Teil statt des Ganzen) zu setzen, hilft Poetikern viel zu einer Tatfigur; sie haben ein oder ein paar Mängel festgesetzt, aus welchen sie den ganzen Autor ohne weiteres als den Schuldigen erschließen, da ihnen auch im Ästhetischen, wie den Stoikern im Sittlichen, eine Sünde alle Sünden einbegreift. – Nicht nachteilig, sondern sogar vorteilhaft dabei ist es, wenn sie einen Verurteilten gar nie gelesen; so könnten sie z.B. den guten armen Sünder Batteux ganz verdammen, sobald sie nur nicht, wie ich, ihn gelesen und an ihm den bessern kritischen Geist erkannt, womit er Virgil gegen Homer, Seneka gegen Sophokles, Terenz gegen Plautus, Racine gegen Corneille, und so die Senten zen-Dichtkunst herabsetzt.251 Sind sie fähig, in Ramler zuweilen den Dichter zu finden, und in Klopstock ihn zuweilen (freilich seltner) zu vermissen? Z.B. in Ramlers Mailied die dritte und vierte Strophe:


Daphnis.


Ich sah den jungen Mai;

Seiner Blumen Silberglocken

Hingen um den Schlaf.

Als er vom Himmel fuhr

Blüh'ten alle Wipfel;

Als er den Boden trat

Ließ er Violen und Hyazinthen im Fußtritt zurück.


[412] Rosalinde.


Ich sah den jungen Mai;

Blüte trug der Myrtenzepter

In des Gottes Hand.

Als er vom Himmel fuhr,

Sangen ihm die Lerchen;

Als er zur Erde sank,

Seufzten vor Liebe die Nachtigallen aus allen Gebüschen.


Und so durch das Ganze hindurch. Gegen dieses aus allen Zweigen blühende Lustleben halte man nun die abstrakten durchsichtigen Wogen in Klopstocks unnütz-berühmten Zürchersee:


Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter sein,

Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren

Schnellen Jauchzen des Jünglings,

Sanft, der fühlenden Fanny gleich.


Ferner:


Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender.


Ferner:


Da, da kamest du, Freude!

Vollen Maßes auf uns herab!

Göttin Freude, du selbst! Dich, wir empfanden dich,

Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,

Deiner Unschuld Gespielin,

Die sich über uns ganz ergoß.


Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch,

Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem

In der Jünglinge Herzen

Und die Herzen der Mädchen gießt.

Du machst das Gefühl siegend.[413]

250

Journal de lecture No. II. 1782.

251

Man hat die Unparteilichkeit des Vorschulmeisters mit welcher er aus vergänglichen Werken ebensowohl Beispiele des Schönen als aus unvergänglichen holte, gerade für Parteilichkeit genommen, als hab' er bei jenen mehr gesucht als ein Beispiel in der Nähe.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 409-414.
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