§ 9
Das Talent

[50] Die zweite Stufe ist diese, daß mehre Kräfte vorragen, z.B. der Scharfsinn, Witz, Verstand, mathematische, historische Einbildungkraft u.s.w., indes die Phantasie niedrig steht. Dieses sind die Menschen von Talent, deren Inneres eine Aristokratie oder Monarchie ist, so wie das genialische eine theokratische Republik. Da, scharf genommen, das Talent, nicht das Genie Instinkt hat, d.h. einseitigen Strom aller Kräfte: so entbehrt es aus demselben Grunde die poetische Besonnenheit, aus welchem dem Tiere die menschliche abgeht. Die des Talents ist nur partiell; sie ist nicht jene hohe Sonderung der ganzen innern Welt von sich, sondern nur etwa von der äußern. In dem Doppelchor, welches den ganzen vollstimmigen Menschen fodert, nämlich im poetischen und philosophischen, überschreiet der melodramatische Sprachton des Talents beide Sing-Chöre, geht aber zu den Zuhörern drunten als die einzige deutliche Musik hinunter.

In der Philosophie ist das bloße Talent ausschließend-dogmatisch, sogar mathematisch und daher intolerant (denn die rechte Toleranz wohnt nur im Menschen, der die Menschheit widerspiegelt), und es numeriert die Lehrgebäude und sagt, es wohne No. 1. oder 99. oder so, indes sich der große Philosoph im Wunder der Welt, im Labyrinthe voll unzähliger Zimmer halb über, halb unter der Erde aufhält. Von Natur hasset der talentvolle Philosoph, sobald er seine Philosophie hat, alles Philosophieren; denn nur der Freie liebt Freie. Da er nur quantitativ22 von der Menge verschieden ist: so kann er ihr ganz auffallen, gefallen, vorleuchten, einleuchten und ihr alles sein, ohne Zeit im Moment; denn so hoch er auch stehe, und so lang er auch messe: so braucht sich ja jeder nur als Elle an ihm, dem Kommensurablen, umzuschlagen,[50] sofort hat er dessen Größe; indes das Feuer und der Ton der Qualität nicht an die Ellen und in die Waage der Quantität zu bringen ist. In der Poesie wirkt das Talent mit einzelnen Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reize auf das Volk und ergreift gewaltig mit seinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer Spießbürgerseele ist; denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht Geist, leicht Reize, aber nicht Schönheit. Der ganze Parnaß steht voll von Poesien, die nur helle, auf Verse wie auf Verstärkungflaschen gezogne Prose sind; poetische Blumenblätter, die gleich den botanischen bloß durch das Zusammenziehen der Stengelblätter entstehen. Da es kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies gibt, worauf das Talent im höchsten Feuer nicht auch käme – nur auf das Ganze nicht –: so lässet sich dieses eine Zeitlang mit jenem verwechseln, ja das Talent prangt oft als grüner Hügel neben der kahlen Alpe des Genies, bis es an seiner Nachkommenschaft stirbt, wie jedes Lexikon am bessern. Talente können sich untereinander, als Grade, vernichten und erstatten; Genies, als Gattungen, aber nicht. Bilder, witzige, scharfsinnige, tiefsinnige Gedanken, Sprachkräfte, alle Reize werden bei der Zeit, wie bei dem Polypen, aus der Nahrung zuletzt die Farbe derselben; anfangs bestehlen ein paar Nachahmer, dann das Jahrhundert, und so kommt das talentvolle Gedicht, wie ähnliche Philosophie, die mehr Resultate als Form besitzt, an der Verbreitung um. Hingegen das Ganze oder der Geist kann nie gestohlen werden; und noch im ausgeplünderten Kunstwerk (z.B. im Homer) wohnet er, wie im nachgebeteten Plato, groß und jung und einsam fort. Das Talent hat nichts Vortreffliches, als was nachahmlich ist, z.B. Ramler, Wolff der Philosoph etc. etc.

22

Nur die Majorität und Minorität, ja nur die Minimität und Maximität verstatten diesen Ausdruck; denn eigentlich ist kein Mensch von einem Menschen qualitativ verschieden; der Übergang aus der knechtischen Kindheit in das moralische freie Alter, so wie das Erwachsen und Verwelken der Völker könnte den Stolz, der sich lieber zu den Gattungen als den Stufen zählt, durch diese offenbare Allmacht der Stufen-Entwicklung bekehren.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 50-51.
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