§ 15
Das geniale Ideal

[65] Wenn es der gewöhnliche Mensch gut meint mit seinen Gefühlen, so knüpfet er – wie sonst jeder Christ es tat – das feiste Leben geradezu einem zweiten ätherischen nach dem Tode glaubend an, welches eben zu jenem wie Geist zu Körper passet, nur aber so wenig durch vorherbestimmte Harmonie, Einfluß, Gelegenheit mit ihm verbunden ist, daß anfangs der Leib allein erscheint und waltet, hinterher der Geist. Je weiter ein Wesen vom Mittelpunkte absteht, desto breiter laufen ihm dessen Radien auseinander; und ein dumpfer hohler Polype müßte, wenn er sich ausspräche, mehr Widersprüche in der Schöpfung finden als alle Seefahrer.

Und so findet man denn bei dem Volke innere und äußere Welt, Zeit und Ewigkeit als sittliche oder christliche Antithese bei dem Philosophen als fortgesetzten Gegensatz, nur mit wechselnder[65] Vernichtung der einen Welt durch die andere – bei dem bessern Menschen als wechselndes Verfinstern, wie zwischen Mond und Erde herrscht; bald ist am Janus-Kopfe des Menschen, welcher nach entgegengesetzten Welten schauet, das eine Augenpaar, bald das andere zugeschlossen oder zugedeckt.

Wenn es aber Menschen gibt, in welchen der Instinkt des Göttlichen deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das Irdische anschauen lehrt (anstatt in andern das Irdische ihn); – wenn er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und die zu einem Ganzen machen, da es vor dem Göttlichen nur eines und keinen Widerspruch der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel, und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend darin schwimmen. Daher kann das bloße Talent, das ewig die Götterwelt zum Nebenplaneten oder höchstens zum Saturn-Ring einer erdigen Welt erniedrigt, niemals ideal runden und mit dem Teil kein All ersetzen und erschaffen. Wenn die Greise der Prose, gleich leiblichen versteinert und voll Erde33, uns die Armut, den Kampf mit dem bürgerlichen Leben oder dessen Siege sehen lassen: so wird uns so eng und bang beim Gesicht, als müßten wir die Not wirklich erleben; und in der Tat erlebt man ja doch das Gemälde und dessen Wirkung; und so fehlt immer ihrem Schmerze ein Himmel und sogar ihrer Freude ein Himmel. Sogar das Erhabne der Wirklichkeit treten sie platt, z.B. (wie Leichenpredigten zeigen) das Grab, nämlich das Sterben, dieses Verleben zwischen zwei Welten, und so die Liebe, die Freundschaft. Man begegne wenigstens in dem Wundfieber der Wirklichkeit ihnen nicht, die mit dem Wundpinsel ihrer Dicht-Prose ein neues ins[66] alte impfen, und durch deren Poesien echte nötig werden, um die falsche nur zu verschmerzen.

Wenn hingegen der Genius uns über die Schlachtfelder des Lebens führt: so sehen wir so frei hinüber, als wenn der Ruhm oder die Vaterlandsliebe vorausginge mit den zurückflatternden Fahnen; und neben ihm gewinnt die Dürftigkeit wie vor einem Paar Liebenden eine arkadische Gestalt. Überall macht er das Leben frei und den Tod schön; auf seiner Kugel sehen wir, wie auf dem Meer, die tragenden Segel früher als das schwere Schiff. Auf diese Weise versöhnet, ja vermählt er – wie die Liebe und die Jugend – das unbehülfliche Leben mit dem ätherischen Sinn, so wie am Ufer eines stillen Wassers der äußere und der abgespiegelte Baum aus einer Wurzel nach zwei Himmeln zu wachsen scheinen.

33

Bekanntlich werden im Alter die Gefäße Knorpel und die Knorpel Knochen, und es kommt so lange Erde in den Körper, bis der Körper in die Erde kommt.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 65-67.
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