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[494] Über Tagblätter und Taschenbücher


Unser Lebenbuch wird immer mehr Flugschrift, die nicht still liegt, welche dünn und wenig trägt und fliegt und verfliegt – Von den Luftschiffen an bis zu den Dampfschiffen und Schnellposten beweiset es sich, daß Europa jetzo unterwegs ist und eine Völkerwanderung der andern begegnet. Zu Hause sitzen nur wenige, und zwar auch nur, um sich ihre Läuferschuhe zu besohlen und den Pilgerhut als Pilger nach dem eignen unheiligen Grabe zu befiedern. So werden nun in der Literatur die Flügel zugleich vermehrt und verkleinert, statt zwei schwerer Adlerschwingen in Folio vier dünne Schmetterlingflügel in Sedez. In allen Wissenschaften stehen jetzo dicke Enzyklopädien, denn diese sind eben ins Enge geschraubte Bibliotheken, mobil gemachte Feldbibliotheken – wie es denn jetzo wenig unbewegliche Güter außer den Aktenstößen mehr gibt, sondern nur bewegliche, wie im Mittel alter die Häuser277, oder in dem jetzigen die Grundstücke als Hypothekenscheine und das zu schwere Gold als Papiergeld. – In alle Klubs fliegen Groß-Quartbände, aber in Quartblätter die Blöcke zersägt; und wie im Mittelalter die Pariser Buchhändler ein Buch – da jedes ein seltenes war – in 200 Hefte zerlegten und vier Hefte[494] für zwei Pfennige verliehen278: so wird uns in den Wochenblättern ein einziger Roman in halb so vielen Stücken zugetröpfelt, weil nach Tagen, nicht nach Bänden gelesen wird. So gibt es in Paris Weinkneipen, wo man nicht nach dem Trinkmaße trinkt und bezahlt, sondern nach der Zeit oder der Stunde, daher man in dieser aus dem Fasse aus einem Strohhalm eingeschenkt bekommt. Auf diese Weise bringt denn doch eine Dame ihren Quartanten durch und liest gründlich genug.

Aber am besten zeichnen die deutsche Zeit die Herbstbücher aus, die Taschenbücher. Hab' ich früher manches, was ich gegen sie hatte, in denen selber gesagt, die ich eben verdicken half: so mag eine Anerkennung derselben hinter ihrem Rücken um so unparteiischer lauten. Kein Volk liefert so viele Almanache als das deutsche; es ist, als ob diese Herbstflora gerade den Herbst, der sonst in den Jahrzeiten des noch wilden Deutschlands gar nicht vorkam, recht bezeichnen und überblümen sollte. Diese Flora fällt für die weibliche Welt, welche im Frühling und Sommer auf dem Lande und im Winter in den Zirkeln zu tun hat, gerade am schicklichsten in den Herbst, die Mittelzeit zwischen Spazieren und Tanzen und Spielen, und ist dieses poetische Gewebe, womit die jungen Autoren herbstlich den Parnaß überspinnen, der wahre junge Weibersommer, dichterisch fliegend und mit und von bunten Tautropfen schimmernd. Himmel! wenn man sich erinnert der alten vielpfündigen Folianten, in Bretter, Leder, Messingbeschläge und Klammern gefaßt, gleichsam lederne, mit Messingnägeln besetzte Großvaterstühle des gelehrten Sitzlebens, und wenn man dagegen ein Taschenbüchlein hält: so kann man wahrscheinlich nicht klagen. Aus dem Schweinleder wurde Saffianleder, aus Messingspitzen Goldränder, aus Klammern und Schlössern ein Seidenfutteral, und die Kette, an die man jene Riesen sonst in Bibliotheken legte, wurde ein seidnes Ordenbändchen zum Freimachen. Aber wichtiger ist für Deutschland, daß diese Paradiesvögelchen die oben angepriesenen Enzyklopädien, die schon fliegende Mikrokosmen der gelehrten Makrokosmen sind, wieder von neuem verkleinert enthalten und wie[495] eine Oper fast alles geben. Sie machen hinten Musik auf den kleinen Musikblättern und sogar Tanzfiguren zu jeder andern Musik – sie geben als Gemälde-Ausstellung auf dem Futterale Deckenstücke, vor dem Titelblatte ein Türstück, innen an den Wänden überall Raffaelische Logen – und nach den schönen Künsten wird besonders in Buchstaben reichlich geliefert für die schönen Wissenschaften, hauptsächlich aber für eine Romanenbibliothek im kleinen. Auch das Abendmahl-Brot der Mystik wird zu dünnen Oblaten der Kalenderblättchen verbacken. Sogar Gedichte stehen in mehren Taschenbüchern, und sie mögen nicht unschicklich daran erinnern, daß die frühern in Deutschland mit ihnen unter dem Namen Musenalmanache angefangen, so wie auch die Geschichte bei den Griechen und andern Völkern ihren Anfang in Versen genommen. Inzwischen könnte man sie endlich ganz eingehen lassen, da doch nur wenige Frauen sich durch das Buchbindergold zu diesen Pillen hindurcharbeiten, und die poetischen Flügel an diesen Gerichten nur Schauessen sind, wie die Pfauen und Fasanenflügel, die man in ältern Zeiten ungerupft an dem gebratnen Flügelwerk zur Pracht mit auftrug, ohne daß einer eine Gabel darnach ausstreckte. Daher haben Einige Lieder und Romanzen, z.B. die Goetheschen, lieber in Kupferstiche umgeprägt; und mit gleichem Glücke könnte man auch Metaphern und Sinngedichte in Kupfer stechen, damit das Taschenbuch kein Taschenkrebs würde.

277

Dreyers Miszellen.

278

Meiners Vergleichung des Mittelalters. B. z. Seite 540.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 494-496.
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