§ 1
Poetische Nihilisten

[459] Es kann sein – denn ich wills nicht ableugnen, da doch nach meiner letzten Abfahrt meine Briefe in Druck erscheinen –, daß ich darin Jünglingen und Dichterlingen den Rat gegeben, etwas zu lernen; nämlich so gut nach den Gesetzen der Großsultan außer dem Regieren noch ein Handwerk (nach Rousseau auch der Gelehrte eines): treiben soll, so möge ein junger Schreib- und Dichtkünstler neben dem Dichten noch Wissenschaften treiben, z.B. Sternkunde, Pflanzenkunde, Erdkunde u.s.w. Außer den klassischen Alten, welchen die Jahre und die Lebens-Erfahrungen so viel als uns die Bücher leisteten, und die auf einer reichen Unterlage des Wissens ihre dichterischen Gemälde auftrugen, hab' ich in den Briefen wahrscheinlich noch Goethen angeführt, der sich wirklich auf so viele Wissenschaften gelegt, als hab' er nie einen Vers gemacht. Sogar auf Satire und Humor dehnt' ich meine Sätze aus; denn ich habe die Abschrift eines Briefs mit der klaren Behauptung vor mir, daß beide ohne Gelehrsamkeit nicht ausreifen, wie denn Rabelais, Butler, Swift, Sterne viel gelehrter gewesen als Rabener und andere deutsche Scherztreiber.

Gern nehm' ich aber in der kleinen Vorschule diese auch in die große eingedrungne Meinung zurück, seitdem ich durch mehr als eine Erfahrung mich selber überzeugt, daß viele neuere Dichter wenig oder nichts gelernt, ausgenommen das Schaffen. In der Tat ist das Leere unerschöpflich, nicht das Volle, aus dem Luftmeer ist länger zu schöpfen als aus dem Wassermeer; und dies ist eben die rechte schriftstellerische Schöpfung aus nichts, nämlich aus sich, welche uns messenweise das Bücher-All von Romanen und Gedichten zur Verehrung der Schöpfer auftut. Dabei brauchen sie nicht einmal sechs Tagewerke der Schöpfung, sondern[459] nur einen Ruhetag, wodurch sie selber, wie nachher die Leser, von den geistigen Anstrengungen der Woche hinlänglich ausruhen.

Ich hoffe, wir haben mehr als einen Romanschreiber aufzuweisen, der, ohne andere Schätze in seinem Kopfe zu haben als seinen einfachen Wasserschatz, die mannigfaltigsten Formen von Geschichten und Gedichten für Ostern und für Michaelis zu geben weiß, so wie ein geschickter Wasserwerker sein Springwasser bald als Glocke, als Feuergarbe, ja als Trinkgefäß aus den Röhren steigen läßt.

So nehme man doch ein Beispiel an Schriftstellerinnen, welche, viel unwissender als Schriftsteller, sich so auszeichnen und wie die Bienen, ohne einen Grund gelegt zu haben, ihr Gebäude sogleich oben anfangen und herabbauen. So ließ Lykurg nach Plutarch der Jugend nur wenig Nahrung zu, erstlich damit sie eifriger aufs Stehlen ausginge, und zweitens damit sie mehr ins Lange wüchse. Dies läßt sich geistig bedenken und verwenden; ein Dichter, der wenig liest, wird schon ein paar Bände mehr schreiben als ein anderer; und dann wird er, da er außer den Dichtern nichts anders studiert, diese am reinsten wiedergeben und am besten behalten, zum Mitteilen und Verarbeiten.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 459-460.
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