§ 15
Unser Segen an Trauerspielen

[475] Das Ende des vorigen Programms und Paragraphen ist ein guter Anfang des gegenwärtigen. Selten erbricht der Verfasser dies ein dickes Post-Paket, ohne die Furcht und das Mitleid mit sich selber zu haben, daß wieder eine Tragödie herausfahren werde, die ihm beide nach Aristoteles reinigen will; und hat er endlich die papiernen Wickelkissen sämtlich aufgemacht, so steht wirklich Melpomene mit dem Dolche da und will ihn damit reinigen. Gewöhnlich schickt ein Jüngling die Muse. Warum macht nun ein deutscher am leichtesten, was nach Aristoteles gerade am schwersten ist? Erstlich eben deshalb und läßt weit den Äschylus hinter sich, der erst im 40ten Jahre, und den Euripides, der im 43ten etwas gab; und zweitens, weil seine Fiebernatur zwischen Sied- und Gefrierpunkt als zwei Punkten seiner Lebensellipse zu springen nötigt. Er will gern sein gärendes Leben und seine hinaus arbeitenden Kräfte in einem Nu, durch eine Tat, also durch ein Höchstes lüften; daher seine Neigung zu Krieg, Zweikampf, Renommisterei und – Poesie. Das Trauerspiel sieht nun der Jüngling[475] für eine Sammlung von Oden und Elegien an, welche alle die lyrischen Empfindungen, womit ihn die Jugendzeit überfüllt, geräumig aufnimmt. Er glaubt aber, was er recht lebendig in sich fühlt, das trete schon von selber mit Sprache in die Welt hinaus und rede draußen so laut wie innen. Nur ists nicht völlig wahr. Der Empfindung ist nicht die Form angeboren, so wie nicht der Form die Empfindung. Ein paar hundert Dichterjünglinge gleichen daher mit ihren poetischen Empfindungen den Drohnen, welche so gut wie die Bienen Honig saugen und in der Honigblase bewahren; da sie aber keine Wachszellen bauen können, verdauen sie den Honig selber.

Noch etwas zieht den Dolch der Melpomene aus der Scheide die politische wolkenvolle Zeit, durch deren Himmel Morgenrot, Hagel-, Heuschreckenwolken, Donnerwolken, Wolkenbrüche und Regenbogen gingen, bis auf ein Abendrot der Hoffnung, das noch daran steht, obwohl etwas ergrauend. Der Krieg, dieses Trauerspiel mit Chören aus Völkern, spiegelte sich im Jünglings-Geiste als ein Trauerspiel, wurde ein blutrotes Glas, durch welches er die Welt ansah und abmalte für die Bühne; und er schuf sich ein dichterisches Walhalla, wo die Helden Wunden schlugen und bekamen, die sich jeden Abend schlossen mit dem – Theater.

Der Verfasser dies gab weiter oben zu verstehen, er fürchte sich, ein Trauerspiel zu entsiegeln, gleichsam einen Brief zu erbrechen, der auf ihn schießt, geöffnet. Denn freilich wär' ihm ein frankiertes Lustspiel von der Post lieber in seinen alten Tagen, da das Alter lieber im Sokkus als auf dem Kothurnus geht. Man wünschte gern nach den Lebens-Aschermittwochen voll tragischer Grab-Asche und Buße so etwas Fastnachtzeit; aber anders als im Leben fällt in der Jünglings-Poesie der tragische Aschermittwoch früher als die Fastnacht. Indes fängt immer – dieses bringe man auch in die Rechnung – ein Jüngling besser mit einem Dichtwerke an, das strenge Form verlangt, als mit einem, das die weiteste verträgt, besser mit dem Trauerspiel, das wie Saturns Bildsäule zwar nicht gebundne Flügel, aber gebundne Füße hat, als mit dem Roman, der gewöhnlich wie Käfer nur winzige Florflügel und breite Flügeldecken zeigt.[476]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 475-477.
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