§ 16

[477] Über die Rührung


Rührung ist nur Mitleiden bei einem fremden Schmerze. »Aber«, sagt der scharfsinnige Herbart, »an sich ist ja das Mitleiden nichts als eine Verdoppelung der Leiden, indem die fremden auch zu meinen werden.« Allein es gibt nur ein Mitleiden, hingegen vielartige Leiden; und in jenem kommt nicht der fremde Schmerz in Gestalt eines eignen vor. Vergißt man denn immer, daß jede moralische Vollkommenheit und Unvollkommenheit des andern von uns mit einer ganz ändern Empfindung wahrgenommen wird als von ihm selber – folglich auch sein Schmerz, so wie seine Lust –, so daß man z.B. nur den andern, nicht sich lieben oder hassen, aber nie das trunkne, erquickende Gefühl der Liebe für einen andern als fremden Wert empfinden kann, so wie das abstoßende des Hasses? – So erregt denn auch der fremde Seelenschmerz (jeder leibliche wird ja geistiger) die ganz eigne, der Liebe verwandte Empfindung des Mitleidens, die sich aus der Liebe für den Gegenstand und aus der Vorstellung von dessen Unglück zusammenmischt. Diese allein hingegen ohne Liebe würde nur die Empfindung der fremden Strafe oder auch der Rachsucht geben. Gegen sich selber aber kann der Mensch aus Mangel einer Liebe gegen sich kein Mitleiden empfinden, und folglich keine Rührung durch eigne Schmerzen – ausgenommen wenn er, in der Täuschung und Überwältigung des Gefühls sich selber entrückt, sich für eine fremde Person ansieht und als solche beweint. Nur über andere, nicht über sich kann das heiligende Taufwasser der Träne fließen; und sogar mit der Trauerträne weinen wir nicht über uns, sondern um den toten Geliebten, welchem die Phantasie und die sinnliche Gegenwart trotz allem Glauben an sein besseres Leben ein zerstörtes, entbehrendes leihen, das vollends durch die von seiner Abwesenheit gesteigerte Liebe uns noch heftiger verwundet.

Die Träne selber übrigens ist nur der körperliche Nilmesser des Austretens irgendeines Gefühls, der Tautropfe des Danks, das Haderwasser des Grimms, die Libation der Freude, – kurz[477] ihre Tropfen bilden den Regenbogen aus allen Farben der Empfindungen.

Wie bringt nun der Dichter die Rührung, dieses Mitleiden mit einem fremden Schmerze, im Leser hervor? Es ist viel schwieriger, als man annimmt; der Mann wird leichter lachen als weinen, ja sogar leichter sich erheben, da die Größen des All ihm das Gefühl des Erhabenen gewaltsam aufdringen. Horazens Regel: »Weine, wenn ich weinen soll«, widerspricht, falsch verstanden, der andern Regel: »Der Dichter lache nicht vor, wenn der Leser nachlachen soll.« Wir haben aus jenen weinerlichen Zeiten, wo jedes Herz eine Herzwassersucht haben sollte, ganze nasse Bände, worin wie vor schlechtem Wetter Phöbus in einem fort Wasser zieht, uns aber damit nur desto mehr austrocknet. Woran nun liegts? Daran, daß der Schriftsteller sein Mitleiden und nicht das fremde Leiden darstellt und durch jenes dieses malen wollte, anstatt umgekehrt. Daher erstreckt sich das Reich der Rührung am meisten über die tragische Bühne, welche bloß das Unglück und den Schmerz langsam entwickelt, das Mitleiden aber, das sonst der Schriftsteller auszusprechen sucht, dem Zuschauer anheimstellt. Ein Meister in andern Darstellungen gebe mir hier das Muster einer mißlungensten, nämlich Thümmel. Eine Wahnsinnige im Irrenhause273, körperlich und geistig von hoher Bildung, verflucht den treulosen Geliebten, dessen Pfand der unglücklichsten Liebe sie unter ihrem jammervoll pochenden Herzen trägt, das aber nach den Versicherungen des Arztes sich in der Stunde der Entbindung beruhigen und herstellen wird – – für diese Unglückliche will er uns Rührung mitteilen durch folgendes Mitleiden, das der Weltmann mit ihr hat: sein Herz war zusammengedrückt wie ein blutiger Schwamm (S. 61) – ihr Auge begegnete dem Tränenstrom des seinigen (S. 62) – der Tenor ihrer Klagstimme ergriff sein totbanges Herz (S. 63) – die Szene faßte sein sträubendes Haar mit unwiderstehlicher Gewalt und lähmte seine Glieder (S. 72) – drohte sein armes Herz zu zerreiben, die Gewalt des Jammers hatte ihn unwissend zu Boden geworfen, kniend flehte er Gott um Linderung (S. 73) – seine zerbeizten Augen[478] starrten vor sich (S. 76) – und die Stille, die nach einem solchen Aufruhr sein Gehör überfiel, erleichterte sein blutendes Herz, um es desto heftigern Nachwehen preiszugeben (S. 77) – suchte er ein zweites Schnupftuch, denn das gebrauchte war ganz durchnäßt von Tränen (S. 88). –

Ein solches, ohnehin für einen Mann und Weltmann übertreibendes Mitleiden erkältet durch seine Künstelei auch die wenigen Seiten, wo der Schmerz die Seele erwärmt hatte. Himmel! wie weiß der Großmeister der Rührung wie der Laune, Sterne, die Träne zu rufen, ohne seine Stimme einzumischen, indem er bloß das wundenvolle blutende Wesen entschleiert! Er läßt z.B. die Geschichte der wahnsinnigen Maria, die ihren Jammer bloß auf der Flöte vor der heiligen Jungfrau aussprach, von dem Postillon mit halben Winken geben; dann ging er zu ihr und ihrer Ziege, und endlich erzählte sie ihm – wieder auf der Flöte – »eine solche Geschichte des Jammers, daß er aufstand und mit schwankenden Schritten langsam nach seinem Wagen ging« (Tristram Shandy, Vol. 9. ch. 24). – Und so wenig oberflächlich, sondern so bis in die feste Tiefe hinein bewegt er das Herz, daß, wie in Mariens Geschichte, sogar neben den scherzhaften Wendungen die Rührung besteht, ja wächst, und neben der Träne des Lachens die des Mitleidens fortfließt.

Nicht das ausgesprochne Mitleiden des Malers kann rühren, denn dieses ist eines und dasselbe für den vielgestaltigen Schmerz, der wie der indische Chrishna auf der Erde in tausend Menschwerdungen erscheint, und gibt der Anschauung nur abstrakte Zeichen der Empfindung, nur Worte; sondern die Ursache des Mitleidens vermag es, die den fremden Schmerz, zergliedert in seine auseinander- und aufeinanderfolgenden Gestalten, dem Auge vorüberführt. Dieses sich selber motivierende Zeit- und Raum Aufeinander der Wunden überwältigt unser Herz siegreich, ohne einen einzigen vorlauten Seufzer des Malers, ja des Gegenstandes, am meisten auf der tragischen Bühne; und Schillers Muse stand auf ihr als ein Taufengel mit Tränenweihwasser, als Thekla mit ruhig gehaltener Gebärde das Sterben ihres Geliebten unter Pferdefüßen anhörte. Aber freilich ist nicht das bloße Verstummen[479] des Künstlers an sich ein Wehklagen seines Gebildes, sondern wenn jener alte Maler den unaussprechlichen und sprachlosen Schmerz des Trauervaters durch eine Hülle über dessen Haupte bedeckte und aufdeckte: so mußten ihm vorher die andern Mitklagenden mit enthüllten Schmerzen weinend vorausgegangen sein, und das nächste Jammerauge hinter dem Vater konnte schon nicht mehr weinen.

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Im neunten Bande seiner Reise etc.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 477-480.
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