Dritte Viertelstunde
Eine Literaturzeitung der Restanten

[504] Eine solche Literaturzeitung ist wohl die allernötigste. Der Zufall wählte, der Zufall vergaß bisher. Die Werkchen werden gewisser beurteilt als Werke, und weitläuftiger dazu. Die kritischen Gewebe hangen voll Taschenbücher oder bunter Mückchen und lassen kein einziges ohne Zergliederung aller seiner mikroskopischen Eingeweide durch, aber die Bienen, die (geistig und leiblich) schwersten Werke, fangen sie selten auf. Bloß aber Predigtbücher predigen Rezensenten aus ihren Kanzeln und über philologische Schriften dozieren sie aus ihren Kathedern hinreichend, folglich beides stromweise. Über manche – zumal allgemein gelesene Werke, sobald sie einmal von ein paar Zeitungen Urteile erbeutet, fällen dann alle übrigen die ihrigen dazu, weil sie untereinander dadurch ihrer Urteilkraft nur das Fortziehen, nicht den ersten Zug der Last aufbürden, ja sie geben zwei Urteile über das nämliche Buch, indem sie ein anderes mit gar keinem bezeichnen. Wird aber nicht durch diese Unvollständigkeit dem Publikum die Kenntnis und den Autoren der Doppellohn der Zurechtweisung und der Förderung geraubt? Und soll der verdienstreiche wie der fehlerreiche Schriftsteller in demselben limbus patrum der Vergessenheit aufbehalten bleiben? Rezensionen greifen mehr ein und an, als selber die wissen, welche sich über sie erheben. Mancher stolze Autor vollendete sein Werk oder gar (wie Leisewitz) seine Bahn nicht, weil er getadelt wurde. Manche andere Dichter lassen ihre Elefantenkraft von einem kleinen kritischen Kornak freiwillig lenken, wenn sie ihn nicht eben vom Halse schütteln und treten. Der gehoffte oder der empfangne Lorbeerkranz ist der leichte Strohkranz, mit welchem Wasserträgerinnen am vollen Eimer das Überschweppen hindern. So kann wieder ein unbedeutender, aber anonymer Rezensent, der in seinem Leben kein Buch herausbrächte, ein fremdes anbrüten und aus der Schale lösen, so wie der Hühnerkot Eier so gut ausbrütet als die legende Henne.

Was gibt es nun für so viele übergangne, aller Rezensionen beraubte Werke für ein Hülf- und Heilmittel? – Ein ganz nahes,[504] nämlich einen Redakteur oder Buchhändler, der eine Literaturzeitung der Restanten herausgäbe, welche etwan alle fünf Jahre den vergeßnen oder übersehenen Werken aus allen Journalen ein kleines postjustinianisches Recht widerfahren ließe. – Und wäre das Journal denn etwas anderes als ein kleines Jüngstes Gericht, das, gleich dem theologischen, die Bücherseelen für den Himmel oder die Hölle bestimmte mehre Jahre nach ihrem Ableben und sogar nach ihrem vorläufigen Aufenthalte in dem nun dekretierten Himmelsaal oder Höllenpfuhl? – Wäre nicht eine solche Restantenzeitung das Ergänzblatt aller Ergänzblätter und schöbe nicht zu lange auf? – Und könnt' es ihr je an Bogen und an Lesern fehlen? – Und ließe sich mein Vorschlag in der dritten Viertelstunde der Jubilatevorlesung nicht so erweitern, umarbeiten und veredeln, daß am Ende gar nichts mehr von ihm übrig bliebe als der Redakteur?

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 504-505.
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