§ 6
Die Nachahmer der Griechenkunst

[464] Gegen die Ruhe der alten Künstler – auch im Leben – welche unmoralische Unruhe und Leidenschaftlichkeit der neuern, wie im Leben, so im Schreiben! Die alten Dichter, als Lehrer und Schüler der Weisheit, sind Paradiesvögel mit langem schimmern den Gefieder, in das kein aufblasender Sturm unter dem Fliegen zum Forttreiben wehen darf; die jungen neuern sind Täucher und Sumpfvögel, in zwei Elementen unruhig auf- und niederfahrend[464] und so leicht zum Schlamm hinab als in das Blau hinauf. – Schöne Geister sind selten schöne Seelen.

Man hat nun zweierlei Nachahmungen der Griechen. Die erste glänzt in den Gedichten, welche die griechische Einfachheit und Schmucklosigkeit, ihre poetischen Blumen, ähnlich den grünen Blumen als den seltensten, dadurch zu uns herüberzupflanzen suchen, daß sie uns grünes Gras – immer die nämlich Farbe schenken. So stempelt man denn einheimische Armut zu ausländischem Reichtum.

Eine zweite Nachahmung läßt sich in Versen und in Prose zustande bringen, wenn man ganze Stücke und Phrasen aus dem Altertum holt und damit Stil und Vers behängt und ausschmückt, so wie etwan die Indier auf den Marquesas-Inseln (nach Marchand) sich ganze europäische Werkzeuge als Putzwerk anziehen und z.B. Balbierbecken als Ringkragen und Ladstöcke als Ohrgehenke tragen.

Dann hat man noch die dritte und vierte Nachahmung, die ich aber die umgekehrte nennen kann, welche teils in der Form, teils im Stoffe, gleichsam Worten und Werken, besteht. Die umgekehrte in Form oder Worten wird dadurch vollendet, daß ein Rektor, ein Konrektor, ein Professor der alten Sprachen, kurz ein Humanist, in Hinsicht auf Sprachreinheit, Rundung und Zierde gerade von der alten, die er täglich liest und lesen läßt, das Widerspiel nachahmt in seiner deutschen Prose und sozusagen schlecht deutsch schreibt, so daß ein solcher Fisch, der jahrelang in attischem Salz schwelgte, sich gleichwohl damit so wenig sättigt als ein Hering, der, sein Leben im Meerwasser zubringend, doch ungesalzen ans Land gezogen wird. – Wider Erwarten schreiben die Sprachgelehrten Voß und Jacobs ein Musterdeutsch; aber ihr eigner Dichtergeist gibt ihnen die Prose ein.

Die vierte, aber umgekehrte Nachahmung betrifft den Stoff oder Geist der Alten, insofern er sich in Werken ausspricht. Der umkehrende Nachahmer und Humanist handelt nun im gemeinen Leben, wenn von Amtbewerbungen und Amtertragen und Patronen und gehaltvoller Selbererniedrigung die Rede ist, mehr wie es einem heutigen Deutschen zusteht als wie einem alten[465] Griechen oder Römer, dessen Lebenbeschreibung – obwohl nicht dessen Leben – er im Plutarch gern nachahmt.

Ich weiß nicht, was nach den zwei ersten Nachahmungen der Alten wichtiger ist, besonders für den Staat, als die beiden umkehrenden, durch welche erst jene den wahren, rechten Wert gewinnen. Denn es ist mit dem Geiste der Alten, mit ihrem Freiheitgeiste und sonstigen Geiste, wie mit dem Quecksilber, bei welchem der Arzt die erste große Mühe hat, es in den lustsiechen Körper zum Reinigen hineinzubringen, und dann die zweite, noch größere, dasselbe zur Nachkur wieder aus ihm hinauszutreiben. Ebenso ist es nicht genug, den Gelehrten und der Jugend die Alten gegen die Unwissenheit beigebracht zu haben, sondern nun muß noch die Nachkur des Staats dazukommen, die das mit unserer Konstitution unverträgliche Glanzgift wieder herausnötigt. Und auf eine gewisse Weise mag wohl die Ähnlichkeit mit dem Quecksilber fortdauern, daß man, wie Ärzte tun, durch Auflegung von Goldblättchen und Eingebung von Goldpillen den Körper am glücklichsten vom Merkurius befreiet.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 464-466.
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