§ 61
Ausdruck des Charakters durch Handlung und Rede

[227] Der Charakter spricht sich durch Handlungen und durch Rede aus; aber durch individuelle. Nicht was er tut, sondern wie ers tut, zeigt ihn; das Wegschenken, das in der Wirklichkeit so sehr den bloßen Zuschauer ergreift, lässet diesen vor der Bühne oder dem Buche ganz kalt und matt; im Leben erklärt die Tat das Herz, im Dichten das Herz die Tat.154 Es ist leicht, einem moralischen Heros Aufopferungen und festen Stand und andere Taten durch eine einzige Schreibfeder einzuimpfen; aber diese willkürlichen Allgemeinheiten und Anhängsel fallen ohne Früchte von ihm ab. Eine innere Notwendigkeit gerade dieser bestimmten Handlung muß sich vor oder mit ihr entdecken; und diese muß weniger den Charakter als dieser sie bezeichnen und bestimmen. Nicht das leichte leere Hingehen oder vielmehr Hinschicken in einen Tod, sondern irgendeine Miene, eine Bewegung, ein Laut unterwegs, der plötzlich die Wolke von einer Sonnen-Seele weghebt, entscheidet. Daher kann keine einzige Handlung auf dieselbe Weise zweien Charakteren zukommen, oder sie bedeutet nichts.

Rede gilt daher völlig der Handlung gleich, ja oft mehr; freilich nicht eine, wodurch der Charakter sich selber zum Malen oder zur Beichte sitzt oder eine interpretatio authentica von sich oder Noten ohne eignen Text abliefert; sondern jene reinen oder Wurzelworte des Charakters, jene Polar-Enden, welche auf einmal ein Abstoßen durch ein Anziehen offenbaren; es sind jene Worte, welche als Endreime eine ganze innere Vergangenheit beschließen oder als Assonanzen eine ganze innere Zukunft ansagen, wie z.B. das bekannte »moi« der Medea. Welche Handlung könnte dieses Wort aufwiegen? – So antwortet ebensogroß in Goethens Tasso die Fürstin auf die Frage der Freundin, was ihr nach einem[227] so oft getrübten, so selten erleuchteten Leben übrig bleibe: die Geduld. Da den Reden leichter und mehr Bedeutung und Bestimmung zu geben ist als den Handlungen: so ist der Mund als Pforte des Geisterreichs wichtiger als der ganze handelnde Leib, welcher doch am Ende unter allen Gliedern auch die Lippe regen muß. So gibt uns z.B. das Jagen und Reuten und Stürzen der natürlichen Tochter von Goethe nur eine kalte Voraussetzung, keine innere Anschauung ihres Mutes; hingegen in de la Motte Fouqués Nordtrauerspielen stehen oft Knaben ohne Taten durch bloße Schlagworte als junge Löwen da und zeigen die kleine Tatze. Klopstocks Helden im Hermann kokettieren zu sehr mit ihrer Unerschrockenheit und machen zu viele Worte davon, daß sie nicht viel Worte machten, sondern statt der Zunge lieber den Löwenschweif bewegten. – Warum stehen in der Regenten-Geschichte und in der Gelehrten-Nekrologie die Charaktere so nebel- und wasserfarbig und verflossen da? Und warum gehen bloß in der alten Geschichte alle Häupter der Schulen und der Staaten mit allen blühenden Farben des Lebens auf und ab? – Bloß darum, weil die neuere Geschichte keine Einfälle der Helden aufschreibt, wie Plutarch in seinem göttlichen Vademekum. Die Tat ist ja vieldeutig und äußerlich, aber das Wort bestimmt jene und sich und bloß die Seele. Daher wird am Hofe die stumme Tat verziehen, nie das schreiende Wort. Die Rechtschaffenen überall machen sich mehr Feinde durch Sprechen als die Schlimmen durch Handeln.

Jeder Charakter als personifizierter Wille hat nur sein eignes Idiotikon, die Sprache des Willens, der Leidenschaften u.s.w. vonnöten; hingegen der Witz, die Phantasie etc., womit er spricht, gehören als Zufälligkeiten der Fabel und der Form mehr in die Sprachlehre des Dichters als des Charakters. Daher spricht sich derselbe Charakter gleich gut in der Einfalt Sophokles' in den Bildern Shakespeares, in den philosophischen Gegensätzen Schillers aus, ist alles übrige sonst gleich. Der Splitter-Kunstrichter setzt freilich die Frage entgegen, ob man ihn denn je so bilderreich und witzig in seiner wildesten Leidenschaft habe sprechen hören; aber man antworte ihm, daß Beispiele nichts beweisen. –[228]

Wenn nach dem Vorigen Handlungen nicht einmal den Charakter bloß begleiten sollen, sondern ihn voraussetzen und enthalten müssen, wie die Gesichtbildung des Kindes die ähnliche elterliche: so lässet sich begreifen, wie erbärmlich und formlos er umherrinne, wenn er gar seine eignen Handlungen begleiten muß, wenn er neben den Begebenheiten keuchend herlaufen und das Erforderliche dabei teils zu empfinden, teils zu sagen, teils zu beschließen hat.

Aber hier ist eben der Klippen-Fels, wo der Schreiber scheitert und der Dichter landet. Denn Charakter und Fabel setzen sich in ihrer wechselseitigen Entwickelung dermaßen als Freiheit und Notwendigkeit – gleich Herz und Pulsader – gleich Henne und Ei – und so umgekehrt voraus, weil ohne Geschichte sich kein Ich entdecken und ohne Ich keine Geschichte existieren kann, daß die Dichtkunst diese Entgegen- und Voraussetzung in zwei verschiedene Formen organisieren mußte und dadurch, daß sie bald in der einen den Charakter, bald in der andern die Fabel vorherrschen ließ, oder beide im Romane umwechseln, die Rechte und Vorzüge beider darstellte und ausglich.

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Z.B. Sterne schildert seine Menschenliebe – und so die Tobys, Trims Shandys – nicht durch Ausgießung von Geschenken vor, welche ihm nichts kosten als einen Tropfen Dinte, sondern durch Ergießung von Empfindungen, welche auch die kleinste Gabe verdoppeln und – was mehr ist – veredeln.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 227-229.
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