§ 63
Verhältnis des Drama und des Epos

[231] Wenn nach Herder der bloße Charakter sich auf nichts stützt: auf was ist denn die bloße Fabel gebauet? Ist denn das dunkle Verhängnis, aus welchem diese springt – so wie jener auch –, etwas anders als wieder ein Charakter, als der ungeheure Gott hinter den Göttern, der aus seiner langen stummen Wolke den Blitz wirft und dann wieder finster ist und wieder ausblitzt? – Ist das Verhängnis nicht im Epos der Weltgeist, im Drama die Nemesis? – Denn der Unterschied zwischen beiden Dichtarten ist hell. Im Drama herrschet ein Mensch und zieht den Blitz aus der Wolke auf sich; im Epos herrschet die Welt und das Menschengeschlecht. Jenes treibt Pfahl-Wurzeln, dieses weite waagrechte. Das Epos breitet das ungeheuere Ganze vor uns aus und macht uns zu Göttern, die eine Welt anschauen; das Drama schneidet den Lebens lauf eines Menschen aus dem Universum der Zeiten und Räume und lässet uns als dürftige Augenblickwesen in dem Sonnenstrahle zwischen zwei Ewigkeiten spielen; es erinnert uns an uns, so wie das Epos uns durch seine Welt bedeckt. Das Drama ist das stürmende Feuer, womit ein Schiff auffliegt, oder das Gewitter, das einen heißen Tag entlädt; das Epos ist ein Feuerwerk, worin Städte, auffliegende Schiffe, Gewitter, Gärten, Kriege und die Namenzüge der Helden spielen; und ins Epos könnte ein Drama zur Poesie der Poesie als Teil eingehen. Daher muß das auf einen Menschen zusammengedrängte Drama die strengere Bindung in Zeit, Ort und Fabel unterhalten, wie es ja uns allen die Wirklichkeit macht. Für den tragischen Helden geht die Sonne auf und unter; für den epischen ist zu gleicher Zeit hier Abend, dort Morgen; das Epos darf über Welten und Geschlechter schweifen und (nach Schlegel) kann es überall aufhören, folglich überall fortfahren;[231] denn wo könnte die Welt-, d.h. die Allgeschichte, aufhören? Daher Cervantes' epischer Roman nach dem ersten Beschlusse noch zwei Fortsetzungen erhielt, eine von fremder, eine von eigner Hand.

Die alte Geschichte ist mehr episch, wie die neuere mehr dramatisch. Jener, besonders einem Thukydides und Livius, wurde daher schon von Franzosen156 der Mangel an Monat- und Tagbestimmungen wie an Zitationen vorgeworfen; aber diese dichterische Weite der Zeit, wiewohl ebensogut die Tochter der Not als des Gefühls, sammelt gleichsam über der Geschichte und ihren Häuptern poetische Strahlen entlegner Räume und Jahre.

Wie kommt nun das Schicksal ins Trauerspiel? – Ich frage dagegen: wie kommt das Verhängnis ins Epos und der Zufall ins Lustspiel?

Das Trauerspiel beherrscht ein Charakter und sein Leben. Wäre dieser rein gut oder rein schlecht: so wäre entweder die historische Wirkung, die Fabel, rein durch diese bestimmte Ursache gegeben und jeder Knoten der Verwicklung aufgehoben, der letzte Akt im ersten gespielt, oder, wenn die Fabel das Widerspiel des Charakters spielen sollte, uns der empörende Anblick eines Gottes in der Hölle und eines Teufels im Himmel gegeben. Folglich darf der Held – und sei er mit Neben-Engeln umrungen – kein Erz-Engel, sondern muß ein fallender Mensch sein, dessen verbotener Apfelbiß ihm vielleicht eine Welt kostet. Das tragische Schicksal ist also eine Nemesis, keine Bellona; aber da auch hier der Knoten zu bestimmt und nicht episch sich schürzte, so ist es das mit der Schuld verknüpfte Verhängnis; es ist das umherlaufende lange Gebirgs-Echo eines menschlichen Mißtons.

Aber im Epos wohnt das Verhängnis. Hier darf ein vollkommenster Charakter, ja sein Gott erscheinen und streben und kämpfen. Da er nur dem Ganzen dient und da kein Lebens-, sondern ein Welt-Lauf erscheint: so verliert sich sein Schicksal ins allgemeine. Der Held ist nur ein Strom, der durch ein Meer zieht, und hier teilt die Nemesis ihre Strafen weniger an Individuen als an Geschlechter und Welten aus. Unglück und Schuld begegnen sich nur auf Kreuzwegen. Daher können die Maschinen-Götter[232] und Götter-Maschinen in das Epos mit ihrer Regierung der Willkür eintreten, indes ein helfender oder feindlicher Gott das Drama aufriebe; so wie ein Gott die Welt anfing, aber keinen einzelnen. Eben darum wird dem epischen Helden nicht einmal ein scharfer Charakter zugemutet. Im Epos trägt die Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt – ob er gleich dann unter oder in sie begraben wird. Dem Epos ist das Wunder unentbehrlich; denn das Weltall herrscht, das selber eines ist, und worin alles, mithin auch die Wunder sind; auf seiner Doppelbühne von Himmel und Erde kann alles vorgehen und daher kein einzelner Held der Erde sie beherrschen, ja nicht einmal ein Held des Himmels allein, oder ein Gott, sondern Menschen und Götter zu gleich. Daher ist im Epos die Episode kaum eine, so wie es in der Weltgeschichte keine gibt, und in der Messiade ist der ganze eilfte Gesang (nach Engel) eine Episode und eine beschreibende dazu; daher kann das Epos keinen neuern Helden, sondern bloß einen gealterten gebrauchen, der schon in den fernen Horizont-Nebeln der tiefen Vergangenheit wohnt, welche die Erde mit dem Himmel verflößen. Um so weniger wundere man sich bei so schwierigen Bedingungen des Stoffes, daß die meisten Länder nur einen epischen Dichter aufweisen und manche gar keinen, wie nicht nur Frankreich, sondern sogar Spanien, welches letzte sonst in seinen späteren Romanen epischen Geist genug beweiset, so wie jenes in seinen früheren. Im Lustspiel – als dem umgekehrten oder verkleinerten Epos und also Verhängnis – spielet wieder der Zufall ohne Hinsicht auf Schuld und Unschuld. Der Musen-Gott des epischen Lebens besucht, in einen kleinen Scherz verkleidet, eine kleine Hütte; und mit den unbedeutenden leichten Charakteren der Komödie, welche die Fabel nicht bezwingen, spielen die Windstöße des Zufalls.

156

Z.B. in Mélanges d' hisroire etc. par M. de Vigneul-Marville II. p. 321.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 231-233.
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