§ 68
Motivieren

[245] Das Motivieren ist selber zu motivieren, könnte man oft sagen. Was kann es heißen, als die innere Notwendigkeit in der äußern Aufeinanderfolge anschauen lassen! Es ist auf vier Arten möglich – daß erstlich entweder innere Erscheinungen durch äußere entstehen,[245] oder zweitens äußere durch innere, oder drittens äußere durch äußere, oder viertens innere durch innere – Aber es gibt Bedingungen: die physische Welt bedarf, als der Kreis des Zufalls, wenigen Motivierens; ich habe schon gesagt, daß der Autor die Gewalt und das Geheimnis besitzt, z.B. nach Gefallen einen Sohn oder eine Tochter zu zeugen. Ein uns allen sehr wohl bekannter Autor beging oft den Fehler, z.B. ein Gewitter zu motivieren durch Wetteranzeigen vorher; aber er wollte vielleicht dabei mehr den seltenen Wetterpropheten zeigen als den gewöhnlichen Dichter. Unbedeutende geistige Handlungen bedürfen ebensowenig des Bewegmittels; so hatte z.B. der Verfasser der Reisen ins mittägliche Frankreich gar nicht nötig, das Hervorziehen eines auf der Brust liegenden Bildes durch besondern Schmerz des Drucks den Kunstrichtern in etwas wahrscheinlich zu machen. Freilich der Künstler, mehr sich seiner Willkür und deren verschiedenen möglichen Richtungen bewußt und, ungleich dem Leser, weniger den Eindruck des Vergangenen fühlend als die Wirkung der Zukunft, motivieret leicht zu viel. Allein eben die überflüssige Ursächlichkeit erinnert an die Willkür; wir wollen am Ende Motive und Ahnen des Motivs haben; und zuletzt müßte der Dichter mit uns in die ganze Ewigkeit hinter uns (a parte ante) zurück- und hinauslaufen. Nein, wie der Dichter, gleich einem Gotte, vorn am ersten Tage der Schöpfung seine Welt setzt, ohne weitern Grund als den der Allmacht der Schönheit: so darf er auch mitten im Werke da, wo nichts Altes beantwortet oder aufgehoben wird, den freien Schöpfung-Anfang wiederholen.

Je niedriger der Boden und die Menschen eines Kunstwerks und je näher der Prose: desto mehr stehen sie unter dem Satze des Grundes.

Glänzt aber die Dichtung von Gipfeln herab; stehen die Helden derselben wie Berge in großem Licht und haben Glieder und Kräfte des Himmels: um desto weniger gehen sie an der schweren Kette der Ursächlichkeit – wie in Göttern ist ihre Freiheit eine Notwendigkeit, sie reißen uns gewaltig ins Feuer ihrer Entschlüsse hinauf; und ebenso bewegen sich die Begebenheiten der[246] Außenwelt in Eintracht mit ihren Seelen. Die Poesie soll überhaupt uns nicht den Frühling erbärmlich und mühsam aus Schollen und Stämmen vorpressen, indem sie eine Schneekruste nach der andern wegleckt und Gras nach Gras endlich vorzerret; sondern sie soll ein fliegendes Schiff sein, das uns aus einem finstern Winter plötzlich über ein glattes Meer vor eine in voller Blüte stehende Küste führt. Für das luftige ätherische Geisterreich der Poesie ist der Prozeßgang der Reichgerichte der Wirklichkeit viel zu langsam: die Sylphide will auf keiner Musen-Schnecke reiten.

Das Epos bedarf weniger Motivierungen als das Drama, nicht nur, weil dort höhere Gestalten in höherem Elemente gehen, sondern auch, weil sich dort mehr die Welt, hier aber die Menschen entwickeln.

Das Bewegmittel muß aber nicht nur eine fremde Notwendigkeit enthalten, auch eine eigne. Es muß der Vergangenheit so scharf angehören als ihm die Zukunft. Dies ist das Schwerste. Der ganze innere Kettenschluß oder die Schlußkette muß sich in die Blumenkette der Zeit verkleiden, alle Ursachen sich in Stunden und Orte. Daher sind die willkürlichsten und schlechtesten Motivierungen der Begebenheiten – weniger der Entschlüsse die durch das Gespräch; wohin kann sich nicht der Fluß der Rede verirren, zersplittern, versprützen! Wenn man einen Wassertropfen braucht, um glühendes Kupfer aufzusprengen: wo ist er noch leichter zu schöpfen? – Bloß im Weiberauge, vollends von Weiberlippen begleitet. – Das Kunstgespräch muß, wie ein englischer Garten, mit aller Freiheit seiner Windungen die gerade Einheit zum Ziele verfolgen und verknüpfen; Fragen, Antworten sind innere Taten; diese werden Mütter neuer Fragen und Antworten, also neuer Töchter, und so könnte ein kurzes Gespräch eine ganze umgekehrte und alles umstürzende Tatenkette in zehn Zeilen ausschmieden; und es ginge von Willkür zu Willkür fort, wenn nicht der Dichter gerade diesen Schein dialogischer Freilassung als Decke über das scharfe Fortführen der alten, früher angelegten Gesinnungen und Taten zu werfen und zu breiten versuchte. Im Kunstwerk regiert die Vergangenheit, weniger die Gegenwart, mehr die Zukunft.[247]

Viele kleinere Bewegmittel für eine Sache wirken – wie im Leben (schon weil sie nicht sowohl anzuschauen sind als bloß einzusehen) nicht halb so reich als ein gewichtiges, das den Geist treibt und füllt; es ist aber eben, wie wir alle in und außer Kanzeln wissen, leichter, hundert schwache Gründe zu geben als einen starken.

Manche, z.B. Schiller, machen verschloßne versteckte Charaktere zu Segelmitteln ihrer Handlung, weil sie die Verstellung aus entgegengesetzten Kompaßpunkten für entgegengesetzte Ziele können blasen lassen.

Demantharte Stärke eines Charakters versteinert Dichter und Handlung, weil er schon alles auf der Schwelle entscheidet. Wasserweiche Schwäche tut noch mehr Schaden, weil in ihr die Handlung zerschwimmt und ohne Anhalt umhertreibt.

Der Charakter als solcher läßt sich darum nicht motivieren, weil etwas Freies und Festes im Menschen früher sein muß als jeder Eindruck darauf durch mechanische Notwendigkeit, sobald man nicht unendliche Passivität, d.h. die Gegentätigkeit eines Nichts annehmen will. Manche Schreiber machen die Wiege eines Helden zu dessen Ätzwiege und Gießgrube – die Erziehung will die Erzeugung motivieren und erklären – die Nahrung die Verdauungkraft – –; aber in dieser Rücksicht ist das ganze Leben unsere Impfschule; inzwischen setzt diese ja eben die Samenschule voraus.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 245-248.
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