9. Gedanken über den Streit zwischen Vernunft und Glauben

[100] An Herrn M. Johann Anton Heermann.


Was wirkt, o Heermann, doch den unglücksvollen Streit,

Der Glauben und Vernunft so lange schon entzweyt?

Wie ist's, verträgt das Buch, das wir als göttlich preisen,

Die scharfe Probe nicht von Schlüssen tiefer Weisen?

Verdient man eher nicht, daß uns der Schöpfer lehrt,

Als bis man die Vernunft, die er uns gab, verschwört?


Mit Rechte wird bey euch des Zankes Grund gesuchet,

Du, der des Glaubens lacht, du, der der Weisheit fluchet;

Der, wenn er die Vernunft mit steifen Füßen tritt,

Meynt, es geschehe Gott ein großer Dienst damit:

Und Der will muntern Witz und scharfes Denken zeigen.

Des Glaubens Spötter seyn ist großen Geistern eigen;[100]

Und beyde folgen nur, wohin ihr Wahn sie reißt,

Den Der Vernunft benennt, und Jener Glauben heißt.

Verlangt nicht, wollt ihr uns der Gottheit Willen lehren,

Als ein prophetisch Wort, was ihr nur sagt, zu ehren:

Gleicht euren Feinden nicht, die ihr den Glauben schmäht,

Und richtet nicht davon, wovon ihr nichts versteht.


Der Schöpfer will uns nicht die Macht zu denken rauben,

Doch heischt er nicht von uns zu wissen, nur zu glauben;

Wozu er uns bestimmt, wodurch man ihm gefällt,

Wie das Gewissen Ruh', die Seele Trost erhält,

Bemüht sich die Vernunft vergebens zu ergründen,

Und wird, entdeckt sie was, nur ängstlich Zweifeln finden.

Wie um den Himmel sich der lichte Milchweg zieht,

Sieht unser Auge dort, und weiß nicht, was es sieht;

Und daß den weißen Glanz ein Heer von Sonnen schicket,

Hat ein Demokritus errathen, nicht erblicket;

So ward auch manchem Geist, der über andre steigt,

Viel, was der Christe glaubt, durch die Vernunft gezeigt,

Doch dunkel, ungewiß, nicht wie der Glaube lehret,

Den selbsten die Vernunft mit eignem Lallen ehret.

Wem gleicht ihr, die ihr hier Vernunft alleine nennt?

Dem, dessen bloßes Aug' des Milchwegs Sterne kennt;

Hier müßt ihr euch so gut, als eure Gegner finden,

Die sich, um mehr zu sehn, die Augen fest verbinden.


Ein forschender Verstand, der sich im Denken übt,

Die Wahrheit untersucht, und nur Beweise liebt,

Würd' oft ein Christe seyn, und unsrer Kirche nützen,

Und gründlich und geschickt die Lehren unterstützen,

Die wahr und richtig sind: so aber, wenn er hört,

Daß unser Glaube nichts, als solche Sätze lehrt,

Bey denen die Vernunft, mit Gründlichkeit und Wissen

Vertrieben und verdammt, dem Glauben weichen müssen,

Tritt er so bald zurück. Denn das ist offenbar,

Was die Vernunft ihm sagt, hält er gewiß für wahr;

Wenn Glauben und Vernunft einander widersprechen,

So ist der Glaube falsch. Die Schuld von dem Verbrechen,[101]

In das der Freygeist fällt, gehört dem Lehrer zu,

Der auf den Freygeist schmäht; o ließ er ihn in Ruh!

O hört' er einstens auf, die Weisheit zu verfluchen!

Der Freygeist würde bald die Lehren untersuchen,

Die man für heilig hält: und ihrer Wahrheit Licht

Durchstrahlte seine Brust. Doch so geschieht es nicht,

So scheut er sich sogar, die Bibel anzurühren,

Aus Furcht, der Menschheit Werth auf einmal zu verlieren.


Nein, göttliche Vernunft, nie ward dein wahrer Freund

Auf eigne Kräfte kühn, der Offenbarung feind.

Geleitet durch dein Licht, bis an der Menschheit Grenzen,

Sieht er, wo du ihm fehlst, der Gnade Strahlen glänzen.

Doch ungelehrter Stolz, den du nur selten führst,

Merkt nicht, wie weit du gehst, noch wo du dich verlierst.

Du lehrst vom Menschentand die Offenbarung trennen,

Du lehrst uns ihren Zweck und ihren Werth erkennen.


Nicht darum gab sie uns der Schöpfer, der uns liebt,

Daß ein Erfinder sich an ihr in Schlüssen übt;

Im weiten Raum der Welt, im Abgrund unsrer Seelen

Laßt uns den Gegenstand von unserm Forschen wählen.

Die Lehre, welche selbst die Einfalt führen soll,

Macht kühne Neugier nicht von schweren Fragen voll.

Auch Seelen, welche nicht gleich Weisen denken können,

Will unumschränkte Huld ein ewig Glücke gönnen.

In einem Labyrinth, wo ihm der Faden fehlt,

Irrt der verwegne Sinn, der sich mit Forschen quält.

Der Glaube, unbemüht, die Kenntniß zu vergrößern,

Erleuchtet den Verstand, nur um das Herz zu bessern.

Genug, daß man so viel von seinen Lehren merkt,

Als in uns Trieb und Kraft für unsre Pflichten stärkt;

Genug, daß wir in Dem, was Menschen nicht ergründen,

Nichts widersprechendes und tiefe Weisheit finden.

Genug, daß unser Geist die Lehren höh'rer Art,

Die er noch stückweis lernt, auf eine Zeit bewahrt,

Wo er, vom Nebel frey, der itzund ihn umringet,

In den Zusammenhang mit schärfern Blicken dringet.[102]

So faßt ein zartes Kind des Vaters Unterricht,

Erreicht fein schwacher Sinn der Lehren Grund noch nicht;

Es glaubt, und wird dadurch nur jetzo vorbereitet,

Bis es mehr Einsicht einst bey reiferm Alter leitet.

O glücklich, wen Vernunft, so wie der Glaube lenkt!

Der beyder Werth verehrt; und wenn er glaubt, auch denkt.

Als göttlich wird bey ihm nicht alte Meynung gelten,

Die Freunde der Vernunft wird er nicht Ketzer schelten;

Den Freygeist, welcher sonst des Eifers Zorn verlacht,

Hat er durch Grund und Schluß zum Glauben oft gebracht:

Und selbst ein schwacher Sinn lernt mehr durch seine Lehren,

Als Gott gedankenlos mit heil'gen Formeln ehren.


Hier zeigt sich dir dein Bild, Freund, Lehrer der Vernunft:

O glichen, Heermann, dir doch Alle deiner Zunft!

Sie nennen sich wie du. Doch sollten wir oft schwören,

Sie wären ausgesandt, die Unvernunft zu lehren.

Die Weisheit dieser Welt aufs ärgste zu verschmähn,

Muß man ihr Meister seyn, und nichts von ihr verstehn.

Doch Geister deiner Art pflegt, trotz der kleinen Seelen,

Sich zur Verherrlichung die Vorsicht stets zu wählen.


Quelle:
Abraham Gotthelf Kästner: Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Theil 1 und 2, Teil 2, Berlin 1841, S. 100-103.
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