4. Commentarius über nachstehende Ode

(Chloris, oder die korinthische Säule)

[8] Ein geputztes Frauenzimmer zu betrachten, ist eine Handlung, die mit den Wissenschaften eines Gelehrten keine Verbindung zu haben scheint, ausgenommen, daß etwa ein Poet dadurch kann zu einer liebreichen Ode erhitzt werden: doch seitdem ich mich et-[8] was um die Baukunst bekümmert, habe ich anders von der Sache urtheilen lernen; und ich halte es nunmehr einem Baumeister für so nöthig, geputzte Schönen zu betrachten, als einem jungen Herrn, die Kirchenparade in Acht zu nehmen. Ich weiß nicht, ob meine Neigung in dieses Urtheil einigen Einfluß hat, und ob es mir geht, wie den Aerzten, die, wenn sie den Caffee gern süß trinken, den Zucker für sehr gesund ausgeben. Meine Leser werden aus dem, was ich sage, vielleicht sehen können, wie viel Gewicht bey mir das Herz den leichtern Gründen beygelegt habe.

Wenn wir dem Vitruv glauben dürfen, so haben sich die alten Baumeister, bey Angebung der Säulenordnung, nach dem menschlichen Körper gerichtet. Die stammhafte dorische Säule soll eine Mannsperson vorstellen: die dünnern Schäfte von der ionischen und korinthischen Ordnung sind von den weiblichen Körpern nachgeahmt; und zwar ist der ionische Stamm noch dicker, als der korinthische; weil beyde von einander, wie ein verheirathetes Frauenzimmer und eine Jungfer unterschieden sind. Sogar die Kleidung hat die Baukunst auszudrücken gesucht, aber nur bey dem Frauenzimmer. Man hat niemals einer dorischen Säule einen Harnisch angelegt, oder einen Helm aufgesetzt: aber die weiblichen Ordnungen hat man längs herunter eingekerbt, die Falten in den Frauenzimmerkleidern anzudeuten, und ihre Capitäler mit Wirbeln geschmückt, um die gewundenen Haare vorstellig zu machen.

So viel ist die Baukunst dem griechischen Frauenzimmer schuldig. Und gleichwohl habe ich noch fast das Wichtigste, nämlich, die genetische Definition von dem korinthischen Capitäle vergessen. In Korinth starb ein lediges Frauenzimmer; ihre Wärterinn setzte einen Korb mit etlichen Sachen, die der Verstorbenen sehr lieb gewesen waren, auf das Grab, und verwahrte ihn vor dem Regen mit einem Ziegelsteine. Der Korb war ungefähr auf einige Zweige vom Akanthus zu stehen gekommen; die wuchsen hervor, schlungen sich an dem Korbe hinan, und krümmten sich, als sie an den querüber gelegten Ziegel stießen. Kallimachus, ein kunstreicher Baumeister, sah dieses, und ahmte es in dem Capitäle der korinthischen Säule nach. Mit was für Wahrscheinlichkeit der Korb mit der Pflanze auf eine Säule komme, und die oben aufliegenden Balken, ohne eingedruckt zu werden, trage,[9] darum frage man mich nicht; denn Vitruv schweigt davon still. Wäre der sinnreiche Mann bey einem unserer Schwibbogen vorbey gegangen; er hätte vielleicht ein Bret voll Kränze an die Säule gehängt.

Ich habe mich manchmal gewundert, warum unsere Baumeister, was die Ordnungen anbetrifft, nur Copisten der Alten sind, und ich finde den Grund darinnen, daß unsere Baumeister nicht auf den Putz des Frauenzimmers genug Achtung geben. Hier würde sich für ihre Erfindung ein weites Feld eröffnen. Eine Säule in der Adrienne würde ja wohl so gut lassen, als eine im faltigen Kleide, ein Bouquet, eine Zitternadel, ein Flügelnachtzeug, würde sich ja wohl besser ins Capitäl schicken, als ein Korb und etliche aus einem Grabe hervorkriechende Pflanzen. Man mache mir nicht etwa den Einwurf, eine Säule nach meinem Entwurfe möchte eher aus der Mode kommen, als sie der Baumeister gezeichnet hätte. Denn das Hauptwerk in den Kleidungen bleibt ziemlich beständig, und die allzuveränderlichen Kleinigkeiten werden ohnedieß nicht ausgedrückt. Man braucht es der Säule nicht anzusehen, ob die Aermel weit oder enge, faltig oder glatt sind.

Es ist nicht nöthig, daß ich Denen, die etwa meinen Vorschlag ins Werk richten wollen, weiter Anleitung gebe. Ein großer Mathematicus, nachdem er gewiesen hat, wie es angehe, alle mögliche Ordnungen zu bestimmen, setzet hinzu: die Ausführung selbst könnten auch Leute von geringem Verstande verrichten. Ich kann von meiner Erfindung eben so sprechen. Weil ich indeß fast befürchte, es möchte Niemand so bald die Ehre verlangen, von mir unter die Leute von geringem Verstande gezählet zu werden: so halte ich es für eine Pflicht unserer Poeten, daß sie den Putz des Frauenzimmers verewigen, wenn es die Baumeister nicht thun wollen. Heißt es sonst:


Gewisser, als auf Marmorsäulen,

Trotzt in Homers geweihten Zeilen

Achilles der Vergessenheit:


so wird auch eine Mode unserer Schönen in Versen unvergänglicher seyn, als in Säulenordnungen.

Ich darf zwar meinen Versen keine Unvergänglichkeit, noch viel weniger eine unvergänglich machende Kraft zuschreiben: doch[10] habe ich einmal einen Versuch von der Art gemacht, den ich hersetzen will, oder vielmehr dem zu gefallen ich das Vorhergehende hergesetzt habe. Denn weil meine Ode einige Dunkelheit zu haben schien, und ich gleichwohl nicht den großen Dichtern nachahmen wollte, die über ihre eigenen Werke Anmerkungen machen, und uns deren Schönheit zeigen, so entschloß ich mich, die Erklärung davon voran zu senden. Ich habe mich aber auch der Freyheit bedienet, die ein Commentator hat; und daher in meine Erklärung gesetzt, nicht nur was zum Verstande dieses Liedes nöthig war, sondern auch, was mir einfiel, und dem ungeachtet vielleicht noch nicht Alles gesagt, was meinen Autor zu verstehen nöthig ist.


Chloris, oder die korinthische Säule

Vor kleiner Schönen schlechter Menge

Erhebt sich Chloris Reiz und Länge.

Mein Blick, seit er nach ihr sich lenkt,

Wird niemals jenen zugesenkt.

Nicht glatter Schmuck von niedern Köpfen,

Nicht Haar, das sich in braunen Zöpfen

Verwirrt um gelbe Nacken schwingt:

Nur Chloris Haar kann mich vergnügen,

Das stolz, sich so erhöht zu biegen,

Sich Reihenweis in Locken schlingt.


So steht, bey niedrer Säulen Dicke,

Der Baukunst schlankes Meisterstücke,

Und trägt den Knauf so hoch als schön,

An dem sich sechzehn Wirbel drehn:

O Künstler, so viel Reiz zu zeigen,

Macht ihr der Griechinn Reiz ihm eigen,

Sie schenkt ihm Länge, Locken, Tracht;

Doch soll man es für Chloris halten:

Gebt ihm statt der verjüngten Falten

Des steifen Rockes weite Pracht.
[11]

Quelle:
Abraham Gotthelf Kästner: Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Theil 1 und 2, Teil 2, Berlin 1841, S. 8-12.
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