Zweiter Brief

[10] Den 3. September 1762.


Aus dem Lande meiner Geburt ging ich wieder zurück in das angrenzende Polen, wo meine Mutter lebte. Ich will meine Beschreibungen abkürzen, mein erster Brief war zu ermüdend; man wird lächerlich durch Erzählungen nichtsbedeutender Kleinigkeiten. Ich wiederhole nur noch den wichtigen Ausruf, daß ich frei war! Aber nicht lange: meine gute Mutter wollte mich zum zweiten Mal verheirathet sehen; ich war noch jung, und von dem Segen meiner liebreichen Schwiegermutter war mir noch ein großes Glück geweissagt worden. Die rechtschaffene Frau wußte nicht, welche steile Anhöhen meine Geduld übersteigen mußte, ehe sie den Ausgang ihrer wünschenden Prophezeiung erleben und sich darüber freuen könnte. Die Vorsehung ergriff das härteste Mittel, mein Herz zu prüfen und meinen Verstand zu schärfen; sie ließ geschehen, daß es einem Manne, der längst an seinem Glück verzweifeln mußte, einfiel, mich zu wählen. Er war nicht viel über meine Jahre und seiner Handthierung nach ein Kleidermacher; sein äußerliches Ansehen war nichts für meine Wahl. Aber genug, er gefiel meiner Mutter; sie wiederholte ihre Beschwörungen beim Verlust ihrer mütterlichen Gunst und ihres Segens. Es ward mir unbeschreiblich sauer, meinem Herzen diese Gewalt anzuthun; ich fand in den Gesichtszügen meines Liebhabers etwas so Widersprechendes und Wildes, daß mir schauderte. Doch das ehrwürdige Anrathen und der halb göttliche Befehl einer Mutter vermochten mich, meinen Neigungen entgegenzuhandeln; ich überredete mein Herz, sagte ja und ward auf lange niederdrückende Jahre gefesselt. Mein neuer Mann führte mich in eine mehr gesittete polnische Gegend; aber ich wußte nicht, daß die Armuth dicht hinter meinen Schritten herging. Frauenstadt war der Ort, der mich aufnahm. Die ganze Welt lebte damals im Taumel einer goldenen Zeit, nur für mich war Mangel bestimmt. Mein Mann, eins der sorglosesten Geschöpfe des Erdbodens, misbrauchte meine natürliche Gutherzigkeit, verzehrte mir Alles und war nicht bemüht, sich Arbeit zu verschaffen oder fleißig zu sein; ich, eine Feindin des Zanks, ertrug die Lasten der äußersten Dürftigkeit ohne Murren. Mein voriger Zustand, wenn ich auf ihn zurückblickte, war, bei aller Unterdrückung, dennoch Glückseligkeit gewesen; aber jetzt gab mir ein Mann Kinder, die meiner Versorgung überlassen blieben, wenn eine unselige Trinklust ihn fortriß. Der Winter des Jahrs 1751 und sein Nachfolger sahen mich alle Ungemächlichkeiten der Armuth leiden; schlecht bedeckt gegen den grimmigen Frost, ging ich und kaufte einzelne Bündel Holz, meine Kinder zu erwärmen. Nimmer soll es meine Seele vergessen, wie tief herunter ich gesunken, und wie hoffnungslos mein Zustand war. Die Verzweiflung gab meinem Manne ein, mich in den Mittelpunkt von Polen zu führen; ich flehte zum Himmel um Abwendung dieses Schritts, und er hörte mich. Ein Reisender kehrte in einem außerordentlichen Gasthause ein; die gütigen Bewohner wiesen ihn mit Arbeit zu meinem Gatten, und er ließ seinen Vorsatz[10] fahren. Ich half treulich an der Verfertigung zweier neuen Kleider, vertrauete dem Alles versorgenden Gott und dankte dem Hause, dessen alter 74jähriger Wirth bald darauf starb. Mein erkenntliches Herz befahl mir, den Töchtern und der Witwe eine Art von Trauerlied zu singen; dies war ihnen ein angenehmes Geschenk. Sie begegneten mir nach etlichen Wochen, von einem sehr ansehnlichen Manne begleitet; ich machte der Gesellschaft meine Verbeugung, mit Scham auf der Stirn wegen des armseligen Aufzugs, in welchem sie mich sahen; des andern Tages rief eine von den Schwestern mir nach und sagte, ich möchte ihr zu dem Leichencarmen verhelfen, sie habe es verliehen, ohne es wiederzubekommen, und jetzt stritt' ihr Bruder wegen der Unmöglichkeit, daß ein Weib von so schlechtem Ansehen Verse machen könnte. Ich ging zurück in meine schwarzbalkige Wohnung und schrieb aus meinem Kopf das Gedicht, nebst einigen Versen an den Sohn des Verstorbenen. Dieser war Obereinnehmer in einer Stadt zwischen Berlin und Magdeburg und war nur gekommen, seine Familie zu trösten. Ich brachte ihm mein Geschriebenes; er war staunend, gab mir ein kleines Geschenk, hieß mich den Sonntag wiederkommen und ermahnte mich, mein Talent nicht vergraben zu lassen. Ich erschien mit ebenso niedergeschlagenen Augen als beim ersten Begegnen. Er hatte seinen alten Freund, den Rector Ribow, bei sich, beide vereinigten ihre Ermahnungen; ich schützte Dürftigkeit vor, empfahl mich, ging in ein Nachbarhaus und brachte nach Verlauf einer Stunde ein bogenlanges Gedicht, über die Mühseligkeiten eines Schulmannes. Bald hätten mich diese Männer eine Zauberin genannt, so bestürzt saßen sie da; der Rector hieß mich in sein Haus kommen und gab mir schöne Bücher. Ich las den Günther, den v. Besser. den v. Haller, Gellert und die 5 ersten Gesänge der »Messiade«. Sein College beschenkte mich mit den »Nachtgedanken« des tiefsinnigen Engländers und mit seinen Gesängen vom jüngsten Tage. Diese Bücher machten meine Bibliothek aus; der Rector empfahl mich zween ansehnlichen Häusern: Greifenhagen und Neugebauer; schätzbare Namen für mich! möchten sie meinen öffentlichen Dank hören! Sie verachteten nicht, meine Lieder anzunehmen, obgleich eins von diesen Erstlingen mich jüngst über mich selbst lachen gemacht hat. Meine Umstände wurden jetzt weniger erbärmlich, als ich die Nachricht von dem Tode meiner Mutter erhielt; sie bat auf ihrem Sterbebette den Himmel, daß er mich aus dem Labyrinth führen möchte, in welches ich auf ihr Rathgeben gegangen war. Warum ließ er sie nicht leben nach diesem Gebete, um alle Wunder zu sehen, die seine Hand an mir gethan hat? Ich ergriff jede Gelegenheit, Verse zu machen. Das Lob und noch etwas mehr als Lob machten mein Genie hervordrängend; doch immer noch etwas schwach. Noch hatte ich keine von meinen Geburten aus der Presse kommen sehen; nun aber, o stellen Sie sich meinen aufschwellenden Autorstolz vor! Ein junger Postmeister in Lissa verheirathete sich, er ward mein Bewunderer; ich sang seinem Bunde ein Lied, und er sandte mir dieses Lied gedruckt zurück unter Begleitung eines sehr lobsprechenden Briefchens. Ich bin nicht genug rednerisch, um Ihnen von meinem damaligen Vergnügen eine Beschreibung zu machen; mich dünkt, mein Genie war jetzt gleich einem Vogel, der zum ersten Mal sich seiner Gabe zu fliegen bewußt ist. Ich sang hurtig noch zween Verbindungen und wählte die ersten Menschen dazu: einmal in dem glückseligen Garten mit seiner Neugeschaffenen, und in dem andern sang ich, wie er mit ihr das verriegelte Eden[11] verließ und, von Niemand als der Liebe begleitet, fortirrte. Man ward ganz Verwunderung, man fragte, ob ich den Milton gelesen hätte; ich sagte, daß ich kaum wüßte, daß Jemand in der Welt diesen Namen geführt hätte; ich hätte ihn irgendwo in einem Buche gelesen aber niemals seine Gesänge gesehen; man sagte mir, ich hätte ein kleines verlorenes Paradies geschrieben. Ein Prediger in dem benachbarten Lissa wollte mich näher kennen, er gab mir einen Wink, und ich eilte, mir mehr Freunde zu schaffen. Ich fand an ihm Alles, was man nur suchen kann; er hieß Vibig; sein Eifer, mein Freund zu sein, seine Rechtschaffenheit, sein redliches, offenes Herz lehrten mich in ihm einen Vater kennen, den mir die Vorsehung wiedergab für den meinigen, der schon lange Staub war. Er suchte mich auf alle Art zu ermuntern; durch seine Empfehlung wurden die reformirten Seniors Sitzkov und Cassius meine Freunde, und die beiden hoffnungsvollen jungen Männer Kloß und Zimmermann. Ich kann hier nicht alle die Häuser nennen, die mir mein ehrlicher Vibig zuwandte; genug, er war ganz stilles Vergnügen, wenn mir durch seine Veranstaltungen Hülfsmittel zuflossen wider die Dürftigkeit. Sein Haus war ein Zufluchtsort, wenn ich von den äußersten Sorgen gedrängt ward. O, warum mußte er schon aufhören dazusein, ehe ich meinen lebhaftesten Dank ihm sagen konnte! Engel müssen seiner Seele es vorsagen, daß ich sie liebe, und sie muß unter den Seelen glänzender Lehrer eine vorleuchtende Stelle besitzen. In den Händen seiner traurenden Witwe wird ein ganzer Ballen von Gesängen und Briefen sein, auch wird ihre Tochter eine beträchtliche Sammlung haben. Diese zärtliche Frau ward um einen Theil ihrer Glückseligkeit durch den Krieg gebracht; sie wohnte in der schlesischen Gegend, wo vor Alters das erschreckliche Treffen mit den Tatarn vorfiel. Die Krieger nahmen ihr Vermögen; nichts blieb ihr übrig als das Herz eines liebenden Mannes und dreier Kinder. Glücklich ist diese gefühlvolle Predigerfrau! Sie wird ihren Mann umarmen und ausrufen: Gott sei gelobt, die Feinde ließen mir Alles! Der unselige Krieg beraubte noch einen meiner Freunde, auch einen Prediger und Abkömmling des berühmten Herberger zu Frauenstadt. Er ist Derjenige, dem ich damals meine Büchersammlung danken mußte! Gern würde er Alles vergessen, was in Schlesien ihm der Feind nahm, wenn ihm eine geliebte Gattin wieder würde, die er nun länger als 10 Jahr ebenso betrauert als Young seine Lucia. Aber ich verirre mich zu weit von dem Pfade meiner Geschichte; ich kehre wieder um, Ihnen von mir selbst zu sagen, daß ich unermüdet war in den Uebungen des Geistes. Ich mußte zugleich Hauswirthin und Magd sein; die Sorge des Brotes für den andern Morgen verfolgte mich auf meine Schlafstätte. Ich suchte zuerst mein unwilliges Kind zu stillen, und alsdann stillte ich mein Herz durch Ueberdenkung Dessen, was ich am Tage gelesen oder selbst geschrieben hatte. In Wahrheit, der vortreffliche Brite gefällt mir, wenn er die Composition, wenn er die schönen Wissenschaften Trostquellen im Elend des menschlichen Lebens nennt; meine Erfahrung ruft laut ihm Beifall zu. Mich überraschte der Schlaf bei einer Menge von Gedanken und verließ mich nicht eher, bis die Nacht dem gebietenden Auge des Tages gewichen war. Meine Zufriedenheit war sich immer gleich; bei schlechter Kost und einem wenig ansehnlichen Kleide wünschte ich nichts als meinem Mann Vernunft und ein bestimmteres Brot! Ich erwarb mir durch das tägliche Versemachen immer mehr Fertigkeit; es kam so weit, daß ich mich einstmals unterstand,[12] in Gesellschaft mit einem Prediger Herold Verse zu reden. Das Händeklatschen der Gegenwärtigen ward mir Ermunterung, und von der Zeit an gewöhnte ich mich, über Tisch bei meinen Freunden kleine Verse zu sagen. Mein Leben schien von Jahr zu Jahr erträglicher zu werden; aber noch war ich in Polen; ich empfand in mir eine gewaltige Sehnsucht nach meinem Vaterlande. Hören Sie, durch welchen Weg ich herübergebracht wurde. Mein Mann bekannte sich zur reformirten Kirche; er lief 6 volle Jahre in seinem rohen Leben fort, ohne daran zu denken, einmal öffentlich vor der Gemeinde sich unter die Sünder zu rechnen. Ich weckte ihn aus einem tiefen Schlaf und bewog ihn, den heiligen Tisch der Christen zu suchen; in Begleitung einer poetischen Bittschrift ging er endlich nahe bei Lissa zu dem reformirten Prediger Tütschke, ward angenommen und brachte mir den Freundesgruß des Predigers zurück. Dieser ehrliche Mann betrachtete mich als ein Wunderwerk, er säumte nicht, seinem besten Freunde Nachricht von mir zu geben. Dieses wird Derjenige sein, mit welchem sich die dritte Periode meiner Geschichte anfängt. So reichen bei Ersteigung eines wolkentragenden Berges die neubegierigen Jünglinge einer dem andern die Hand; der letzte klettert dem ersten nach, sie kommen auf der obersten Spitze zusammen und bewundern große Seen und ausgebreitete Landschaften unter ihren Füßen!

Quelle:
Zeitgenossen. Ein biographisches Magazin für die Geschichte unserer Zeit. Reihe 3, Band 3, Nr. 18, Leipzig 1831, S. 10-13.
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