An Herrn Professor Sulzer,

über das Bild seiner verstorbenen Gattin

[143] (Zu Berlin im April 1761.)


O Freund! in deinem Blick seh' ich noch Klagen.

So laut dein Herz auch dem Vergnügen ruft,

So laut hörts noch in sich den Kummer sagen:

Dort liegt sie in der Gruft!


Ach klage nur! ganz ist sie deiner Schmerzen

Ganz deiner unumschränkten Trauer werth:

Welch Antlitz! O! welch Bild vom besten Herzen!

Das nun der Wurm verzehrt!


Der heitre Tag, den keine Wolk umhüllet,

Wie lächelt er von ihrer Stirn herab?1

Und jeder Blick, wie mit Gefühl erfüllet

Der Liebe, die ihn gab!
[144]

Ihr holder Reiz! der Tod nahm ihn zum Raube;

Der schöne Mund! nicht mehr für deinen Kuß!

Aus ihm entfloh ihr schöner Geist dem Staube,

Zu himmlischem Genuß!


Drey Töchter blieben nur, die durch ihr Lallen

Dich tiefer ritzten in der bangen Brust,

So wie im Lenz die Rosenblätter fallen,

Verwelkte deine Lust!


Zwölfmal hat schon der Mond in vollem Lichte

Dir zugesehn, wenn schwärzer, als die Nacht,

Der tiefe Gram von deinem Angesichte

Den Schlaf entfliehn gemacht!


Hör einmal auf, und wende deine Blicke

Vom Grab, geneuß des Lebens kurzen Traum!

Ach! ohne Liebe bleibt im größten Glücke

Das Herz ein leerer Raum!
[145]

Such unter allen Schönen, die dem Lande

Die Liebe gab, dir eine Tochter aus,

Gezeichnet von der Tugend mit Verstande,

Zur Zierde für dein Haus!


Sanft, wie ein Lamm, das in der Mittagsstunde

Fromm auf dem Schooß der jungen Cloe spielt,

Sey sie, und trag ein Herz in ihrem Munde

Das nur für dich gefühlt.

Fußnoten

1 Das Bildniß der seeligen Frau Professorin hieng in dem Zimmer, wo sie schrieb.


Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 143-146.
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