[Das Thier hat bloß Instinkt; der Mensch hat einen Geist]

[317] Geist Reist Denken Lenken Macht Nacht Jugend Tugend Wiz Siz Wählen Quälen Mund Kund Sterben Erben Licht Bricht Wollen Sollen Bald Kalt Thränen Sehnen Herz. Schmerz Loben Toben Schuld Geduld Garten Warten Strebt Lebt Umarmen Erbarmen Gewebt Gelebt.


Halberstadt, den 20. Febr. 1762.


Das Thier hat bloß Instinkt; der Mensch hat einen Geist,

Der mit Gedanken schnell die ganze Welt durchreist.

Ein Hund erinnert sich; ein Biber scheint zu denken;

Doch keiner kann den Blick bis an den Himmel lenken.

Nicht zur Unsterblichkeit gemacht

Sind Adler groß und stolz; ihr Tod ist tiefe Nacht.

Des Menschen Seele nur fühlt ewig ihre Jugend,

Erkennet Gott und sich, die Welt, die schöne Tugend;

Ist voll Empfindungen und für Vernunft und Wiz

Ein von des Schöpfers Hand sein ausgebauter Siz.

Sie liebet oder haßt, verwirft und weiß zu wählen;

Ein Zufall macht sie froh; ein Zufall kann sie quälen.

Sie denkt und ihr Begrif macht sich durch unsern Mund,

Durch unsers Auges Blick und in Geberden kund.

Sie freut des Lebens sich und fürchtet nicht zu sterben;

Der Helden Tugend selbst hofft ein zukünftigs Erben.[318]

Und die Religion verbreitet helles Licht

In eines Christen Geist, der alle Zweifel bricht,

Die über ihn sich wölken wollen.

Wir wissen, daß wir einst das Reich besitzen sollen,

Das uns bereitet ist, wohin sich alsobald

Die Seele schwingen wird, wenn nun der Körper kalt

Blaß und benetzet liegt von unsrer Freunde Thränen.

Wie aber geht es zu, daß Menschen sich nicht sehnen

Nach diesem Ueberschritt? Warum sträubt unser Herz

Sich vor dem Tode schon bey kleiner Krankheit Schmerz?

Der Kanzelredner mag des Himmels Wonne loben;

Doch wird kein weiser Mann früh nach dem Eingang toben.


Ein kurzes Leben ist nie unsers Kummers Schuld,

Der Bettler selber trägt den Brodsack mit Geduld.

Ein Sklav in Tunis wühlt in seines Räubers Garten,

In Fesseln geht er gern Kameel und Esel warten.

Ein an der Ruderbank verdammter Sünder strebt

Aus Wellen an das Land, weil er so gerne lebt.

Doch alle müssen fort. Das zärtlichste Umarmen

Verliebter Seelen reizt den Tod nicht zum Erbarmen.

Ich bin von Sterblichkeit zusammen nur gewebt;

Wer glücklich ward wie ich, der hat genug gelebt.[319]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 317-320.
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