An Se. Hochwürden Gnaden den Herrn Domdechant Freyherrn von Spiegel

[61] zur Feyer des 22sten Februars 1765.


Siehst Du den alten hochbeschneyten Brocken

O Freund? sein Haupt, so blendend weiß,

Wie Nestors dreymal hundertjährge Locken,

Verhüllt sich jezt in wolkig Eis.


Jezt spare nicht der grau gewordnen Eichen

Zerspaltne Wipfel am Kamin,

Wirf Knoten nach, vom Stamme, der den Streichen

Des schärfsten Beils zu trotzen schien,


Und fordre Wein, den Hochheims Kelter preßte,

Als Friedrichs Stirn drey Kränze trug,

Und Er den Feind wie trockne Fichtenäste

Bey Kesselsdorf zu Boden schlug.
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Genieß des gegenwärtgen Tages Stunden,

Der künftge bleibt noch ungewiß.

Hast Du nicht schon des Schicksals Arm empfunden,

Der grimmig Dir am Herzen riß?


Ward nicht Dein Auge zweymal schon verschleyert

Vom Todes Dunkel? sah nicht jüngst

Dein G*, der Dich bey Hundert Bechern feyert,

Den Weg, den Du beynahe gingst?


Sah nicht Dein Geist schon jene Lorbeerhaine,

Wo Pindar an Homerens Hand

Vertraulich geht, und Sapho's Schatten keine

Ganz düstre Trauergrotte fand?


Ein Gott, ein Gott befreyte von dem Grabe

Den deutschen Tirteus, welcher nur

Sein Leben schätzt, als eine neue Gabe

Der allbeseelenden Natur,


Weil er Dich funfzig Lenze zu genießen

Noch hoffet, und von Dir geführt

Durchs Blumenthal den Balsamduft der süßen

Bethauten Rose stärker spürt.
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Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 61-63.
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