An die Melpomene

wegen des Prinzen Heinrichs des jüngern Königlichen Hoheit

[107] (Verstorbenen Bruder Seiner Majestät des Königs.)


Den 30sten December 1763.


Jüngst bat ich von dem Schöpfer aller Töne,

Von dem Apoll, das Saitenspiel

Des Sophocles, und rief, o Melopomene!

Dich an mit tragischem Gefühl,


Dich lud ich ein zum klangenden Gesange,

Denn Preußens großer Genius

Gab mit verhüllter thränenvoller Wange

Dem kranken Heinrich seinen Kuß.
[107]

Und stürmte des Olymp-Beherrschers Ohren,

Wenn er für diesen Prinzen bat,

Der schön ist, wie das Antlitz von Auroren,

So schön war nicht Alcibiad;


Den Socrates platonisch feurig liebte,

Und küssend ihn zur Weisheit riß;

So schön war nicht Pompejus der Verliebte,

Den in die Lippe Flora biß.


O Muse! deine Schwestern senkten alle

Mit aufgebundnem Haar und Kranz

Sich über ihn, und riefen: Wenn er falle;

Dann schwiegen Saitenspiel und Tanz.


Dann würde wie bey Kriegesdonnerwetter

Der Saal verschlossen, wo die Nacht

Den König sieht, der Siegeslorbeerblätter

Versteckt in frischer Myrthen Pracht.


Und bey der Symphonien süßem Tone

Die Größe seines Ruhms vergißt,

Und froher, als auf rund umknieten Throne

In seiner Freunde Zirkel ist.
[108]

Und jezt Empfindung lächelt in die Scene,

Wenn hoch des Sängers Busen bebt;

Und lieblich spricht zur preußischen Alcmene:

Daß ihr Alcides wieder lebt.


Daß Aesculap und die Natur verbunden,

Ihn rissen aus des Charons Kahn,

Und seinen Blick die Parce selbst empfunden,

Die an dem goldnen Faden spann.
[109]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 107-110.
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