Gebet eines Kindes

[134] Aller Menschen Vater! höre,

Merk auf mich dein lallend Kind,

Gieb mir deinen Geist, und lehre

Mich, was deine Wege sind.


Dich zu fürchten, dich zu scheuen,

Dich zu lieben und in dir

Mich der schönen Welt zu freuen,

Schöpfer, dies verleihe mir!


Meinen Eltern Ehre geben,

Ihrem Wink gehorsam seyn,

Dir und ihnen dankbar leben,

Ohne Tadel, fromm und rein:
[134]

Vater, dieß sind meine Pflichten;

Ach, ich wachse wie ein Baum,

Der gepflanzet ward zu Früchten

In des Gartens besten Raum.


Laß mich gute Früchte tragen,

Herr, du prüfest Herz und Sinn,

Ob ich in der Zukunft Tagen

Tugendhaft und glücklich bin.


Sollt ich nicht – o dann erhöre

Mein verdoppelt kindlich Flehn,

Und laß mich zu deiner Ehre

Unschuldsvoll dein Antlitz sehn.


Nimm mich früh von dieser Erde,

Daß mir nicht dein Auge feind,

Wegen meiner Sünden werde,

Wenn mein guter Engel weint.
[135]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 134-136.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1792)
Die Sapphischen Lieder: Liebesgedichte
Gedichte: Ausgabe 1792