An den jungen Tytirus

über eine Rosenknospe

[292] Am Busen ist sie mir gestorben

Die Rosenknospe, die von dir

Mein Freund durch seinen Blick erworben,

Und kannst du glauben, daß man ihr

Kein beßres Schicksal wünschen konnte,

Als diesen Platz, den ich ihr gonnte,

Der bald vielleicht verdorren muß,

Von dem manch Mädchenherz entglommen.

Weißt du wo diese Rose nun

Von meinem Busen hingekommen?

Sie hat schon ihren Platz genommen,

Wo mehr gestorbne Blumen ruhn,

Die Milon alle mir gegeben.[292]

In einer Kiste liegt sie still

Bis auf den Tag, da sich mein Leben

Beschließen soll, und muß, und will.

Da heiß ich mir die Blumen geben,

Küß eine nach der andern noch,

Und spreche dann zu meinen Kindern:

»Ach Kinder, hört, ihr wisset doch,

Was meine Ruhe kann vermindern,

Wenn ihr mit Thränen mich begrabt,

Mit Ausruf banger Klagelieder,

Und diese Blumen mir nicht mitgegeben habt:

Alsdann kommt meine Seele wieder

Und rasselt um den Nachttisch her,

Wird über dieser Kiste schweben,

Als wenn es eine Taube wär,

Wird Achtung auf die Blumen geben,

Wie eines Geitzigen schwerabgeschiedner Geist

Auf sein vergrabnes Gold im Keller Achtung giebet,

Darum erfüllet gern, was euch die Mutter heißt,

Die noch im Tode liebet – –«


Amarillis.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 292-293.
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